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Haltestelle

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26.06.2001
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Haltestelle

Haltestelle

Luise stand im schmalen Schattenstreifen eines Baumes neben der Haltestelle. Sie hätte sich gerne auf die Bank gesetzt, aber dort hatte sich bereits ein dickes Paar niedergelassen und seine Einkaufstaschen ausladend neben sich verteilt. Sie wollten offensichtlich nicht gestört werden. So versuchte Luise ihr Stückchen Schatten gegen die Kinder zu verteidigen, die, wenn sie die Rucksäcke mit den herausquellenden Handtüchern richtig deutete, auf dem Weg ins Schwimmbad waren. Luise versuchte die Schmerzen in den Füssen und Knien nicht zu beachten, schrecklich, wie schwer ihr das Stehen in den letzten Jahren fiel – aber was sollte sie sich beklagen mit ihren fünfundachtzig Jahren. Sie stützte sich noch schwerer auf ihren Schirm, den sie selbst jetzt im Hochsommer einem Gehstock vorzog, und beobachtete die beiden Dicken auf der Bank. Die beiden waren nicht mehr jung, so um die sechzig schätzte Luise, aber offensichtlich sehr verliebt ineinander. Neben sich die Tüten mit den Einkäufen wie Wälle aufgebaut, saßen sie in ihrem Nest und befingerten sich zärtlich. Der Mann strich der Frau die feuchten Haarstränen aus dem Gesicht und küsste hingebungsvoll ihr knorpeliges rotes Ohr. Sie hielten sich die ganze Zeit an den Händen, bis die Frau den Griff schließlich löste und beide lachend ihre schweißnassen Handflächen verglichen. Luise konnte ihren Blick kaum abwenden, sie war zugleich gerührt und angeekelt, als würde sie zwei Nachtschnecken bei der Paarung beobachten. Sofort verdrängte sie diesen Gedanken beschämt und wandte den Blick einer jungen Mutter zu, die mit verklärtem Lächeln in den Kinderwagen blickte. Luise hatte ihre eigenen Kinder großgezogen, dann aber alles Interesse an Babys verloren. So betrachtete sie die weiche, nahrhafte Liebe in dem Gesicht der jungen Frau; ein Ausdruck, der sie in seiner Sanftheit, an den einer zufriedenen Stute erinnerte. Dieser Blick änderte sich ungehend, als eines der umhertobenden Kinder dem Säugling zu nahe kam. Die Bereitschaft, ihre Brut zu verteidigen, ließ das Gesicht der Mutter schlagartig gefährlich und angriffsbereit aussehen. Luise versuchte sich dieser Gefühle zu erinnern, aber die schienen, wie so vieles Andere, unter dem Geröll der Jahren begraben worden zu sein. Als eine Straßenbahn sich näherte, beschattete Luise ihre Augen um rechtzeitig zu erkennen, um welche Tram es sich handelte. Hier hielten mehrere Bahnen, sie wartete auf die Eins, nur hielt hier auch die Sieben und bereits mehrmals hatte sie sich in die falsche Bahn gesetzt. Wie gerne hätte sie jetzt jemanden gefragt, aber eine ihr selber unerklärliche Schüchternheit hielt sie davon ab. Es war durchaus nicht so, dass sie sich ihrer schwachen Augen schämte, eher eine Scheu, sich mit anderen Menschen durch Worte zu verbinden. Obwohl Luise natürlich klar war, dass durch solch eine einfache Frage keine Verflechtungen entstehen würden, konnte sie sich einfach nicht überwinden. So blieb sie mit zusammengekniffenen Augen stehen, bis sie sich sicher war, dass