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Hallo, kannst du mich hören?
„Guck mal, Mama, was machen die?“, fragt ein kleines Mädchen, und deutet in Richtung von Franziska und Stephanie.
„Die sind behindert, Marie. Komm, sieh nicht hin, sonst fühlen sie sich beobachtet.“
Ich blicke zu Franziska, die gerade Stephanie von unserem Nachmittag im Schwimmbad erzählt.
Wir sind gestern Nachmittag dort gewesen, und sie hat sich in einen schüchternen Jungen verliebt. Jochen heißt er, wie wir schließlich herausgefunden haben, und er ist jeden Tag da, um ein paar Runden zu schwimmen.
Wir legten uns genau neben sein Handtuch, als er gerade im Wasser war, weil die gesamte Liegewiese bei dieser Hitze natürlich überfüllt war. Als er dann zurückkam, glitzerten die Tropfen noch auf seiner Haut und der nasse Schimmer in den braunen Locken trug den Geruch nach Chlor. Scheu blickte er zu uns herüber, sah aber sofort wieder weg, als er bemerkte, dass wir gerade unsere T-Shirts über den Bikinis abstreiften. Wow, ist der süß, zeigte sie mir, und wir mussten kichern.
Dann liefen wir zum Schwimmbecken, das von Kinderschreien und Lachen erfüllt war. Ein Softball traf Franziska am Kopf, ein älterer Herr mit Sonnenbrand rief eine Entschuldigung. Sie lächelte nur. Wir blieben nicht lange im überfüllten, warmen Wasser, auf dem schon ein fettiger Film aus Sonnenöl schwamm.
Als wir zurückkamen zu unseren Handtüchern lag er schon da, abgetrocknet und in ein Buch von Carver vertieft. Franziska blinzelte mich an, und ich verstand. Ich habe ihn angesprochen, uns vorgestellt, und ihn nach seinem Namen gefragt. Obwohl es für jemanden, der sie noch nicht lange kennt sehr schwer ist, Franziska zu verstehen, hatten wir ein langes Gespräch und unser Lachen übertönte die Schreie aus dem Planschbecken. Franziskas Lachen ist ehrlich und natürlich, ein leises Glucksen meist, das ihrer ruhigen und fröhlichen Art entspricht. Jochen ist ein sehr netter Junge, der gerade die letzte Klasse unseres Gymnasiums besucht, und sich sehr für Naturwissenschaften interessiert. Er hat einen jungen Mischlingshund zuhause, und Franziska war begeistert. Sie liebt Tiere, darf aber selber keine halten in ihrer kleinen Wohnung.
Als die Bäume ihre Schatten länger über die Wiese fallen ließen und immer weniger Kinder mit ihren Eltern Tischtennis spielten oder Bälle durch die abkühlende Luft warfen, saßen wir trotzdem noch auf unseren Handtüchern. Stiller wurde es um uns herum, aber wir merkten es nicht.
Nach viel zu kurzer Zeit vom Bademeister vertrieben verabredeten wir uns für den nächsten Tag erneut und verabschiedeten uns.
Jetzt sind wir gerade auf dem Weg, die nächste U-Bahn wird uns in ein paar Minuten zu Jochen bringen. Er hat versprochen, heute seinen Hund mitzubringen.
Franziska erzählt gerade von einem der vielen Missverständnisse, über die wir gestern scherzen konnten, als die U-Bahn einfährt und wir zusteigen.
Ich muss lachen, als ich mir noch einmal die gestrige Situation in den Kopf rufe und an Jochens verständnislosen Gesichtsausdruck denke.
Das Mädchen sieht immer noch zu uns hinüber, beobachtet uns, aber sie wendet sich ab, sobald ich ihr den Kopf zudrehe.
Ich lächle ihr zu, und setze mich neben sie, während Stephanie und Franziska zwei Bänke weiter einen Platz finden.
„Hallo, ich bin Mareike. Das da sind Franziska und Stephanie, die beiden können nicht hören. Darum machen sie sich mit den Hände Zeichen, und können so miteinander reden und sich etwas erzählen.“
Sie schaut mich an, mit ungläubigen Augen. Sie ist vielleicht sechs oder sieben Jahre alt und hat das Haar zu einem dünnen blonden Pferdeschwanz zusammengenommen. Ihre Mutter blickt erstaunt, sagt aber nichts.
„Was sagen sie?“, fragt mich Marie schüchtern.
„Franziska erzählt gerade davon, dass wir gestern im Schwimmbad waren und einen netten Jungen kennen gelernt haben.“ Sie erwidert nichts, sieht nur zu den beiden hinüber.
„Möchtest du es auch probieren?“, frage ich Marie. Zögernd nickt sie.
„Ist das schwer?“
Ich zeige ihr die Gesten für „Hallo, ich heiße Marie“ und führe ihre Hände. Sie probiert es ein paar Mal alleine aus.
„Das ist ja gar nicht so schwer“, strahlt sie, steht von ihrem Sitz auf und läuft zu Franziska und Stephi hinüber.
Hallo deutet sie und lacht über das ganze Gesicht. „Hallo, kannst du mich so hören?“