- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Halbe Stunde Atlantis
HALBE STUNDE ATLANTIS
2332, Nueva São Tiago, Kap Verde
Weit weg von der Zivilisation, auf einer Inselgruppe sechshundert Kilometer entfernt von Senegal, in den Tiefen des Atlantischen Ozeans, befand sich einst der Staat Kap Verde. Auf 15 Inseln lebten Portugiesen und Schwarze in einem reichen Land der Unabhängigkeit.
Alles was davon noch geblieben ist, ist die Inselhymne der Trompetenmusik.
Aïcha verließ den Jet und betrat Praia. Es war nicht mehr viel übrig auf der Insel. Die großen Klimakatastrophen von vor 100 Jahren hatten die Inselstadt zerstört.
Nun beherbergte die Stadt Nueva São Tiago über 6 Millionen Menschen, und die Inselgemeinschaft war als Teil der Föderation zur mächtigsten Handelsstadt der Welt geworden.
Nun war dort, wo vor langer Zeit die Hauptstadt war, nur noch ein Flughafen, ein Raumhafen und die Eingänge zu 500 großräumigen Hochgeschwindigkeitsliften – alles auf hohen Stützen über der einstigen Stadt gebaut um sie vor den Flutwellen zu schützen.
Aïcha verließ den Aufzug und war froh, wieder in ihrer Heimatstadt zu sein. Unter Wasser war sie aufgewachsen, und unter Wasser würde immer ihre Heimat sein, die Städte, von denen aus man kein Meer sehen konnte, waren für sie schlichtweg unerträglich.
Wenn man die Aufzüge verließ, konnte man einen großen Teil der unterirdischen Stadt überblicken, zu einer Seite hin konnte man in den Unterwasserbereich sehen, der in Richtung Vila de Maio führte, mitsamt den Meerestieren auf der anderen Seite des dicken Glases.
Laute elektrische Wagen strömten durch die pulsierende Metropole. Die breiten Straßen führten unter Gebäuden hindurch, die auf antik gestalteten Säulen ruhten. Es war taghell hier unten, die Solarplatten über den Inseln sorgten für ausrechend Energie und versorgten die Lichtquellen.
Sie betrat ihre in der Nähe geparkte Miniwagen, und stürzte sich ins Abenteuer des Verkehrs. Das ist einer der wenigen Nachteile dieser Stadt - zu viele Leute wollen sich gleichzeitig durch sie bewegen. Dachte sie genervt.
Nach einer Stunde im Stau erreichte sie endlich ihren Arbeitsplatz, das Gebäude der Sicherheitszentrale für das Südterritorium.
„Hola Aïcha, schön dass du wieder da bist!“ begrüßte sie ein älterer Mann namens Felipe, wie sein Nachname war, wusste sie schon gar nicht mehr, so lange duzten sie sich schon.
„Hola Felipe. Ist hier irgendetwas Besonderes passiert?“ fragte sie ihn im vorbeigehen.
„Nichts Bemerkenswertes.“
Aïcha ging weiter in ihr Büro. Bevor sie mit der Arbeit anfing erneuerte sie ihr Blass-Make-up, nicht weil sie sonst nicht gut aussah, sondern weil sie sich damit besser fühlte.
Eigentlich hätte sie keine Schminke nötig, denn auch so war sie sehr hübsch. Sie war Mischling mit schwarzen, mittellangen Haaren, braunen Augen und weichen Gesichtszügen. Sie war etwa 1,85 groß und trug eine lange, enge Stenox-Toga.
Aïcha setzte sich an ihren Schreibtisch und ging die eingegangenen Nachrichten an ihrem Roboter durch. Tatsächlich nur das Übliche. In letzter Zeit gab es hier recht wenig zu tun, sie fragte sich, warum sie nicht die Zeit zu Hause verbringen konnte. Sie hatte zwar keine Familie, aber so viel Spaß machte ihr die Arbeit auch wieder nicht, dass sie freiwillig unsinnige Zeit hier verbrachte.
Plötzlich fing das Lämpchen an der Stirn des Roboters an zu blinken, eine Nachricht ging ein.
Kurz darauf berichtete dieser ihr, was los war.
<Beim Zentralcomputer im Fogo-Viertel wurde ein Virus entdeckt.>
„Und?“ fragte Aïcha, „Passiert doch dauernd.“
<Ja, aber die werden abgeblockt. Alles was der Zentralcomputer jetzt noch tun konnte, war eine Warnmeldung abzusenden. Der Virus ist neu und unbekannt, vermutlich kommt er aus Buen-andalucia, obwohl die Feindlichkeiten eigentlich schon beseitigt waren. Vielleicht war es eine späte Reaktion eines Attak-Computers.> antwortete der Roboter mit besorgter Miene.
„Was bewirkt der Virus?“
<Keine Ahnung. Der Nueva São Tiago Server hat gerade geantwortet, er weiß kein Gegenprogramm gegen den Virus. Wie ich bereits sagte ist er vollkommen unbekannt.>
Aïcha war genauso besorgt. Der Server der unterirdischen Stadt war der drittgrößte Computer der Menschheit, er funktionierte auf der Quantumstechnologie und kam an Mächtigkeit direkt nach Masterbrain X und dem Kosmonautenserver. Wenn er keinen Ausweg wusste, konnte es schwierig werden. Woher kam dieser Virus bloß?