dies weder die Eins noch die Sieben war. Die Kinder stiegen alle ein, so wurde es plötzlich fast unangenehm ruhig. Luise hörte die Mutter ihr Kind angurren, die beiden Dicken kicherten bis die Frau einen Hustenanfall bekam und mit rotem Gesicht nach Luft rang. Traurig bemerkte Luise, wie sie die Menschen immer mehr hasste, oder vielleicht eher Abscheu vor ihnen empfand. Luise versuchte immer wieder, dieser Aversion auf die Spur zu kommen, war es möglich, dass sie sich vor dem Leben an sich ekelte? Ein junger Mann stellte sich hinter sie in den Baumschatten. Sie meinte seinen Blick im Rücken zu fühlen und hätte sich nur zu gerne umgedreht, um ihn genauer anzusehen. Aber hier war es wieder - was wäre, wenn der Mann lächeln oder, noch schlimmer, eine Bemerkung über das Wetter machen würde? Sie müsste antworten, würde möglicherweise in ein Gespräch verwickelt, alles Dinge die Luise auf keinen Fall wollte. Am liebsten hätte sie eine Glaswand zwischen sich und der Welt errichtet, dann hätte sie ruhig alles beobachten können, ohne die Gefahr mit einbezogen zu werden.
Luise sah, wie der jungen Mutter ein Päckchen Präservative aus dem Rucksack rutschte, jetzt müsste sie eigentlich etwas sagen, so etwas wie… ihnen fällt da was raus… aber das klang furchtbar, eher…gleich verlieren sie da etwas…, nur das würde klingen, als wüsste sie nicht, dass es sich um eine Packung Präservative handelt, also eine blöde Alte war… richtig wäre die Bemerkung …junge Frau sie verlieren ihre Präservative, das scheint ihnen ja schon einmal passiert zu sein… den letzten Teil des Satzes würde Luise in Wirklichkeit natürlich nie sagen. Schließlich beobachtete sie einfach nur, wie die flache Schachtel leise auf den Boden fiel. In diesem Augenblick sprang der junge Mann hinzu, hob das Päckchen auf und gab es der Besitzerin mit unbefangenem Lachen zurück. Wenig später waren die beiden in ein Gespräch über Kinder, Wohnungen und Geld vertieft. Als sich die nächste Tram näherte, überlegte Luise krampfhaft, wie sie die Mutter oder den jungen Mann nach der Nummer der Bahn fragen könnte, ohne mehr als eine kurze Antwort zu erhalten; die Chancen standen jetzt sehr gut, so intensiv wie deren Unterhaltung verlief. Luise trat einen Schritt nach vorne, aber als die fragenden Blicke sie trafen, senkte sie die Augen und vertiefte sich in den Anblick ihres Schirmes. Nein, es war nicht Abscheu vor den Menschen die sie zurückhielt, eher das Gefühl der Sinnlosigkeit. Wie ein altes Tier wollte sie nur noch alleine sein, ihren Weg zu Ende gehen und mit der Lebendigkeit der Jugend ebenso wenig zusammenzutreffen, wie mit der urinsauren Zittrigkeit der Alten.
Die Bahn die jetzt hielt war entweder die Eins oder die Sieben, Luise konnte es nicht erkennen, alle anderen stiegen ein, der junge Mann half der Frau mit dem Kinderwagen, die beiden Dicken schafften es grade noch rechtzeitig, sich selber und ihre Einkäufe hineinzuhieven. Luise blieb alleine zurück und setzte sich zufrieden auf die freie Bank. Sie spannte ihren Regenschirm auf, um sich vor der Sonne zu schützen und streckte behaglich die Beine aus. Einen Augenblick wurde ihr schwindelig, das kam sicher vom langen stehen – dies war ihr letzter Gedanke.

