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Häppchen und Verwandtentreffen
"Sag mal, hast du Lust heute mal auf so 'n Häppchen und Verwandtentreffen zu gehen?"
Fred, mein Wohnungsschmarotzer und bester Kumpel kaute auf einem Stück alten Brot, das mit dem letzten Rest Marmelade beschmiert war und schaute mich mit glänzenden Augen an. "Wollte ich schon lange wieder einmal machen. Einfach sich beim nächsten Hochzeits-Apéros einreihen, so tun, als gehöre man dazu und dann kräftig abschlemmen."
Ich verzog den Mund, Fred hatte den Kaffee mal wieder dünn wie Tee gefiltert.
"Mann, was ist denn das für eine Brühe?"
"Na ja, Kaffee ist alle, da habe ich die Reste vom löslichen Pulver dazugekippt."
Ich schenkte mir Milch ein. Die war zwar auch am Kippen, hatte dafür aber mehr Gehalt als der Teeffee.
"Also, was ist nun, kommst du mit?"
"Weiss nicht so recht."
Ich schaute auf unser bescheidenes Frühstück und dachte an den leeren Kühlschrank. Die Aussicht auf Schlemmen und Trinken für lau hörte sich eigentlich ganz gut an. Ausserdem hatte ich an diesem Samstag gerade nichts vor. Karin war seit der letzten Diskussion über den zahlungsunfähigen Untermieter Fred bei ihrer Mutter in Zürich und der PC lagerte beim Reparaturdienst von Medion. Mit beiden war vor Ende des Jahres also nicht zu rechnen und so hängten wir uns nach dem kargen Frühstück Krawatten um. Da Karin auch gleich den Wagen mitgenommen hatte, fuhren wir mit der Bahn nach Grünwil.
Gleich nach der Ankunft marschierten wir los zum alten Marktplatz, um uns gemäss Fred beim Standesamt irgendeiner Hochzeitsgesellschaft anzuschliessen, die ihrerseits auf das uns völlig unbekannte Brautpaar wartete. Unterwegs schärfte mir Fred ein paar überlebenswichtige Punkte ein.
"Erstens: Nicht dumm rumschwätzen und nie zum anschliessenden Abendessen gehen."
"Warum?"
"Nur geladene Gäste haben auch Tischkarten."
"Ah, schon klar."
"Zweitens: Möglichst nicht in die Nähe des Brautpaars, einzige Ausnahme: Der Gratulationsreigen, da kannst du die Braut - "
"Halt, Fred, Rot."
Fred übersah in seiner Vorfreude die rote Fussgängerampel.
Während wir warteten, belehrte er mich weiter.
"Aber unbedingt im hinteren Teil der Schlange anstehen. Wenn du dann an der Reihe bist, hat das Brautpaar bereits geistig abgehängt, und du kannst dich als Schulkollege aus der Parallelklasse der Grundschule ausgeben. Drücke dem Bräutigam die Hand und gib der Braut einen dicken Schmatz."
Er grinste lüstern und verdrehte die Augen.
"Bis sie sich fragen können, ob sie dich jetzt kennen sollten, sind bereits Tante Frida und Onkel Eugen dran."
"Grün."
"Was?"
"Die Ampel zeigt grün."
"Ach so, ja und dann gilt es sofort den Weg Richtung Häppchenbar einzuschlagen."
"Ok, ok, Fred, ich hab’s geschnallt, an den Häppchen weiden und die Braut meiden, geh’n wir jetzt?"
Es war schönes Wetter, die Sonne lachte, etwa fünfzig Leute standen am Fuss der Treppe zum schmucken Rathausgebäude. Locker verteilt und gut gelaunt standen sie auf dem Vorplatz, ausstaffiert mit irgendwelchen Utensilien, die sie eindeutig einer Gruppe zuordnen liess. Der Volleyballverein Grünwil hielt ein Netz und spielte mit bemalten Bällen herum. Männer in alten Uniformen - eine Delegation des Schiessvereins Grünwil - lungerten gestützt auf ihre alten Vorderlader unter den schattigen Lauben und rauchten. Neben dem Buffet mit den Getränken versuchte eine grüne Fee mit Notenblättern ein Feld von Sonnenblumen, das sich als Kinderchor entpuppte, im Zaum zu halten.
Da öffnete sich die Tür, und das Brautpaar erschien unter tosendem Applaus. Die Sonnenblumen fingen an zu singen, während die Volleyballer ihren Schlachtruf grölten und die Schützen halbsynchron in die Luft ballerten.
Eine verschreckte Taube flog über den Kopf des Bräutigams und hinterliess einen weissen Fleck auf dessen dunklem Anzug.
Ich sah noch, wie der Brautführer mit einem Taschentuch am Anzug rubbelte und eine Sonnenblume einen Ball an den Kopf bekam, als mich Fred am Ärmel zupfte.
"Komm, da drüben gibt’s Bowle."
"Aber ist das nicht zu früh?"
"Ach, ein Gläschen vor dem ganzen Glückwunschreigen schadet nicht."
Fred wuselte zum Apéro-Buffet und stellte sich neben einen breiten Kerl mit Kordanzug. Sofort waren sie in ein Gespräch vertieft.
Fred hatte seine eigenen Vorsichtsregeln bereits über den Haufen geworfen.
