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Grau
Er ist wieder gewachsen. Ich sehe ihn bereits von der Einfahrt aus, sein Auge beobachtet mich durch das Küchenfenster, starr und grau. Sein Blick folgt meinen Schritten bis zur Tür, dann wälzt er sich langsam in Richtung Flur. Ich höre das Schleifen seines massiven Körpers über den Holzboden selbst von hier draußen. Groß ist er. Und grau. Und immer da.
Auch früher war er das schon gewesen, seit frühester Kindheit ein treuer Begleiter. Nur kleiner war er damals. Regelrecht winzig. Ich nannte ihn, dank meiner schon immer sehr schwachen Fantasie, einfach nur den kleinen grauen Mann. Damals hatte ich mir noch nicht viele Gedanken über ihn gemacht, er war schon immer ein Teil meines Lebens gewesen. Wenn ich am Morgen erwachte dann stand er auf meiner Brust und starrte mich an. Wenn ich in den Kindergarten oder die Schule ging, fand ich ihn manchmal in meiner Hosentasche oder meinem Federmäppchen wieder. Dort kauerte er, still beobachtend und traurig. Am Abend, wenn ich im Bett lag, dann kroch der kleine graue Mann manchmal in mein Ohr, legte sich hinein als wäre es ein Schlafsack und weinte. Und wenn er weinte, dann weinte ich auch.
Seine Anwesenheit war für mich immer eine Selbstverständlichkeit gewesen, wenn auch eine merkwürdige.
Er ist wütend. Ich habe die Tür noch nicht einmal geöffnet, aber ich höre ihn durch seine riesigen Nasenlöcher schnaufen. Ab und an entweicht ihm ein grollendes Knurren, das ihn klingen lässt wie einen gewaltigen Hund, der nur darauf wartet, mich endlich in Stücke reißen zu können. Er wird langsam unruhig. Und immer grauer. Und immer größer.
Meine Eltern erzählten damals oft, ich hätte einen imaginären Freund. Aber ich hatte mir den kleinen grauen Mann niemals nur eingebildet. Und ein Freund war er mir auch nicht. Er war ein ständiger, stiller Weggefährte, ein Schatten. Eine lange Zeit lang blieb er klein, während ich immer größer wurde. Ich begann, seine Anwesenheit zu verdrängen. Manchmal vergingen Tage oder Wochen, bis ich ihn wieder in irgendeiner Schublade oder Jackentasche fand und irgendwann hatte ich ihn ganz vergessen. Aber wirklich weg war er nie.
Und eines Tages, ich war mittlerweile erwachsen und bei meinen Eltern ausgezogen, stand er plötzlich wieder vor mir. Er sah immer noch so aus wie früher, aber er war größer geworden. So groß wie ich.
Ich öffne die Tür. Er liegt flach auf dem Bauch im Flur, den Kopf nach oben gestreckt und starrt mich aus seinen riesigen grauen Augen an. Es ist nicht mehr nur Traurigkeit darin. Der graue Mann hasst mich. Ich gehe zwei Schritte, schließe die Tür hinter mir und hänge meinen Mantel an die Garderobe. Er schnauft, knurrt, sein starrer, wütender Blick folgt mir, aber für einen kurzen Moment kann ich mich abwenden. Dann beginne ich meinen Weg zur Treppe. Ich muss an ihm vorbei, auch wenn es schwer fällt. Er ist mittlerweile so groß, dass er kaum noch in das Haus passt. Sein Kopf füllt fast den gesamten Flur aus und einen seiner gewaltigen Arme hat er verkrümmt auf der Treppe zum Schlafzimmer abgelegt. Ich bin so müde. Und er ist so groß. Und so grau.
Eine Zeit lang begleitete er mich wieder auf Schritt und Tritt. Als Kind hatte mich seine ständige Anwesenheit niemals sonderlich gestört, aber nun fing ich an, mich vor dem grauen Mann, der nicht mehr klein war, zu fürchten. Er begleitete mich zu meinen Freunden, die ihn nicht sehen konnten, zu meinen Eltern, denen ich seine Anwesenheit aus Scham verschwieg und zu den Ärzten, die ihn nicht sehen wollten und mir im Gegenzug Medikamente verschrieben, die ich nicht nahm. Niemand sah ihn, aber er war immer da. Er weinte und das machte mir Angst, und je mehr ich ihn fürchtete umso größer wurde er. Nach einer Zeit war er so groß und so schwer, dass er begann, sich mit seinen gewaltigen Händen auf meine Schultern zu stützen, während er seinen aufgedunsenen grauen Körper hinter sich her zerren musste. Und je mehr ich ihn stützte, desto kleiner wurde ich selbst.
Der graue Mann öffnet den Mund, so als würde er mich einladen, in ihn hineinzusteigen. Seine Zähne sind wie farblose, stumpfe Steine und in ihm ist nichts als Finsternis und Leere. Er will mich verschlingen, will dass ich genau so finster und grau und leer werde wie er. Aber nicht heute. Ich klettere über seine Nase seinen Kopf hinauf, bahne mir den Weg über die rechte Schulter und erklimme seinen Arm. Immer nur hinauf, aufwärts, ins Schlafzimmer, auch wenn es meine letzten Kräfte kostet. Der graue Mann bleibt liegen. Wartend. Knurrend. Schnaufend. Ich fühle mich unendlich müde, verbraucht, erschlagen von seiner Präsenz. Er ist zu groß geworden. Er ist ein Riese. Und so grau.
Der graue Mann wuchs stetig, jeden Tag. Irgendwann wurde er so groß, dass sich sein monströser Körper in meinem Haus verkeilte und er mich nicht mehr jede Sekunde begleiten konnte. Ich schlief jede Nacht weniger, stürzte mich in die Arbeit, nutzte jeden wachen Moment um ihm zu entfliehen. Aber letzten Endes führte mein Weg immer wieder zu ihm zurück. Und wenn ich heimkehrte, dann wartete er schon auf mich.
Ich lege mich ins Bett, so wie ich bin. Ich bin klein und müde und schrumpfe mit jedem Tag etwas mehr in mir zusammen. Der graue Mann wächst immer weiter in meinem Haus und irgendwann wird er so groß sein, dass er mich einfach mit seinem kalten, tonnenschweren Leib erdrückt. Es dauert noch, bevor ich schlafen kann, so wie jeden Abend.
Er ist noch nicht soweit. Aber er kommt.
Ich höre ihn, wie er sich mühsam im Flur umdreht und sich dann die Treppe hinaufwälzt. Ich höre sein Knurren und sein Schnaufen und seinen zornigen Herzschlag, der den Boden meines Hauses erzittern lässt. Langsam presst er seine graue Form, die sich kaum noch erkennen lässt, durch die Tür des Schlafzimmers und legt seine Hände über das Fenster, damit kein einziger Lichtstrahl mehr hereinfallen kann. Hier in der Finsternis liege ich und warte, bis er seinen gewaltigen grauen Kopf neben mir auf dem Fußboden abgelegt hat. Der graue Mann weint nachts schon lange nicht mehr. Aber er spricht mit mir. Ich spüre sein kaltes Schnaufen ganz nah an meinem Ohr und dann sagt er mit seiner grollenden, riesenhaften Stimme die drei Worte, mit denen er mich jeden Abend aufs Neue der Leere der Nacht überlässt: „Du bist allein.“
Ich bin allein. Und so müde. Und so grau.