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Haarrisse
Das Publikum verstummt. Im Dunkeln gibt es immer einen, der sich heimlich wünscht, dass jemand abstürzte. Das Böse hängt in der Luft, genau wie die neun Frauen an ihren Haaren in der Zirkuskuppel. Wie Figuren eines riesigen Mobiles baumeln sie von einem runden Trapez, enganliegende Silberkostüme in schwindelnder Höhe, verlockendes Glitzern wie eine orientalische Lampe.
Lucia hockt angespannt auf der Holzbank. Es duftet nach Sägespänen und Popcorn. Ihre Hände schwitzen. Ist sie die Einzige heute Abend mit Wünschen schwärzer als das Zirkuszelt?
Es muss auch hier Menschen wie sie geben, denkt sie. Die nicht nur Zuckerwatte hassen. Die mit Gänsehaut gespannt nach oben blicken. Im Gegensatz zu ihnen wartet Lucia nicht auf den finalen Knall, auf das Hinabsausen des menschlichen Kronleuchters. Eine Melange aus Metall und Mädchen, von denen Lucia alle egal sind, bis auf die eine.
Die schönste der Akrobatinnen, eine zierliche Frau mit strengen Augenbrauenbalken schraubt sich nach oben in die Luft, pendelgleich schwingt sie im Inneren des Kronleuchters und Lucia weiß, wie sie ihren Plan umsetzen wird. Bald. Sie kann warten. Es ist einfach und sie hat im Gegensatz zu den anderen die Möglichkeit, ihn umzusetzen.
Die Artistin war spätnachmittags in ihren Friseursalon gekommen. Eine düstere Schönheit mit kräftigen Haaren wie ein prachtvoller Pferdeschweif, mit dem sie beim Reden störrisch um sich schlug. Sie war keine einfache Kundin. Unwillig ließ sie sich die Haare im schwarzen, rechteckigen Waschbecken waschen und angeblich tropfte das Shampoo in ihre dichtbewimperten Augen. Während des Haareschneidens trafen sich ihre Blicke im Spiegel, lauernd, leicht versetzt, und die Augen der Jüngeren fixierten Lucia bedrohlich, wie Wurfmesser in der Manege, die knapp daneben trafen.
Ihr Haar sei ihr Kapital. Keines dürfe gekrümmt werden. Weder durch Föhnen, noch billige Plastikkämme. Spliss könne sie auf den Tod nicht leiden.
„Verschonen Sie mich mit Ihren Ekelbürsten!“, ergänzte sie und musterte abfällig Lucias Friseurtisch. Die Artistin beleidigte sie alle, die Warmluftbürsten. Die Rundbürsten. Den Sägemann Föhnstyler.
Als ob überall Haare der Vorkunden steckten. Beiläufig bemerkte sie, dass sie am Abend in der Vorstellung sein musste und gab weder Freikarten noch Trinkgeld.
Absägen sollte man die Haare. Zumindest ansägen. Das hätte Annett gesagt, Lucias Kollegin, wenn sie nicht früher Schluss gemacht hätte. Wir Mädels müssen zusammenhalten. Wir gegen die anderen. Gegen die zeitstehlenden Nörgler, bei denen auch Langhaar- und Dickhaarzuschlag nicht halfen. Lucia vermisste ihre lustige Freundin, die impertinente Kunden einfach rauswarf, zuletzt diesen selbstverliebten Schönling, den sie leider am Vormittag verpasst hatte.
Aber Annett würde ihm vorher noch etwas verpasst haben. Lucia wollte die Geheimrezepte nicht kennen, die Haare gezielt in Stroh verwandelten, nicht gleich, sondern Tage später. Die im Hotelpool aus schönstem Blond ein gruseliges Grün machten.
Und das waren nur die harmlosen Geschichten. Wie weit würde Annett gehen?
Ihr Sinn für „Spaß“ nahm langsam geschäftsschädigende Züge an und nach dem Vorfall im Sommer fragte sich Lucia, wann endlich die Polizei auftauchte. Annett hatte einer fiesen Kundin eine spezielle Tinktur für ihre noch fiesere Tochter mitgegeben. Aber nichts passierte.