 

Als erstes Mal Danke kyra! tausend Dank!
Endlich eine Geschichte, bei der ich meine Gehirnwindungen nicht zwantig Mal um die Achse drehen lassen muss!
Es waren zwar auch Gedanken und Gefühle im Spiel, aber sie hatten eine Handlung und das ist für mich sehr wichtig.
Und was am wichtigsten für mich ist, es war nicht die zur Zeit übliche "Ich liebe dich doch, verlasse mich nicht!" heulerei, sondern eine wie das Forum schon sagt, "Alltags-"Geschichte!
Und dafür danke ich dir noch einmal!
So, aber nun zu deinem Text. Grundsätzlich hat er mir gefallen.
Nur finde ich, wenn man das Ableben einer Person beschreibt, sollte man doch mehr auf den Protagonisten eingehen. Man sollte mitfühlen. Doch das tut man hier nicht. Man bekommt keine Chance sich in die alte Dame hineinzuversetzen und das finde ich schade. Denn kaum beginnt man sie zu mögen oder zu hassen, (das muß jeder Leser selbst entscheiden) ist sie tot und man bekommt es kaum mit.
Wenn das Deine Absicht war, dann ist dir das gut gelungen. Doch wer beabsichtigt schon eine Geschichte zu schreiben bei der man nichts fühlt. (ausser man schreibt über Gefühle, da ist das voraussetzbar!)
Das Thema selbst finde ich sehr gut, leider hast du daraus zu wenig gemacht, natürlich nur nach meinen Geschmack!

 

Hallo Kyra,

Nach Deiner Ballast Geschichte hatte ich natürlich sehr hohe Erwartungen, welche diese Geschichte leider nicht so recht erfüllte.
Nicht, dass sie schlecht ist, oder so, aber Ballast oder die Geschichte mit dem eingekerkerten Mädchen waren viel ergreifender, da es sich um Personen in fast ausweglosen Situationen handelte. Hier ist das Verhalten und Denken der Frau zwar gut rübergebracht, aber es ergeben sich daraus nicht irgendwelche besonderen Konsequenzen, die die Geschichte absehbar zu einer Tragödie werden lassen. In so fern fehlte der Geschichte der rechte Kick den die anderen haben, und sie ist (wie viele Geschichte über das sterben) ehrlich gesagt etwas langweilig.

 

Hallo Kyra,

auch diese Geschichte hat mich, wie auch deine anderen, beim Lesen sehr bewegt.

Hier werden gleich mehrere Probleme in eine Alltagssituation eingebunden und in sehr glaubwürdiger Weise dem Leser herübergebracht. Zunächst einmal ist da der alte Mensch in seiner Schwäche und seinem veränderten Lebensgefühl, treffsicher in der Wortschöpfung "die unrinsaure Zittrigkeit der Alten" versinnlicht.
Dann aber ist es vor allem die Einsamkeit und Kontaktarmut der alten Frau, von denen der Text spricht. Dieses Problem ist indessen nicht an Luises hohes Alter gebunden.
"Am liebsten hätte sie eine Glaswand zwischen sich und der Welt errichtet." Dieser Satz bezeichnet die Mentalität eines Menschen, der zunächst viele Gesprächsansätze entwirft, dann überprüft, verwirft und wieder neue bildet, bevor er tatsächlich den Mund auftut zu einer wirklichen Ansprache.
Sie, Luise, "empfindet Scheu, sich mit anderen Menschen durch Worte zu verbinden". Und dieses wohl schon in jedem Alter.
Und dann kommt als kommunikationshemmender Faktor noch hinzu, dass der Inhalt des Päckchens, das die junge Dame verliert, gerade mal Präservative sein müssen. Der situative zwanglose Gesprächsanlaß, der sich hier ergeben hätte, um unbedenklich in ein Gespräch einzusteigen, wird dadurch wieder zerstört. Denn Luise würde unweigerlich falsch verstanden werden, egal, was sie sagt.
Die Folge ist Resignation: "Wie ein altes Tier wollte sie nur noch alleine sein". Das Ende dieses Satzes könnte lauten: "um auf ihren Tod zu warten". Aber ich meine, man sollte dieses Ende offen lassen. "Dies war ihr letzter Gedanke" am Ende wirkt etwas melodramatisch und vielleicht auch zu offensichtlich, wie ein mit Lineal gezogener Schlussstrich.

Aber insgesamt eine gute Geschichte, die ich mit innerem Wohlbehagen gelesen habe.

Hans Werner

 

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