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Hab ich viel getrunken?
Als Tom aufwacht, hämmert es in seinem Kopf. Vorsichtig öffnet er die Augen. Tageslicht zwängt sich durch die Ritzen des Rollos. Er tastet die Bettseite neben sich ab. Kalt und leer.
Ganz langsam dreht er den Kopf, sucht mit zusammengekniffenen Augen das Zimmer ab: Seine Kleidung über dem Parkett verteilt, der Nadelstreifenanzug, Hose, Weste, Jackett, auf links gedreht und zerknittert in getrockneten Schlammspuren. Ein Schuh, mit Matsch überzogen, liegt unter der Heizung.
Tom schließt die Augen, kämpft gegen das Stechen und die Übelkeit an, versucht sich zu erinnern. In seinem Mund ist ein widerlicher Geschmack, seine Zunge klebt wie ein totes Tier am Gaumen.
Er schluckt, steht auf, stöhnt. Sein Knie schmerzt. Er wendet die Kleidung und hängt sie ordentlich über den Stuhl, die Krawatte obendrauf. Als er die Schuhe unter dem Stuhl versteckt, hört er Schritte im Flur und bewegt sich schnell zurück ins Bett.
Kaffeeduft strömt ins Schlafzimmer, Jessie tritt ein. „Hier, Schatz. Mit Milch und viel Zucker“, sagt sie und stellt die Tasse auf den Nachtschrank. „Bitte.“
„Danke, Süße.“
„Für dich tue ich doch alles.“ Abwartend legt sie den Kopf schief.
Tom gähnt, reibt sich das Kinn. „Sag mal, Süße, bin ich gestern hingefallen?“
„Ja“, sagt sie. „Beim Fußballspielen mit meinen Neffen.“
„Auch aufs Kinn?“
„Nein, du bist aufs Bein gestürzt und hast dir dabei die Hose aufgerissen.“
In seinen Ohren klingt es nicht vorwurfsvoll, eher, als würde sie ihn bemitleiden, ihm die Hose wieder nähen. Auch hat sie ihm nicht – wie sonst – wegen seines Katers eine Szene gemacht, der ihr nicht entgangen sein dürfte. Hat ihn sein Gefühl etwa getäuscht? Er hebt die Bettdecke hoch, untersucht sein Knie. „Wie ist das denn passiert?“
„Na ja, du wolltest zeigen, was du kannst, bist in den Ball reingegrätscht und dabei gestürzt. Danach hast du den Ball über den Zaun geschossen und kamst grantig zum Tisch zurück.“
„Oh“, sagt er verdutzt. „Tut mir leid. Und der Ball?“
„Kein Problem. Den hat Holger geholt.“
„Holger? Der Rotschopf?“
„Nein, mein Cousin. Der mit dem Bart. Der Rotschopf ist mein Bruder.“
„Ich erinnere mich wieder.“ Er haucht sich in die Hand, riecht seinen Atem. „Hab ich viel getrunken?“
„Na ja … Du hattest versprochen, dich von deiner besten Seite zu zeigen und …“
„Hab ich doch“, unterbricht er sie. „Ich hab mit den Kindern Fußball gespielt.“ Tom beäugt Jessie, die ihre Augenbrauen hochzieht. „Warum bist eigentlich schon fertig angezogen, Süße? Wollten wir uns nicht einen gemütlichen Tag auf der Couch machen?“
„Ich hab’s mir anders überlegt.“ Sie verlässt das Schlafzimmer und ruft noch: „Ich muss mich schminken“.
