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Hannah
Wie seltsam ist doch die Liebe! Norbert hatte es jetzt gelernt. Mit langsamen Schritten ging er die abendliche Straße hinunter; und mit einer Freude und Genugtuung schaute er nach links und rechts, auf die kleinen und großen Geschäfte, die Menschen, an denen er vorbeiging, und ein Lied war auf seinen Lippen.
Die Antwort des Mädchens war ein „vielleicht“ gewesen, aber das kümmerte ihn jetzt wenig. Es hatte ihn viel Mut gekostet, sie zu fragen, und er feierte es wie einen Sieg. Er wusste noch nicht viel über die Liebe, und es war ihm nicht klar, dass dieses "vielleicht" möglicherweise auch ein "nein" sein könnte, und er dachte auch jetzt nicht daran, dass er sich darüber hinaus nicht mit dem Mädchen treffen könnte; jedenfalls nicht, wenn die Eltern es wissen sollten. Doch wozu sollte er sich darüber Gedanken machen? An diesem Abend lebte sein Herz, und er hatte ein solch volles und warmes Gefühl der Liebe noch nie verspürt, so dass er es sich jetzt um jeden Preis erhalten wollte.
Es war schon elf Uhr, und seine Eltern würden seit Stunden zuhause auf ihn warten. Doch er versperrte sich dem Gedanken an sie, denn er war überzeugt ein Recht auf diesen glücklichen Augenblick zu haben, einen Moment, ein Gefühl, welches ihm seine Eltern aberkannten. Heute fühlte er sich stark genug, das zu ergreifen, was seit Jahren schon ihm gehört hatte.
Er hatte sich lange gefragte, in welches Café er sie einladen würde. Seit siebzehn Jahren - dies war sein Alter - lebte er in dieser Stadt, doch von den Cafés wusste er nicht viel; er hatte höchstens den einen oder anderen exotischen Namen von seinen Schulkameraden aufgeschnappt. Ganz anders war das Leben, das ihn zu Hause erwartete. Der Vater verlangte stets ein gewissenhaftes Studium der Fächer in der Schule von ihm, und dies musste Vorrang vor allem haben. Er ließ Norbert wenig Zeit zur Erholung, und merkte er, dass seine Ergebnisse sich verschlechterten, so schlug er den Jungen und demütigte ihn auf eine solche Weise, dass Norberts Angst vor dem Scheitern noch größer wurde als sein Ekel vor der ganztägigen Schularbeit. Die Mutter fürchtete viel um ihren Sohn und verstand seine Situation, doch sie wagte es nicht, die Erziehung des Vaters anzuzweifeln, so dass sie zu Norbert immer streng und unnachgiebig war, obwohl es sie oftmals große Überwindung kostete.
Seit Jahren dichtete Norbert Verse, in denen er seinem Leiden Ausdruck verlieh. Dies war die einzige Beschäftigung, die ganz ihm gehörte; eine Beschäftigung, von der weder die Eltern noch irgendjemand anderes wussten und ihn deshalb bestrafen oder demütigen konnten. Er schrieb nur, wenn die Eltern nicht zuhause waren, und versteckte seine Gedichte sorgfältig zwischen den Seiten verschiedener Schulhefte. Auch versuchte er gelegentlich, abzuwarten, bis seine Eltern sich schlafen legten, um dann mit dem Schreiben zu beginnen, doch er musste ständig befürchten, dass sein Vater im nächsten Augenblick in sein Zimmer fallen könnte, um ihn zu kontrollieren, und so sein kleines Geheimnis erkennen und zerreißen würde.
Doch von alldem war er jetzt weit weg. Ziellos und glücklich und etwas nachdenklich ging er durch die Straßen, während er immer noch in dem Gefühl forschte, das die wenigen Worte des Mädchens hinterlassen hatten. An jeder Kreuzung entschied er spontan, wohin er ging, und sein Weg führte ihn immer wieder über Straßen, die ihm unbekannt waren, bis er wieder Vertrautes sah. Er war schon recht Weit von dem Stadtteil seines Elternhauses entfernt, und die Orte, die er sah, waren ihm fast alle völlig fremd. Die Häuser in dieser Gegend waren recht schäbige und einfache, meist blockförmige Gebilde, und die Wohnungen waren klein und lagen dicht bei einander. Der Verputz war auf den Fassaden häufig schon abgefallen und offenbarte die Struktur von Backsteinziegeln. Bei einigen Häusern waren die Eingangstüren beschädigt, und Norbert wunderte sich ein wenig, warum die Leute vor Einbrechern keine Angst hätten.
Hinter den Fenstern gingen oft Schatten und Umrisse von bewegten Figuren hin und her. Oft vernahm er ein Brüllen oder einen heiseren Ruf, und wenn er Gesprächsfetzen hörte, verstand er meist nicht, denn sie waren in einer Fremdsprache. Die Menschen auf der Straße grüßten ihn nicht; manchmal murrten sie irgendetwas in kehligen Lauten, und mit ängstlichen und gierigen Augen schauten sie den Jungen an.