„Ist sonst etwas passiert?“ fragte sie ihren Roboter.
<Ich empfange ge…> das Wort sprach er nicht mehr aus denn auf einmal begannen seine Lämpchen wild an zu blinken, seine mechanischen Gliedmaßen drehten sich und er sackte zusammen.
Erschrocken sprang Aïcha auf. Im gleichen Augenblick ging das Licht aus. Nicht nur das in ihrem Büro, sondern auch draußen. Die riesigen Lichtquellen erloschen.
Panik.
Aïcha verließ das Büro und rannte den Batteriestrahlern hinterher. So etwas war noch nie geschehen. Was musste das nur für ein Virus sein, der das bewirkte? Nun lag es an ihrer Crew, eine Lösung zu finden.
Sie erreichte gerade den Korridor zum Notfallbesprechungsraum als sie es spürte.
Sie wussten, dass es irgendwann in dieser Woche kommen musste, doch dass es gerade jetzt kam, war sozusagen Unglück im Pech.
Sie hatten schon mehrere erlebt, es war eigentlich nichts Besonderes, sie waren direkt an einer Vulkankette. Und die Trennwände zum Ozean hatten schon etlichen Seebeben getrotzt. Doch dieses schien schon jetzt stärker zu sein.
Der Boden ruckelte stark unter ihren Füßen und Gegenstände fielen aus den Regalen auf den finsteren Boden.
Draußen waren schon die Geräusche der Panik zu hören und als die Leitungstruppe sich traf, waren sie sich innerhalb weniger Minuten voller Beben einig, das Südterritorium zu evakuieren.
Das Seebeben hörte nicht auf. Zwanzig Minuten später war es noch immer voll im Gange während die Massen von den Batterieeinheiten zu den Aufzügen geführt wurden. Aïcha leitete die ganzen Penner und Bettler aus dem Parkbereich zu den Liften, durch den vielen Schutt der Halden. Sie würde lieber ihre Freunde herausholen, aber jeder hatte seinen Job zu tun, und wenn alles klappen sollte, musste auch sie sich daran halten. Sowas konnte auf dem Land nicht passieren, sie fragte sich, warum sie scih jemals hier unten sicherer gefühlt hatte. Geradejetzt war Sicherheit eines der am weitesten entferntesten Wörter, die die Situation beschreiben konnten. Oben wurden Flugzeuge, Raketen-Schnellstarter, Hubschrauber und Seeschiffe herbeordert, um so viele Menschen wie möglich aufzunehmen.
Sie flohen in Massen. Keiner wusste genau, was los war, doch die Finsternis, die kaputte Elektrik und das Seebeben schienen Grund genug. Das Licht flackerte ab und zu, die Notstromaggregatoren versuchten ihr bestes, und wäre es nur das Südterritorium gewesen, so hätten sie es auch geschafft, doch die ganze Stadt war zuviel. Man konnte auch das Scharren von den ausfahrenden Schutzwällen hören, doch zu schnell verstummten sie.
Doch es schien noch immer nicht genug zu sein. Wer immer über der Menschheit stand, ob nun Gott oder Schicksal, schien nicht aufhören zu können.
Die Trennwände hatten schon etlichen Seebeben standgehalten, doch da hatten die Sicherheitsschleusen auch so lange alles aufgehalten, bis die riesigen Schutzwälle ausgefahren worden wären. Im Normalzustand blieben sie versteckt, um den Touristen nicht die Aussicht zu nehmen, denn der Tourismus war eine der größten Einnahmequellen. Und das letzte Seebeben dieser Stärke hatte vor ein paar Jahrhunderten gewütet - lange vor der Zeit der Stadt unter Wasser.
Aïcha leitete zusammen mit den Einheiten die Menschen zu den Aufzügen und U-Bootstationen. Das Licht ging nun ganz aus. Die Metropole wirkte gruselig ohne ihre Lichter, ein leichtes, dämmeriges, grünliches Schimmern vom Meer hinter dem Glas lies genug Licht für die Augen, um eine Vorstellung von Dunkelheit zu bekommen, denn es herrschte keine Finsternis - das wäre einer Erlösung nahegekommen. Sie kam sich vor wie in alten Renaissancestädten mit dunklen Gassen wo man sich des Lebens nicht sicher sein konnte - so sollte es hier eigentlich nicht sein.
Und so eine unnatürliche Stille, eine Untbrechung im Lärm der Gewohnheit. Der ganze Verkehr war lahmgelegt. Gerüchten zufolge war das Gleiche im Nord- und Ostterritorium passiert. Gerüchte würde es wohl immer geben. Rufende und rennende Menschen in Panik ersetzten den beruhigenden Lärm der Maschinen, des Verkehrs, der Umgebung, dem Leben an sich; hörte sie das Krachen. Und dann das Rauschen.
Und eine halbe Stunde nach dem Auftauchen des Virus, wo immer er auch herkam, waren noch längst nicht genug Leute evakuiert. Es war einfach zu schnell gekommen - und die Wände stürzten ein. Die Schleusen waren hilflos und die zur Hälfte ausgefahrenen Wälle nutzlos.
Unwillkürlich musste Aicha, die nur noch versuchte zu den Aufzügen zu kommen, an die alte, fast vergessene Sage von Atlantis denken.