Es gab weder Anzeige noch Nachforschungen, die haarscharf eine Verbindung zogen zwischen Friseur- und Schwimmbadbesuch, zwischen einer harmlos aussehenden, kleinen Flasche und ihrem Inhalt, der etwas unschön mit Chlor reagierte, wie Annett leichthin erklärt hatte. Mit einem hexenhaften Lächeln, das Lucia beunruhigte – besonders was die Zukunft ihres Ladens betraf.
Lucia war auf der Hut gewesen, als die Artistin ein Glasfläschchen aus ihrer Handtasche fischte und zog lieber ihre säurefesten Arbeitshandschuhe an, als die junge Frau darauf bestand, ihr mitgebrachtes Haarmittel zu verwenden, wohl ein Geheimrezept ihrer Artistenfamilie, das gefährlich roch. Viele Sonderwünsche ihrer Kunden kannte Lucia schon. Aber dieser war der schlimmste. Und der dunkle Haarschopf passte nicht einmal komplett in das kleine Waschbecken.
Während das Zeug einwirkte, nahm Lucia ihr Handy, um sich im Nebenzimmer bei Annett auszuheulen.
„Kommst Du nicht einmal ohne mich klar?“, zerbarst jede Hoffnung auf Trost, während seltsame Hintergrundgeräusche Annetts Stimme übertönten. Wo steckte sie bloß?
„Warum lässt sie überhaupt jemand wie uns an ihre Haare?“, meinte Annett versöhnlicher und Lucia glaubte, einen Hauch schlechten Gewissens herauszuhören.
Die Frage hallte in Lucia nach, umso drängender, nachdem sie erfuhr, wen sie behandelt hatte. Den Star des Abends.
Warum ließ die Artistin überhaupt eine Fremde an ihre Haare? Wenn diese ihre Lebensversicherung waren. Warum blieb sie nicht gleich in der sicheren Geborgenheit ihres Wohnwagens? Aber das war wohl nicht das Gleiche. Sie brauchte jemand, den sie zum Publikum machen konnte. Eine graue Maus ohne jedes Glitzern. Nie hatte Lucia ihren Laden schäbiger empfunden. Nie waren ihr die Krakeluren im Waschbecken aufgefallen. Und die winzigen Lämpchen, die um den Frisierspiegel blinkten, schienen sie zu verspotten und im wechselnden Kirmes-Licht schimmerte ihre Kopfhaut durch ihre sich lichtenden Haare wie die wellige Zeitung, die niemand mehr lesen wollte.
Am meisten quälte Lucia die Frage, was Annett mit dem Schönling gemacht hatte. Sie hoffte, dass sie nichts übertrieb. Andererseits verdienten manche Kunden eine kleine Strafe. Wie die Haarartistin, der Lucia am liebsten den Kopf verbrühen wollte, als sie wehrlos im Waschbecken lag. Annett stellte bestimmt versehentlich die Temperatur falsch ein.
Lucia war umgänglicher, kundenorientierter – oder einfach ängstlicher. Annett angstbefreit wie ein Tiger, der durch brennende Reifen sprang mit einem sich schnell regenden Zorn, der danach effizient verlosch, während Lucia nur schmerzvolle Elefantenwut kannte. Jede kleinste Beleidigung brannte sich in ihr Gedächtnis und ließ sich nicht mehr löschen. Nach außen hin verhielt sie sich wie ein dressierter Dickhäuter, gleichbleibend freundlich und balancierte mit schweren, zum Abend hin anschwellenden Beinen durch den Salon, um ihr Krönchen nach jeder Gemeinheit unauffällig wieder zu richten. Die Bemerkungen der Artistin waren spitzer gewesen als ihre mitgebrachten Scheren und Lucias Wut hätte Ketten aus Wänden reißen können. Die Frau wollte tatsächlich am nächsten Tag wiederkommen! Aber sie würde sich nie wieder beleidigen lassen! Nie wieder vom arrogantesten Star der Show.
Warum konnte Lucia nicht wie Annett sein! Wenigstens einmal richtig böse!
Nachdem die Ladentür ins Schloss gefallen war, gönnte sie sich eine kleine Dosis davon.
Sie genoss die absurde Vorstellung, dass der Artistin die Haare ausfielen.