Die Straße war schmal und etwas uneben, und obwohl hier nur selten ein Auto vorbeifuhr, war es auf der Straße ungewöhnlich laut. Geräusche aus den Wohnungen und den Fluren drangen auf die Straße, irgendwo schlug Wasser auf eine widerhallende, metallische Oberfläche auf. Der rohe Klang von großen Motoren, wo sich Eisen an Eisen rieb und schlug, zog durch die Straße, und er musste an eine verdreckte, harte Oberfläche denken, die man mit einem scharfen Gegenstand abfuhr. Eine Eisenbahn schlug in der Nähe in strenger Regelmäßigkeit gegen die Gleise, und das scharfe Bremsgeräusch übertönte das Lärmchaos der Straße noch einmal bei Weitem; trieb es gewissermaßen zum Höhepunkt, und ein Schütteln fuhr durch den Jungen.
Zwischen zwei Häusern fiel Norbert ein kleiner Weg auf, der scheinbar zu einer größeren Straße führte, denn dahinter sah er von weitem einige hellere Straßenlampen und glaubte sogar, Bug und Heck von einigen Autos zu erkennen, welche verstreut und entgegen dem Verlauf der Straße zu stehen schienen. Als er den Weg fast beendet hatte und die Straße bereits in größerem Winkel sehen konnte, fiel ihm eine junge Frau auf, die in seine Richtung zu laufen schien. Zwei dickere Verfolger in dunkelgrauen Anzügen rannten ihr nach, so schnell sie konnten, und ein dritter stieg gerade aus einem der Autos aus. Der vordere schrie ihr irgendetwas hinterher, doch alle drei hatten beim Laufen gewisse Schwierigkeiten, mit der jungen Frau mitzuhalten. Nach wenigen Metern begann der hintere Verfolger - er schien der Anführer zu sein - hektisch in der linken Tasche seines Anzugs zu stochern, bis er ein Tuch herausriss und sich mit zitternder Hand den Schweiß vom Gesicht abtupfte. Dann warf er das Tuch auf die Straße und holte, wieder mit Mühe, Waffe heraus. Während die junge Frau Norbert immer näher kam, wurden das Trampeln der drei Verfolger und ihr schweres und gieriges Atmen lauter und hektischer. Nun konnte er auch ihre Gesichter erkennen; die weit offenen Münder, mit denen sie unter heftig auf und ab bebender Brust nach Luft rangen, und die weit offenen Augen, die unter der Anstrengung zu platzen schienen und doch auf eine hartnäckige Art und Weise auf ihr junges und flinkes Ziel gerichtet waren.
Während er all dies beobachtete, merkte er kaum, dass er den Weg weiter gegangen war, bis er schließlich an sein Ende gelangte. Als er den Weg zwischen den Häusern verlassen hatte, trat er ins Licht einer nahen Laterne. Er wurde stark geblendet und erschrak etwas, worauf sein Gesicht schnell wegdrehte er einen Arm hochzog, um sich vor der starken Lampe zu schützen. Dann hörte er den Aufschrei der Frau, und als er seinen Blick wieder auf sie wendete, sah er, dass sie eingeknickt war und schon fast direkt vor ihm stand. Dann stolperte sie, fiel auf ihre Knie und schlug mit ihrer Schulter genau gegen die Kante eines der Häuser, zwischen denen der Weg führte, den Norbert gekommen war. Laut und schrill schrie sie auf, dann verzog sie ihr Gesicht vor Schmerzen. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder aufrichten konnte, worauf sie hinkend und in etwas gebückt Haltung ihre Flucht fortsetzte. Kurze Zeit später sah Norbert, wie sie in eine andere Nische einbog, während die Verfolger sie schon bis auf einige Meter eingeholt hatten.
„Und weiter?“, drängte der Polizist. Norbert kämpfte gegen die Tränen an. Er war vorher noch nie auf einem Polizeirevier gewesen. In einem kleinen Raum saß er dem Polizisten gegenüber, während ein anderer das Gespräch protokollierte. Eine helle Lampe, die mit einer dicken Schnur an der Decke befestigt war, schwang langsam hin und her und beleuchtete kahle Wände, die von einer grauen oder blassbläulichen Farbe in breite, schwarze Schatten ausblendeten. Die Luft war stickig, und der Geruch von Verrauchtem lag in der Luft, obwohl sich die Beamten verkniffen hatten, in Gegenwart des Jungen zu rauchen. Gelegentlich ging die Eingangstür des Raumes auf und zu, wenn irgendwelche Beamte Fragen stellten oder um irgendeine Befugnis baten, und Norbert genoss den kühlen Luftzug, der dann für einen Moment den Raum durchströmte.