Ich nahm ein Glas Orangensaft vom dargereichten Tablett, nickte freundlich und zog mich in den Schatten einer alten Eiche zurück. Irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl in der Magengegend, was möglicherweise von der sauren Milch herrührte, aber ein Teil in mir war da anderer Ansicht. Ich schlenderte noch ein wenig umher und die Aussicht auf das reichhaltige Apéro-Buffet liess meine Bedenken rasch verfliegen. Lachsbrötchen und Schinkenröllchen, kaltes Huhn und Braten, dazu Bier vom Fass und Wein in allen Farben. Noch sah man niemand an der langen Tafel stehen, der Anstand erlaubte es einem anscheinend erst nach dem Gratulieren sich den Teller zu füllen und den Bauch vollzuschlagen. Einzig am Bowlenstand ging es rund. Fred trank sich in Laune und gleich Bruderschaft mit der Kordjacke, der wohl ein entfernter Onkel der Braut zu sein schien. Jedenfalls hatte er die gleiche Nase.
Gerade wollte ich Fred zur Mässigung mahnen, als mich ein schmaler Mann mit Brille und Fliege ansprach.
"Prost. Ich bin Heinz. Ach, ist das nicht Alfred?"
Er deutete in Richtung Bowlenausschank, wo Fred der Kordjacke gerade auf die Schulter klopfte.
"Äh, ja. Kennen Sie ihn?"
"Klar, wir gingen auf die gleiche Schule. Aber dass Anna den Alfred eingeladen hat, da bin ich platt. Nach alldem, was er ihr angetan hat."
In mir schrillten plötzlich alle Alarmglocken.
Heinz runzelte die Stirn. "Und du bist, nein, warte, lass mich raten ..."
Ich liess Heinz weiter rätseln und hoffte mit Fred hier irgendwie heil rauszukommen.
"Fred, wir müssen reden."
"Ahh, Bruuder, ich musss dir Egon vorstellen, Onkel von Aaaanna."
"Tach, hi, hi."
Die beiden hatten zu zweit wohl die halbe Bowle geleert.
"Fred komm’ jetzt, ich muss dir was ganz dringend ..."
"Aaach, entspann dich. Komm wir geh'n Aanna gratuirn."
Und schon torkelte er in Richtung Brautpaar. Mir wurde schlecht und ich versuchte, ihm zu folgen. Doch da rannte mir eine Sonnenblume wild schreiend zwischen die Beine und ich fiel der Länge nach hin.
"He, kannst du nicht aufpassen?"
Bis ich mich wieder aufgerappelt hatte, stand Fred schon auf der Schwelle zu seinem Verderben.
"Alfred?"
"Ggennau, vonner Paralllelklasse, und du bist?"
Ich wollte gerade dazwischen, doch das Schicksal in Form eines weissen Handschuhs war schneller und schlug gnadenlos zu.
Fred hielt sich die Backe und schaute verdattert auf die Braut, die in Tränen ausbrach.
"Du Schwein, dass du dich traust, hier aufzutauchen. Reicht es dir nicht, dass du mich damals hast sitzen lassen? Musst du mir jetzt auch noch meinen schönsten Tag im Leben zerstören?"
Der Rest ging in hemmungslosem Schluchzen unter und ich zog den erstarrten Fred erst mal aus dem Rampenlicht hinter einen Baum.
"Wasn nu los, hahab ich was Falschs gesaacht?"
"Mensch, Fred du Knalltüte. Die Braut kennt dich von früher. Du bist aufgeflogen."
"Aufgeflogen? Schschade, ich habe noch nich mal die Häppchen ..."
Aus der Gruppe der Trostspendenden löste sich ein ziemlich wütender Mann, Statur Stahlstecher und stapfte auf uns zu. Er war gemäss Festanhänger Onkel der Braut und sein grimmiger Blick liess keine Zweifel aufkommen, was er mit dem Kerl anstellen wollte, der seiner Nichte den schönsten Tag versaut hatte.
Das Schicksal meinte es gut mit Fred, denn bevor das Unheil den Baum erreichte, schlug ein anderes in Form des Kordanzugonkels zu. Dieser hatte auf seiner Jacke ebenfalls einen weissen Fleck abgekriegt und fluchte wie ein Rohrspatz. In der Hand hielt er einen Karabiner, den er einem Schützen entrissen hatte und ballerte wild auf die Rathausfassade, von wo Tauben verschreckt in alle Richtungen davonflogen.
Ich nutzte dieses Überraschungsmoment und packte Fred an der Schulter.
"Renn, Fred. Die Party ist vorbei."
Freds Augen weiteten sich, als er den Ernst der Lage endlich erfasste. Ich lief los und zog Fred hinter mir her.
"Lass los, ich kann selber rennen."
Am Bahnhof angekommen, warfen wir uns ins nächste freie Taxi.
"Los, Mann, es geht um Leben und Tod."
"Dass mir Ihr Freund ja nicht die Polster vollkotzt."
"Ja, ja, fahren Sie los."
Ich schaute aus dem Heckfenster. Der böse Onkel konnte zwar nicht so schnell rennen, war aber trotzdem bedrohlich nahe gekommen.
Der Taxifahrer startete den Motor und fuhr los. Unser Verfolger gab auf und schüttelte noch mit der Faust hinter uns her.
"Ich versteh' nich', wie das passirn konne, ich brauch jetzn Kaffee ..."
"Fred."
"Hmm?"
"Halt einfach die Klappe."