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Grauen-Zone
„Streitet Ihr euch schon wieder über den Namen?“
Svenja rollte mit den Augen. Alle waren Menschen, die sich zusammengefunden hatten, um einen weiteren Schritt voran zu gehen, um konstruktiv ihr Leben zu gestalten. Alles Weggefährten, die mehr gemeinsam hatten als ein Hobby , die sich schon kannten mit ihren alten Wunden.
Ungläubig sah sie in die Runde und seufzte. Sie hatten schon vor langem ihre Geschichten ausgetauscht, die alle in einer Grauzone gespielt hatten: zu früh verführt, getäuscht, verprügelt ... Ihr Missbrauch hatte nicht die Medien verschreckt und die Welt wachgerüttelt ; er war leise gewesen und ohne offensichtliche Gewalt. Trotzdem hatte er ihr Leben beeinflusst, und sie trugen immer noch die Spuren mit sich wie Narben an ihren Körpern.
„Grauzone klingt so bedeutungslos!“, protestierte Irene. „Als wäre es nichts.“ Das klassische Muster. Für Irene konnte nie genug betont werden, wie schlimm alles gewesen war.
„ Dann nennen wir es eben das schwarze Loch!“ Joel dachte gar nicht daran, sie ernst zu nehmen. „Pffft, ist mir eh egal. Oder Grauenzone.“
Bedrücktes Schweigen.
Noch mal ein Seufzen von Svenja.
„ Für den Flyer brauchen wir aber einen Namen für die Gruppe. Und für Grauzone haben wir uns letzte Woche entschieden, als du nicht da warst.“ Georg`s Versuch einer Moderation.
Das mochte Svenja an ihm. Wann immer die Wellen hochschlugen, übte er sich in Geduld. Ohne Georg wären sie auch gar nicht an die Räume gekommen in der „Oase“. Andererseits, die Idee mit der Körperarbeit stammte von Svenja.
Probleme mit ihrem Leib hatten sie alle. Ob es nun Peggy war, die sich in Jugendjahren außer Form gefressen hatte, um ihren Bruder von sich fern zu halten, oder Joel, der gar kein Bewusstsein mehr für seinen Körper hatte oder eben Svenja, die immer auf ihre Grenzen bedacht war: die Folgen des Missbrauchs waren ganz materiell geworden. Und genau da wollten sie ansetzen.
Als Svenja sich zum ersten Mal in einen Workshop getraut hatte, war sie sich so fremd vorgekommen. Die anderen Menschen schienen gar keine Schwierigkeiten zu haben, sich anzusehen oder gar zu berühren. Wie erleichtert war sie gewesen, als sich dann jeder auf seine eigene Matte gelegt hatte und nur sich selbst wahrzunehmen brauchte. Nur sich selbst wahrnehmen? Selbst da hatten sie die Gefühle überschwemmt: Einmal loslassen, das Gewicht ablegen war genug gewesen, um sie in Tränen ausbrechen zu lassen. Und während sie sich still ausgeweint hatte, immer noch bemüht, den Anweisungen zu folgen, war die Leiterin zu der Frau neben ihr gegangen und hatte vorsichtig gefragt, ob sie ihr mit einer Hand helfen dürfe. Das tat sie jedes Mal vor einer Berührung. Und als sie später Svenja fragte: „Darf ich dich anfassen?“, hatte Svenja genickt und die führende Hand genossen. In dem Moment war ihr Entschluss gefallen, Körperarbeit für eine Gruppe von Missbrauchsopfern zu arrangieren.
„Kommt, wir sind doch schon soweit“, setzte Georg wieder an. Svenja hatte ihn vor Jahren in einer Therapie-Gruppe kennen gelernt, als er von den Übergriffen seines Stiefvaters berichtet hatte. Für einen Moment hatte sie bedauert, dass er schwul war; nicht nur für sie, sondern die ganze Welt der Frauen verloren. Sie hatte soviel Wärme in sich gespürt, so einen starken Drang, sein Leben wieder heil zu machen. Typisch für sie, das war ihr klassisches Muster. Dann war sie dran gewesen, hatte sie von dem Vater ihrer besten Freundin erzählt . Noch immer verursachte der Name „Turnow“ einen Kloß in ihrem Hals.
Es war kurz nach Svenjas zwölftem Geburtstag. Sie saßen auf der Treppe und tuschelten.
„Björn ist der dritte Junge, der mich geküsst hat.“ Svenja war stolz. Für einen Augenblick war es unwichtig, dass ihre Brüste noch nicht richtig zu wachsen angefangen hatten. Sie war das Mädchen mit Erfahrung.