Der Polizist knüpfte seine Manschetten auf und schob die Ärmel ein wenig zum Ellenbogen hin. Jede Bewegung des Polizisten war für Norbert wie ein Urteil. Er saß in einer gebückten Haltung, und sein ängstlicher Blick fuhr vom Polizisten über die kahle Wand des Raumes bis hin zum Notar, der im Schatten saß und dessen Blick Norbert nicht sehen konnte. Dieser schlug in strenger Regelmäßigkeit gegen die Tasten der Schreibmaschine, um Norberts letzten Worte festzuhalten.
Der Polizist fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und rieb sich die Augen, worauf er sich kurz in seinem Stuhl zurücklehnte, um die Beine zu lockern. Dann stützte er sich mit den Ellenbogen auf den Tisch, faltete die Hände, schaute Norbert direkt ins Gesicht und sagte: „Bitte, mach weiter.“
Norbert schluckte. „Sie stand wieder auf, und versuchte wegzulaufen. Sie liefen ihr hinterher. Dann verlor ich sie aus dem Blick, und kurz darauf hörte ich zwei Schüsse. Ich habe mich sehr erschrocken, und bin sofort weggelaufen. Ich lief in eines der Häuser, und vom Treppenhaus konnte ich dort aus dem Fenster sehen, wie die Männer zu ihren Autos zurückgingen und dann wegfuhren. Dann ging ich wieder raus und suchte sie. Da war überall Blut, sie lag mit dem Gesicht in der Erde-„ Dann senkte Norbert seinen Kopf und begann, zu schluchzen. Der Polizist stand auf, und reichte Norbert ein Taschentuch. Dann legte er seine Hand auf den Rücken des Jungen und klopfte ihm sanft auf die Schulter. „Ist schon gut. Du hast genug getan. Komm, ich fahre dich jetzt nach Hause.“
„Was zum Teufel hast du dort mitten in der Nacht gemacht?“, brüllte der Vater. Gebückt, mit den Händen die Ellenbogen umfassend, saß er auf dem Diwan im Gästezimmer. Schwach beleuchtete die Lampe auf dem runden Gesellschaftstisch den Raum, doch ihn schien das Licht zu blenden. „Los!“, drängte ihn der Vater.
„Ich habe-“
„Was?“
„Ich war – ich bin spazieren gegangen.“
„Du machst mich krank! Raus damit!“
„Vater, ich-“
„Lüg mich nicht an, mit wem hast du dich getroffen?“
„Mit niemandem…“
„Glückwunsch, jetzt hast du schon mit der Polizei zu tun! Würde mich nicht wundern, wenn du sie umgebracht hast!“
Der Vater kehrte ihm den Rücken zu und drehte sich zur Mutter, die mit sorgenvoller, trauriger Miene ihren Sohn anschaute. Er setzte seine rechte Hand ans Kinn und verharrte einen Augenblick lang in dieser Stellung. Dann drehte er sich ruckartig zurück zu Norbert, schrie aus voller Brust und warf seine Hand in Richtung des Treppenhauses.
Er lag in seinem Bett und starrte, mit leblosem Blick, auf die Decke. Was hatte er falsch gemacht? Norbert wusste es nicht. Doch sein Vater hatte Recht. Er hätte unter keinen Umständen so spät noch auf der Straße sein dürfen, und es machte ihn wütend, dass er dies nach einer so langen Zeit noch nicht begriffen hatte. Verliebtsein! Liebe! Was waren es doch für leere Worte, alberne Eitelkeiten, niemals hätte er sowas ernst nehmen dürfen! Nun hatte er mit einem grausamen Verbrechen zu tun, und weder er selbst noch die Familie würden ihm verzeihen, denn er hatte es nicht verdient. Er wollte nicht mehr leben, nicht mehr atmen, dies war jetzt nicht mehr möglich. Er wollte schreien, er riss seinen Mund auf und spannte die Wange bis aufs letzte an, dann griff er, wie aus einem Reflex, mit der Hand nach seiner nackten Brust, als wollte er sich die Haut abreißen. Und dann weinte er, tief und leise.
Ihr Name war Hannah. Er hatte sie seit zwei Wochen täglich besucht, und jedes Mal dachte er, wollte er sich neben sie legen. Lange kniete er vor dem Grabstein, manchmal wurden es mehrere Stunden. „Hannah“, sagte er, „es tut mir Leid“, und versuchte, das Weinen zu unterdrücken. „Ich habe dich getötet. Es war meine Schuld.“ Mit der rechten Hand zog er sich, so stark er konnte, an den Haaren, und biss die Zähne zusammen. Nach einiger Zeit beruhigte er sich etwas. „Ich war es. Wenn ich nicht dort gewesen wäre, wärst du vor ihnen weggelaufen. Du wärst in Sicherheit. Sie haben dich getötet. Ich habe dich getötet.“
So kniete er wohl noch eine Stunde; dachte, sprach, und weinte. Dann stand er auf. Er sah, dass eine der Kerzen, die er mitgebracht hatte, erloschen war, und zündete sie noch einmal an. Dann erhob er sich wieder, schaute noch einmal auf die Grabtafel, und sagte halblaut: „Vater hat Recht. Er hatte Recht. Hör zu, Hannah, ich kann einfach nicht mehr.“