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Hör gut zu, Seelenscherben
Hör gut zu, was ich dir sage, sonst ist es für dich zu spät! Bald wirst du sie treffen, den Liebenden und den Mörder. Beide unerwartet und du wirst sie nicht erkennen, ehe es zu spät ist. Darum erinnere dich an das, was ich dir sage.
Der Tag, an dem du auf sie stößt, wird als schwarzer Tag beginnen. Dir geht es nicht gut. Dein Leben ist dir ein einziges Chaos geworden und du erkennst langsam, dass du die Frau, die du bereits als Kind ersehntest zu sein, nie sein wirst. Alleine gelassen von der Welt schlenderst du durch die im Zwielicht schwarz scheinenden Gassen und überlegst lange, ob du nach Hause gehen sollst, denn es wäre dir viel lieber, nie mehr irgendwohin gehen zu müssen. Die Wut, die sich schon so lange angestaut hat, möchte sich nun endlich über dein Dasein ergießen.
Und das ist der Moment, an dem du den Liebenden triffst. Schon lange hast du diesen Mann gesehen – in der U-Bahn, am Tresen in einer Bar, bei dir in der Arbeit vielleicht – aber erst jetzt erkennst du, dass er doch nicht nur der ist, den du von weitem hinterher sinnst. Und auch er wird dich erkennen und fragen, ob alles gut bei dir läuft, ob alles in Ordnung sei und ob er etwas tun könne, um deine Lippen zum Lächeln zu bringen. Und er kann.
Ihr geht essen oder trinken oder nur spazieren. Es ist ganz ungezwungen, ganz einfach, doch voll von Bedeutung. Im Laufe des Gesprächs entschwindet die Wut aus deinem Leben. Ihr lacht und euer Lachen erfüllt noch Stunden lang die Welt. Noch hast du auch allen Grund dazu.
Doch jetzt hör gut zu, denn es wird nun immer gefährlicher. Jeder Schritt den du ab nun tust, treibt dich in die Falle des Mörders. Aber wenn du das Hotelzimmer betrittst, wirst du ihn nicht sehen, gar keinen Gedanken an ihn verschwenden, wenn der Liebende dir deine Bluse öffnet. Dein Verlangen vertreibt alle Bedenken, alle Wut und auch die Vorsicht lässt nichts zurück, als sie aus deinem Leben verschwindet. Küsse und Umarmungen retten dich vor dem Ertrinken in einem Meer, das dir zu stürmisch geworden ist.
Womit habe ich das nur verdient, wirst du bald darauf die Decke des Hotelzimmers fragen, doch sie brüllt dir nur eine stumme Warnung entgegen. Noch vor kurzem war alles anders, nun blickst du voll Gelassenheit und Ruhe auf eine Zukunft mit dem Liebenden neben dir, der noch bevor er tief zu atmen begonnen hatte, dein Leben mit Liebe auszufüllen versprach. Du stiehlst dich aus seiner Umarmung und gehst zu dem Tisch, vielleicht weiß ja er Antwort. Wie kann alles nur so schön sein, wirst du ihn fragen, doch er lässt dich ohne ein Wort zurück.
Im Ringelspiel der Welt tastest du den Tisch nach Antworten ab. Falsche Vorsicht am falschen Ort lässt deine Finger langsam herumtasten, damit du das Briefpapier nicht zu Boden stößt oder dich an dem spitzen Brieföffner stichst - und da spürst du die Tasche oder die Geldbörse auf dem stummen Tisch liegen, die der Liebende zuvor achtlos weggeworfen hatte. Du hebst sie auf. Das Leder oder der Stoff schmeichelt deinen Händen wie zuvor die Liebkosungen deiner Haut und du kannst es nicht mehr weglegen.
Und da ist es nun endgültig zu spät für all die Warnungen. Kein Zurück gibt es mehr, keinen Schutz, keine helfende Hand. Alle Zeichen ausgeschlagen bist du nun endgültig in die Arme des Mörders gelaufen.
Du hörst den Liebenden noch im Schlaf seufzen, als deine Finger bei den zwei oder drei kleinen Erinnerungen hängen bleiben, die er immer bei sich hat. Du nimmst sie heraus und im fahlen Schein der Nacht, der durch den Spalt in den Gardienen fällt, erkennst du zwei Kinder auf den Fotos. Nichts hat er von ihnen erzählt, trotzdem sind sie ihm doch so wichtig. Risse ziehen sich durch die Oberfläche deiner gerade erschaffenen Welt. Geheimnisse schmerzen, falsche Absichten fressen sich wie Ameisen durch dein Herz. Als das Bild der Ehefrau durch das Zwielicht in deinen Augen brennt, spürst du den Mörder heranschleichen.
Wie konntest du nur, entfährt es durch deine zusammengebissenen Zähne, doch der Liebende im Bett schläft weiter. Warum hast du das getan? Doch er bleibt stumm. Zwischen Glück und Unglück hin und her gerissen zu werden, kann so manche Seele brechen. Das laute Knacken tief in dir benebelt deine Sinne und noch ehe du dich versiehst, ergreift deine Hand den spitzen Brieföffner.
Tief in deine wild entschlossenen Seelenscherben blickend merkst du zu spät, dass du nun auch den Mörder getroffen hast.