Siby schien beeindruckt. „Und, wie küsst Björn so?“
„Sieh nur zu, dass du keinen unter die Schürze kriegst!“, hörten sie eine Stimme hinter sich. Frau Turnow stand da mit einem Korb voller Wäsche und wollte an ihnen vorbei.
„Schürze?“, fragte Svenja verwirrt, aber Sibys Mutter lachte nur. Ein unangenehmes Lachen.
Es war nicht das erste Mal, dass Sibys Mutter unverständliche Bemerkungen machte, aber Svenja fühlte sich wohl bei ihrer Freundin. Svenjas Mutter war dauernd zur Arbeit, und wenn sie Abends wiederkam, war sie immer so erschöpft. Hier war eine richtige Familie: Sibys Mutter war meistens zu Hause, und selbst ihr Vater hatte für die Mädchen Zeit. Er spielte mit ihnen im Kellerraum Tischtennis und half ihnen bei den Mathe-Hausaufgaben.
Was für ein toller Mann! Dunkle Haare wie ein Fernsehstar, und er war ganz anders als die anderen Väter. So, wie sie sich einen Mann für ihre Mutter wünschte.
„Svenja, können wir denn jetzt deine Telefonnummer angeben?“ Georg hatte sie anscheinend schon einmal gefragt.
„Ja, ist okay“, gab sie zurück.
„So, dann kann das in den Druck!“ Erleichterung in der Stimme. „Das wäre dann alles für heute, und der Kurs fängt in drei Wochen an.“ Irgendwie machte er auf Svenja einen genervten Eindruck. Dabei kannte sie ihn in solchen Situationen immer nur ausgeglichen.
„Hast du noch Lust auf einen Kaffee?“, fragte sie aufmunternd. Er zögerte, überlegte scheinbar, indem er den Kopf hin und herbewegte und sagte dann zu.
Georg bestellte sich einen „Latte Macchiato“, ohne sich zu verhaspeln, und Svenja war froh, einfach einen Kaffee serviert zu bekommen, ohne ausländischen Namen.
Eine Weile rührte sie in ihrer schwarzen Brühe, sah zwischendurch auf in sein Schweigen, und keiner bracht einen Ton heraus. Irgendwann fragte sie dann doch: „Und, was ist mit dir?“
Sein Ausdruck entspannte sich, er schien erleichtert durch ihre Frage.
„Ich habe gestern jemanden gesehen. Jemanden von früher.“
Ihre Hand näherte sich seinem Arm, und mit einem fragenden Blick und seinem Kopfnicken als Erlaubnis legte sie sie auf seinem Unterarm ab.
„Die Vergangenheit holt uns immer wieder ein, nicht wahr?“ Platt der Satz, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Dazu ein tröstender Blick.
„Es war nicht mein Stiefvater. Es war ein ...ähm ... Freund.“
„Mit dem du mal zusammen warst?“ Irgendetwas stieg heiß in ihr auf. Eine Warnung.
„ Ja ... sozusagen ... lange vor der Therapie“ Georg sah gequält aus, sein Blick tief in der Vergangenheit.
Es war so fremd für sie, die Gegenwart eines Mannes. Seit sie denken konnte, hatte es nur sie und ihre Mutter gegeben. So fielen ihr alle seine Spuren auf, die riesigen Schuhe im Regal und das Rasierzeug auf dem Bord im Badezimmer. Sie liebte es, die Stimme ihres Wunsch-Vaters im Haus zu hören und genoss seine hautnahe Anwesenheit, das Tischtennis-Spielen und die Umarmung danach, egal , wer denn der Sieger war. Doch irgendwann rührte sich eine Stimme in ihr, die sie aufmerksam machte auf Merkwürdigkeiten. So schön sie die Kabbeleien fand, wunderte sie sich doch über die Zufälle, dass seine Hand immer wieder da kitzelte, wo einmal ihre Brüste wachsen würden.
Und auch beim Mathe-Lernen gab es komische Momente. Es war Sommer und heiß, und sie saßen auf der Terrasse, am Tisch nebeneinander. Seine Hand lag auf ihrem nackten Oberschenkel, und ganz langsam, langsam schob sie sich nach oben unter das Kleid, bis sein kleiner Finger ... Ein heißes Gefühl breitete sich in ihr aus, ihr Höschen wurde feucht, und sie konnte sich gar nicht aufs Lernen konzentrieren. Sie spürte, dass das, was er tat, eine Bedeutung hatte. Aber welche?