„Dein Vater wars! Er hat mich verführt.“
„Er hat nur mit Sekt mit dir angestoßen! So wie mit allen anderen. Ich glaube, er mochte dich“, schallt es aus dem Bad, „bis zu diesem Augenblick! Dann fing es an: Du hast dich allein an die Bar gestellt und von allen Flaschen probiert.“
„Ich wollte doch nur was Besonderes aussuchen für dich, für deine Familie.“
„Du hast den Frauen – vor allem den Brautjungfern – nachgegafft und meiner Schwester ins Dekolleté gestarrt!“
„Echt? Dann müssen sie das aber auch wert gewesen sein“, scherzt er, als wäre es eigentlich normale, reine Männersache. „Hab ich ihnen auch auf den Hintern geklatscht?“ Kaum hat er es gesagt, bereut er es schon. „Tut mir leid. Wird sicher nicht mehr vorkommen“, sagt er mit brechender Stimme. „Ich verspreche es!“ Diesmal war er wohl wirklich zu weit gegangen.
„Schon gut", sagt sie.
„Oh, Mann“, murmelt er und zweifelt daran, dass schon gut tatsächlich so gemeint ist. Er atmet tief durch, senkt den Kopf, grübelt, wie er das Gespräch ins Positive lenken, alles vergessen machen kann oder ob er besser gar nichts mehr sagen sollte. „Das Essen war geil, ne?“, sagt er schließlich.
„Du musst sehr hungrig gewesen sein.“
„Ich hatte den ganzen Tag vorher nichts gegessen.“
„Ach, und deshalb hast dich am Buffet vorgedrängelt? Du hast alles angetatscht und im Stehen in dich reingestopft.“
„Es schmeckte so gut. Ich musste doch probieren, was ich dir mitbringen kann.“
„Du hast auf den Boden geschlabbert und dir die Hände an den Ärmeln abgewischt.“
„Die Musik …?“, fragt er fast schon ängstlich zurückhaltend.
Plötzlich steht Jessie im Türrahmen. Frisches Rouge, rote Lippen, die Haare frisiert. „Die Musik? Gut, dass du das auch ansprichst. Du hast dem DJ das Mikro weggenommen, dich mit ’ner Flasche Schnaps wild auf der Tanzfläche hin- und hergedreht und laut und schief mitgesungen. Du hast sie alle von der Tanzfläche verjagt. Der DJ musste den Ton abdrehen.“
Ihre Mimik wirkt reglos auf ihn, und in seinen Ohren klingt alles Gesagte wie eine tonlose Aufzählung, als würde sie ihm das Fernsehprogramm vom Abend vorlesen.
„Zum Glück hat mein Schwager eingegriffen.“
„Der mit den langen Haaren?“
„Mein Schwager! Der Bräutigam!“
„Puh, da sind mir die Pferde durchgegangen. Sorry, aber es ging ja alles noch mal gut aus.“ Auf den Bräutigam hätten er doch gehört. Wahrscheinlich hatten sie anschließend gemeinsam über alles gelacht und an der Bar Bruderschaft getrunken.
„So, meinst du? Du hast dich gewehrt, losgerissen, um dich geschlagen. Bis Papa dazukam.“
Er fasst sich ans Kinn. „Ach, dann war er es …?“
„Du hast herumgelallt, den Gästen die Reste aus den Gläsern getrunken. Dann hat Papa uns ein Taxi bestellt. Zum Glück.“
„Taxi? Aber wir sind doch zu Fuß ... oder?“
„Ja, du wolltest nicht einsteigen.“
„Ich wollte an die frische Luft, einen klaren Kopf …“
„Und ich dir hinterher.“
„Dafür bin ich dir auch dankbar, Süße.“
„So wie du drauf warst, hättest du die zwei Kilometer nie nach Hause gefunden, wärst in ‘n Graben oder Bach gestürzt. Und dann hast du noch …“, sagt sie, senkt den Kopf und steckt ihren Zeigefinger in den aufgerissenen Mund.
Tom errötet, lächelt verlegen.
Dann glitzern ihre Augen vergnügt. „Zum Glück ist uns das Taxi langsam gefolgt und der nette Fahrer hat dir hoch geholfen, als du vor dem Haus auf der Wiese alle Viere von dir gestreckt hast.“
„Hat er mich etwa auch …?“
Die Hände in die Hüften gestemmt, schaut Jessie ihn mit ausdruckslosen Augen an.