Alle auf einmal. In Sekunden! Lucia lachte leise vor sich hin. Mit Glatze würde das Biest hinabstürzen, zehn Meter ungesicherte Tiefe. Das war ein Punkt, auf den das Zirkusgirl besonders stolz gewesen war. Wir haben die Sicherheitsnetze abgeschafft.
Konnte das möglich sein? Lucia hielt dies für übertrieben. Angeberfantasien, um auf gestandene Friseurinnen hinabzuschauen. Schade, dass ihre Rachefantasie nicht wahr werden konnte! Andererseits würde sie verpassen, wie das Drecksluder von ihrem Partner nach oben gezogen würde, an diesem starken Pferdeschwanz, der im Hochziehen die Kopfhaut zu Recht schmerzhaft belastete, hinauf in die sternenlose Dunkelheit der Zirkuskuppel. Lucia sah alles genau vor sich: die einsamen Scheinwerfer, die wie unheimliche Stalker dem Paar folgten. Lichter, die den verliebten Schwung des Paares wie einen Glorienschein betonten.
Denn alle Artisten sind verliebt, dachte Lucia wehmütig und wusste gleichzeitig, dass dies nicht stimmen konnte.
Sie änderte ihre Abendpläne. Das egozentrische Ausmaß der akrobatischen Monologe hatte sie neugierig gemacht. Nicht auf den glamourösen Auftritt (sicherlich langweilig antiquiert), sondern auf den Wunderknaben, der all das ertrug. Und noch viel mehr, wie ihr die Zeitung verriet, die voller Wasserflecken neben den Bürsten lag.
Und jetzt sieht sie ihn! Durch das Fernglas hindurch, das sie in Annetts Schublade gefunden hatte. Den Mann, der im Glitzerkostüm zu Strangers in the Night das Publikum zum Toben bringt. Er ist die Attraktion des Abends, muskulös, langhaarig, lässig. Die Nummer ist spektakulärer, als sie dachte, das muss sie anerkennend zugeben. Der aus Menschen gebaute Kronleuchter schwingt gefährlich. Eine unfallträchtige Wucht und er der strahlende Mittelpunkt. Kopfüber am Seil baumelnd wie an einer überdimensionierten Lampenschnur.
Dem sollte man das Licht ausknipsen.
Er ist schöner als erlaubt. Mit Haaren, für die Frauen töten würden. Zumindest Friseurinnen.
Die Pracht ist an einem Mann reine Verschwendung. Geschmeidig, stärker als seine goldenen Arme, die muskelbepackt an ihm nutzlos herunterhängen.
Und die er nicht braucht, für das, was gleich kommen wird.
Ein Raunen geht durch die Menge.
Und dann wird es still.
Die Glitzerkostüme der Frauen schimmern wie Fische auf der Schlachteplatte. Verführerisch, verlockend.
Aber nicht so sehr wie die Königin des Abends.
Das Drecksluder.
Das grelle Bühnenlicht folgt ihr wie ein Magnet und färbt ihr Pailettenkleid blutrot.
Geschwind klettert sie am Seil entlang nach oben, zu ihm, der sie schon erwartet, kopfüber, sehnsuchtsvoll.
Something in your eyes was so inviting
Something in your smile was so exciting
Er greift nach ihrem Schopf, rasch, routiniert, verknotet ihre Haare mit seinen Haaren. Ein Doppelkegel aus Haaren, wie eine schimmernde Sanduhr.
Love was just a glance away
Sie lässt das Seil los.
Nun hängt alles von ihren Haaren ab.
Die Zugkraft wird gefährlich größer, je intensiver er seine Partnerin in Schwingung versetzt.
Atemlos schauen alle nach oben.
Ein Kronleuchter wie eine Totenglocke.
Lucia schmerzt vom Hinschauen die Kopfhaut. Verstohlen schaut sie sich in der Menge um. Nach Menschen ohne bewundernde Blicke. Nach Leuten mit Elefantengedächtnissen, die ebenfalls keine Beleidigung vergessen. Sie sehnt sich nach jemandem, der sie versteht. Jemand, der sie auch kennt – die Haarrisse in der Seele, durch die das Böse hindurchströmt, erst leise und unbemerkt. Dann stärker, bis man es nicht mehr ignorieren kann. Oder will.
