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Haariger Wahn
Ein Blick in den Spiegel. Ein Blick ins Leere.
Die Frau ist dieselbe und doch erkennt sie sich nicht.
Liegt es an der Frisur, die längst keine mehr ist?
Ein Frisörtermin ist fällig.
Gedankenversunken greift sie zur Schere. Sie würde morgen anrufen und sich einen Termin geben lassen.
Und wie die kaputten Spitzen zu Boden fallen, freut sie sich auf die bunten Zeitschriften, zu denen sie sich öffentlich nie bekennen würde.
Der Frisör als Ausnahmezustand.
Magische Hände, denen sie bereitwillig nicht nur ihren Kopf anvertraut, sondern auch die eigene Lebensgeschichte. Ungeachtet dessen, dass diese geschickten Hände auch Ohren und schlimmer noch ein Mundwerk besitzen.
Was im Frisörsalon passiert, bleibt im Frisörsalon. Ein naives Vakuum voll von Geheimnissen, die sich mit den nassen Haaren auf dem Boden und dem Haarspray in der Luft zu einer süssen Trance vermischen.
Und sowie die Schere ihr Werk tut, bastelt sie an ihrem Monolog, den sie bald zum Besten geben würde. Dieses Mal soll es an Stoff nicht fehlen.
An tröstenden Händen umso weniger.
Diesen Termin hat sie sich regelrecht verdient.
Wie den ersten Orgasmus nach einer monatelangen Dürrezeit. Oder den ersten überhaupt.
Und sie schweift zurück zu den Nächten, in denen sie schreit, und er gleich umso mehr.
Angetrieben von seiner animalischen Lust.
Sie wünscht sich nur, er würde endlich kommen. Der Moment, in dem er ihre Haare loslässt und zur Besinnung kommt.
Und sie hofft, er würde dastehen, klebrig tropfend mit Büscheln von Haaren in den Händen und schockiert über seine Grobheit weinen.
Aber immer nur lachte er und strich ihr übers Haar. „Ich liebe deine Mähne, Wildkatze.“
Sie erinnert sich schwach an Samson aus der Bibel, dessen Kraft in seiner Haarpracht lag. Und plötzlich durchdringt sie die Erkenntnis, dass es bei ihr genau andersrum sein muss. Ihr Haar strotzt vor einem Gift, das Körper und Geist von Grund auf verdirbt und schwächt.
Nicht einmal als er gehen wollte, konnten ihre Haare ihn zurückhalten.
Und nun gibt es auch für sie kein Halten mehr. Kurz müssen sie sein. Kurz. Nichts mehr zum Klammern und Liebhaben als Ersatz ihrer selbst.
Und sie begreift, wie sie oft nur ihre Frisur aus dem Haus geschickt und sich selbst unter der Bettdecke versteckt hatte.
Ihre Haare waren es, die auf Parties gingen, die die Beförderung bekamen und schliesslich auch ihren Mann kennenlernten.
Natürlich schön, wild gewachsen, ungefärbt und doch die pure Lüge.
Nach Reinheit trachtend, schneidet und schneidet sie. Gleichzeitig malt sie sich ihre neue Frisur aus, die sie nach unzähligen Hochglanzmagazinen und eingehender Beratung wählen würde.
Und dann hält sie plötzlich inne. Sie fühlt sich als Klischee ertappt.
Mit neuem Schnitt in ein neues Leben.
Wie sie Frauen hasst, die glücklich den Salon verlassen und verkünden, ab jetzt wären sie ein anderer Mensch.
Am Ende des Jahres stellen sie dann fest, dass das ganze Haushaltsgeld für haarige Selbsthilfetherapien drauf ging, und frau nach Dauerwelle, kurz, angesetzt, gestreckt, blond, rot, pink zur Faschingsikone geworden ist und sich keinen Deut verändert hat.
Ohne sie.
Die Schere fällt zu Boden.
Ob vergiftet oder nicht, das Fehlen eines Mannes darf nicht den Verlust ihrer Weiblichkeit bedeuten.
Und wenn sie jetzt etwas braucht, dann einen Vorhang, hinter dem sie ihre Tränen verbergen kann.
Der Frisör würde ihre Geschichte nie und nimmer zu hören kriegen, soll er warten, bis er schwarz wird.
Die Wahrheit gehört nur ihr allein.
Triumphierend legt sie sich ins Bett und schläft mit einem selbstzufriedenen Lächeln ein.
Der Haarteppich zieht sich durch die ganze Wohnung.