Er zupft sich am Haar. „Sorry, Süße. Ich hab die ganze Feier gesprengt. Kommt nicht mehr vor. Wirklich.“ Oh Mann, dieser Blick. Was will sie ihm damit sagen? Wird sie jetzt den ganzen Sonntag sauer auf ihn sein? Wie kann er das wieder gutmachen?
Jessie dreht sich um, verschwindet für einen Moment aus seinem Sichtfeld und steht kurze Zeit später wieder im Türrahmen. Sie hat ihre Pumps angezogen, eine Reisetasche in der Hand und einen Rucksack geschultert. „Ja, kommt nicht mehr vor. Da bin ich mir ganz sicher. Wirklich“, sagt sie und verzieht die Lippen zu einem dünnen Lächeln.
Er reibt sich die Nase. „Aber … Süße …“
„Hat sich ausgesüßt. Endgültig. Der Schlüssel hängt am Schlüsselbrett.“
Tom starrt ins Leere, hört sie übers Parkett stöckeln. Das kann nicht wahr sein. Das kommt zu überraschend. Wie konnte sie die ganze Zeit …?
Die Schritte verstummen und er vernimmt eine tiefe Männerstimme. Er zieht die Augenbrauen hoch, setzt sich auf. Wer oder was war das? Ganz sicher nicht das Radio in der Küche oder der Fernseher. Sein Kopf brummt, er macht den Mund mehrmals auf und wieder zu. Als die Wohnungstür geöffnet wird, steht er hastig auf. Er knickt ein, sein Knie schmerzt, er macht zwei Schritte, stößt gegen eine leere Bierflasche, die über das Parkett rollt und taumelt zur Tür, stützt sich an der Zarge ab, lugt um die Ecke und lauscht. Im Korridor brennt Licht; er blinzelt, seine Augen nehmen schemenhaft eine weitere Person wahr.
„Diesmal ist er zu weit gegangen. Boah, ich bin’s so leid. Aber du musstest ihm nicht gleich so ‘n festen Kinnhaken verpassen. Er hätte auch so gepennt wie ‘n Stein.“
Die Wohnungstür schlägt zu.
Tom torkelt über den Flur. Er kommt zu spät, bleibt an der Wohnzimmertür stehen, wirft einen Blick hinein. Ein Geruch nach Schweiß und Zigarettenqualm steigt ihm in die Nase. In den Ohren beginnt es zu rauschen, er unterdrückt einen Schrei: auf dem Sofa kreuz und quer Wolldecken und Kissen, auf dem Couchtisch zwei Kaffeepötte, eine leere Weinflasche, zwei Gläser, ein Teller, Käsemesser und Käserinde – sein bester, teuerster Wein, sein liebster alter Gouda. Auf dem Boden erblickt er etwas kleines Rotes. Er geht näher. Es ist ihr Spitzenhöschen, das da liegt, das nicht zufällig da so zur Schau liegt. Um ihn herum riecht es nach Leidenschaft und Gier und Körperflüssigkeiten. Er schluckt, fühlt sich auf einmal nüchtern wie drei Tage im Trockenen, aufgedreht wie eine Kiste Cola, niedergeschlagen wie ein ausgeknockter Boxer.
Mit hochrotem Gesicht geht er zum Fenster, blinzelt zwischen den Lamellen auf die Straße. Jessie und ein jüngerer Mann in Jeans, mit Lederjacke und langem Haar, treten aus dem Haus, stolzieren Arm in Arm auf ein Taxi zu.
Alles zieht sich in Tom zusammen. Er wischt sich eine Träne fort, reißt das Rollo beiseite, ballt die Fäuste und hämmert gegen das Glas. „Ich schaff es! Glaub mir! Ab heute!“
Der Mann öffnet den Kofferraum und Jessie legt ihre Taschen hinein. Während er sich hinters Lenkrad setzt, schaut Jessie kurz herauf, blickt dann nach unten und steigt ein.