Two lonely people we were strangers in the night. We were stalkers in the night.
Wir sind Stalker in der Nacht.
Aber stattdessen entdeckt sie ... Annett. Und es ist wie im Kino, wenn der Abspann läuft und das Licht wieder angeht. Wenn gruselige Bilder verblassen und man wieder man selbst wird. Wenn alles Düstere in den Plüschsitzen des Kinos bleibt wie vergessene Popkornkrümel und man innerlich gereinigt aus dem Saal stürmen kann. Lucia möchte jetzt nur noch raus, aus dem Zirkus – vor allem aus ihrem kleinen Rachefilm! Ein bisschen böse reicht doch.
Nie fühlte sie sich so erleichtert, Annett zu sehen. Ihre lustige Annett! Lucia fühlt sich wie erlöst, geradezu heiter – befreit von allen dunklen Gedanken, was sonst nie vorkommt. Allein die Anwesenheit ihrer Kollegin kittet alle Risse. Zumindest fürs Erste.
Lucia steht von ihrem Platz auf, ruft, winkt, und es ist ihr egal, das hinter ihr alle schimpfen.
Okay, ein letztes Mal böse sein.
Aber Annett reagiert nicht, ihre Körperhaltung ist starr wie die einer lauernden Katze.
Sie bemerkt auch sonst nichts.
Das Vertrauen. Die tatsächliche Verliebtheit des Paares. Kann sie es nicht spüren?
Lucia bekommt Angst. Annett wirkt verändert. Ihre Augen fixieren nicht die Artistin. Nicht ihren bezaubernden, angstlos schwingenden Körper. Nicht ihr kleines, weißes Gesicht, das sich ihm zuwendet, auch wenn sie ihn nicht wirklich sehen kann.
Annett schaut über das Glitzern hinweg, über den Punkt, wo sich die Haare des Akrobatenpaars ineinander verknoten. Durch das Fernglas entgeht Lucia nichts. Annetts fiebriger Blick wandert höher, über das Gesicht des Mannes und verharrt auf seiner gebräunten, jetzt vor Anspannung krebsroten Stirn und eisige Schauer laufen über Lucias Rücken, als sie endlich versteht.
Lange würde er nicht mehr durchhalten.
Die Haare spannten immer mehr.
Dort ist er also, der Ansatzpunkt von Annetts Rache: der Haaransatz des Schönlings. Das ist der Kerl, den Annett vormittags behandelt hatte. Alle Puzzlestücke fallen an ihren Platz und schlagartig werden Lucia gleich mehrere Dinge bewusst, dass Annett die wirklich Verrückte ist, deren Streiche sich nicht mehr unter „schäbigem Spaß“ verbuchen lassen. Dass sie gefährlicher ist als gedacht, eine Psychopathin im Frisiersalon des Grauens. Dass ihr lustiges Tigermädchen nur aus Angst durch brennende Reifen springt. Und dass man einem entlaufenen Tiger in der Stadt besser nie wieder begegnet.
Lucia überlegt, wie viel Haare aushalten. Wann sie aufgeben. Sie weiß, dass Haare sich dehnen, wenn man an ihnen zieht. Das hatte sie schon oft ausprobiert, wenn sie sich im Salon langweilte.
Bei ihr brachen sie, wenn der Moment kam, wo das Dehnungsmoment überschritt.
Aber junges Haar ist stärker. Junge Liebe stärker.
Lucia kann sich bei dem Mann alles vorstellen. Aus Liebe könnte er vielleicht sogar ein Auto an seinen Haaren hochziehen.
Er würde alles tun, um seine Freundin zu retten.
Er ist stärker als alle, die sie kennt. Nur wird ihm seine Stärke nichts mehr nützen.
Er hatte im Salon einen entscheidenden Fehler gemacht und musste ihn übersehen haben, genau wie sie selbst so viele Male: den entschlossenen Tigerblick, das kurze Aufflackern einer langen, heimlichen Wut, den Blick der Jägerin vor dem finalen Knall, von dem er – wie alle an diesem Abend – noch nichts ahnt.