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Handbewegung des Schicksals
Was mich auf die beiden aufmerksam gemacht hat, weiß ich nicht mehr.
Ich sehe, wie er ihr die Tür aufhält und sie beide aus der warmen, überfüllten Halle in die kalte Nacht verschwinden.
Alle beide haben sie dem Alkohol über jedes vernünftige Maß zugesprochen. Auf unsicheren Beinen schwanken sie um die Ecke der Halle, sich aneinander festhaltend, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Atem bildet kleine Wolken in der Luft.
Sie tun das immer, wenn sie einander treffen, verraten mir meine Finger, die über ihre Leben streichen. Sie gehen miteinander fort, nicht weit, nur knapp außer Sicht. Dann stehen sie da und reden über alles außer dem, was zwischen ihnen vibriert wie lebendiges Gewebe.
Beiläufig macht sie einen Witz. Aber anstatt zu lachen legt er den Arm um sie und hüllt sie in seinen Umhang, drückt sie leicht gegen die raue Steinwand. Sie stehen eng aneinandergeschmiegt, ihr Atem bildet weiße Wolken.
Das Mädchen hat den Kopf leicht schief gelegt. Ihre Augen flehen ihn an, auch, wenn ihr Mund bereits die vertrauten Widerworte formen will. Ich kann ihren Pulsschlag beinahe selbst spüren, ihr Herz rast.
Seine Lippen nähern sich den ihren. Sicher weiß sie jetzt, dass sie nur den Kopf wegdrehen muss, wenn sie das Spiel fortsetzen will, das sie die ganze Zeit schon spielen. Aber das kann sie nicht. Nicht dieses Mal. Ich weiß, dass sie es weiß. Ich lasse sie nicht.
Das Muster kommt aus den Fäden, läuft durch meine Hände und über unsere Knie, schlingt sich um Yggdrasils Wurzeln und verschwindet hinter dem mächtigen Stamm der Weltenesche.
Ich blicke nach rechts, wo die Unendlichkeit der Welt in unzähligen einzelnen Fäden ihren Anfang nimmt. Nach rechts, wo Urd sitzt mit ihrer Schere und behutsam einzelne Fäden durchtrennt, wenn ihre Aufgabe erfüllt, ihre Zeit abgelaufen ist.
Die beiden Sterblichen sind nichts als Fäden für uns, und gleichzeitig sind sie unendlich viel mehr, in dieser Sekunde sind sie alles, jetzt, wo ich das Garn in meinen beiden Händen halte. Ihre beiden Leben, die sich einander immer wieder annähern, die sich berühren wie ihre Lippen jetzt. Immer sonst laufen sie beim Morgengrauen voneinander fort. Aber nicht dieses Mal.
Skuld hält mir ihre Hände entgegen, zwischen ihren Fingern laufen die Farben, vorm Verheddern geschützt von ihrem eigenen Fleisch. Eine rasche Bewegung meiner rechten Hand dreht die beiden Fäden umeinander, und meine Schwestern lächeln mir zu, während sich in einer eiskalten Nacht vor einer Steinwand zwei Menschen immer wilder küssen, bis sie die Kälte nicht mehr spüren.