Hades
Du bist gefangen. Einsam und allein im Dunkeln und der Kälte. Dir zittern die Gliedmaßen, dein Körper friert, genau wie deine Seele. Alles um dich herum wirkt wie der tiefste Abgrund der Hölle.
Tränen wollen deine Wange herunterlaufen, Trauer breitet sich aus, du willst weinen, doch du kannst nicht weinen. Du kennst es auch nicht mehr anders. Die Verzweiflung hast du hinter dir gelassen, genau wie die Hoffnung auf ein Leben, das dir nie zu Teil wurde.
Du weißt, wer dir das angetan hat. Du weißt, wer dich deiner Mutter entrissen hat.
Doch was hast du ihnen schon entgegenzubringen? Du bist nur ein kleines Kind.
Früher hattest du noch Hoffnung, vielleicht irgendwann zu entkommen. Doch dann hast du wieder ihre Gesichter und ihre Augen gesehen...
Und du hast geschrien. Ein schrilles, entsetzliches und zugleich erbärmliches Kreischen zusammen mit einem Heulen. Es klang so jämmerlich, dass keine Seele auf Erden es hätte fertig bringen können, diesem Geschöpf nur ein einziges Leid anzutun.
Doch sie haben keine Seele. Und wer keine Seele hat, hat auch kein Mitleid. Und deswegen weißt du, dass sie dich nicht verschonen werden. Und niemanden wird es interessieren. Niemand wird da sein, um dich vor den Monstern zu retten. Niemand wird deine Schreie, dein Kreischen und dein Heulen hören. Sie werden sich daran erfreuen.
Der Boden ist feucht. Der Raum, in dem sie dich gefangen halten, ist erfüllt von einem beißendem Gestank, der deine Sinne benebelt. Du glaubst, du würdest dich daran gewöhnen? Doch dieser Gestank ist so intensiv, dass du ihn schon auf deiner Haut spüren kannst.
Wie lange bist du schon hier? Tage? Wochen? Monate? Ist das nicht auch egal?
Dein Atem geht schwer. Eine schleimige Flüssigkeit läuft ununterbrochen aus deiner Nase. Deine Kräfte schwinden und du kannst dich kaum noch auf den Beinen halten. Nur dein Ekel vor dem Fußboden, lässt dich nicht zusammenbrechen.
Noch nicht!
Was hast du nur getan? Welches Verbrechen hast du begangen? Warst du nicht immer gut zu allen gewesen? Hast du deine Mutter zu wenig geliebt?
Oh, deine Mutter. Du wärst jetzt so gerne bei ihr. Du würdest deine Qualen verdoppeln lassen, wenn du sie nur noch ein einziges Mal sehen könntest. Du würdest den Hades immer und immer wieder durchqueren, um sie zu spüren, ihre Wärme in deinen Körper aufzunehmen und dich von ihr trösten zu lassen.
Und dann erinnerst du dich an die Gesichter und die Augen der Dämonen und du weißt, dass sie dir diesen Gefallen nie wieder erlauben werden.
Du bist müde. Du willst schlafen, aber du willst dich auch nicht setzen. Denn der Gestank wird umso intensiver, desto näher du dich dem Boden näherst.
Und dann hörst du sie.
Das Klopfen ihrer Schritte auf dem Boden dringt von Weitem her und wird lauter. Sie nähern sich unaufhaltsam. Dein Herz fängt wieder wie wild an zu pochen. Du hoffst erneut – so wie hunderte Male zuvor -, dass sie dich nicht mitnehmen mögen. Auch wenn deine Zelle der schlimmste Ort auf Erden ist, du möchtest lieber hier bleiben. Du weißt, da wo sie dich hinbringen, ist es noch viel schlimmer.
Ein Kichern. Ein Klang, der ihre Freude an dem, was sie mit dir vorhaben, vorwegnimmt. Und als das rasselnde Geräusch des Schlüssels an dein Ohr dringt, gerätst du in Panik. Du verkriechst dich in die hinterste Ecke deiner Zelle. Als ob dich das vor ihnen retten könnte.
Als die Tür geöffnet wird und die ersten Rufe dieser Kreaturen laut werden, beginnst du zu schreien und um Hilfe zu rufen. Sie haben dich gesehen und sie packen dich. Sie legen dir eine Leine um den Hals. Du wehrst dich, doch die Monster sind stärker.
Noch immer frisst sich der Gestank in deine Nasenhöhlen. Doch das nimmst du schon gar nicht mehr wahr. Die Luft bleibt dir weg, als sie beginnen, heftig an der Leine zu zerren, um dich aus dem Raum zu ziehen. Der Schmerz in deinem Hals brennt entsetzlich, fast so entsetzlich, wie das Licht, das von der Deckenbeleuchtung der Halle in deine Augen sticht.
Du denkst noch einmal an deine Mutter. Du versuchst dich an ihre wohlklingende Stimme zu erinnern, die dich stets beruhigt hat, ihre Wärme, die dir ein Gefühl der Geborgenheit gegeben hat.
Und du weißt, du kannst dich noch so gut gegen sie wehren, sie werden dich nicht mehr in deine Zelle lassen. Du bist ihnen hilflos ausgeliefert. Ihrem Brüllen und Jubeln, ihren Mäulern und Zähnen, an denen der Speichel heruntertropft.
Ihren Messern.
Dein Kreischen bestärkt sie nur noch. Sie werden dir die Kehle aufschneiden, um dein Blut aus dir herauslaufen zu lassen. Und dann werden sie dich zerstückeln, selbst wenn du dann noch leben solltest. Und am Ende werden sie dich fressen.
Denn du bist ein Kalb.
Geboren, um deiner Mutter entrissen zu werden. Gelebt, um gefangen zu sein und um geschlachtet zu werden. Und du stirbst, damit andere ihren Hunger stillen können.
Doch hast du nicht auch die Möglichkeit, dich zur Wehr zu setzen, damit andere dein Schicksal nicht teilen müssen?
Genau das ist es.
Alles, was dir noch bleibt, ist ein Akt der Rache. Sie werden leiden, genau wie du leiden musstest.
Sie haben dir etwas gegeben, was sie wieder zurückbekommen werden. Und sie sollen es schlucken, wie du die stinkende Luft schlucken musstest.
Deine Krankheiten.