Wollte er sie heiraten? Sie liebte ihn, natürlich, aber wollte sie das? In eine Ehe einbrechen, ihrer besten Freundin den Vater nehmen? Nein, das hatte sie nie gewollt. War es ihre Schuld?
Oder waren das nur ihre schlechten Gedanken? Weil sie sich so sehr gewünscht hatte, dass er zu ihnen nach Hause ziehen sollte, zu ihr und ihrer Mutter? Wenn er sie küssen würde, dann wüsste sie Bescheid, dann könnte sie Fragen stellen. Das tat er aber nicht. Immer nur diese Berührungen, die sie im tiefsten Inneren verwirrten.
„Er war ein Freund von mir ...viel zu jung damals ...“, setzte Georg wieder an.
Svenja schwieg entsetzt. Natürlich! Sie hatte doch gelesen, dass Opfer oft auch Täter wurden. Aber doch nicht Georg, er war doch einer von ihnen! Hatten sie nicht Jahre gebraucht, das Grau auseinander zu dröseln in die schwarzen Täter und die weißen Opfer? Zu lernen, dass sie keine Schuld traf, weil sie unschuldige Kinder gewesen waren, dass Wünsche und Lustgefühle das Verhalten der Täter nicht verursacht hatten, dass die Täter kein Recht gehabt hatten, sie zu erregen?
„Ich habe ihn zu nichts gezwungen“, fuhr Georg langsam fort.
In Gedanken sah sie ihn jetzt hinübergehen, in die Reihe der Turnows und anderen. Damals hatte sie verlernt, einem anderen Menschen zu vertrauen, und über Jahre hatte sie sich mühsam aneignen müssen, Grenzen bewusst zu öffnen, einen anderen an sich heranzulassen. In der Einzeltherapie und dann in der Gruppe war immer wieder eine Entscheidung fällig, musste sie erneut eine Erlaubnis erteilen, dass andere ihr nahe kommen durften. Und in der Gruppe waren sie unter sich gewesen, alle gleich; das hatte sie zumindest gedacht.
Georg hatte Tränen in den Augen, und sie war hin und hergerissen. Was sollte sie tun? Weglaufen, ihn nie wiedersehen? Umarmen, seinen Schmerz lindern? War er denn noch der Mensch, den sie so mochte? Konnte sie noch vertrauen?
Sie hatte es ein paar Wochen für sich behalten, aus Angst, aus Scham, aus Verwirrung. Wie würde ihre Mutter reagieren, würde sie ihr überhaupt glauben? Doch wie eine Löwin, die ihr Junges beschützt, stellte sie ihn sofort zur Rede. Er stritt alles ab, andererseits sprach er auch nicht mit seiner Frau darüber. Svenja blieb von einem Tag auf den anderen dem Haus fern, ohne Erklärung für Siby, und diese fragte nicht. Ihre Freundschaft verlief im Sand, bis Siby dann sitzen blieb.
In der Gruppe mussten sie sich alle dem Täter stellen, in einem Rollenspiel. Als Svenja an der Reihe war, suchte sie Georg als Stellvertreter aus. Wie angeleitet, stritt er alles ab, beschuldigte sie, dass sie ihn gereizt habe, produzierte alle Verhaltensweisen, die Täter so hervorbringen. Sie wurde immer verzweifelter, kleiner, verzagter, und alle Versuche, es auf die Spitze zu treiben und sie zu einer Reaktion zu provozieren, schlugen fehl. Bis er begann, ihre Mutter in den Dreck zu ziehen.
„Sie hat dich so erzogen, wahrscheinlich ist sie auch so eine Schlampe wie du!“, sagte er aufs Geratewohl. Das war´s!
„Du elender Bastard!“, schrie sie ihn an, „wie konntest du dich an einem Kind vergreifen? Einem Kind, das dich liebte?“ Und sie trommelte mit den Fäusten auf seine Brust und schrie und weinte, bis die Spannung aufgelöst war und sie in seinen Armen versinken konnte.
„Der Junge hat mir längst verziehen“, sagte Georg leise. „Schlimmer ist es, mir selbst zu verzeihen, dem Täter in mir.“
Svenja rollten die Tränen aus den Augen. Natürlich, das war immer noch Georg. Er hatte sie nie angelogen, auch jetzt nicht, in diesem Gespräch. Sie breitete ihre Arme aus, um ihn zu trösten.
„Grauzone ist wirklich ein passender Name für uns. Grau ist eben zwischen schwarz und weiß.“