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Hart wie Kruppstahl
(Überarbeitete Fassung)
Der alte Mann wirkte müde und erschöpft, als er mit dem kleinen Paket die Straßenbahn betrat. Den Blick nach unten gewendet, schlurfenden Schrittes, suchte er sich eine freie Bank und nahm am Fenster Platz. Er starrte nach draußen durch die zerkratzten Scheiben. Ein regenverhangener Tag. Sein Blick sank auf seinen Schoß, seine Finger strichen zärtlich um das Paket.
„Käthe“, murmelte er. „Meine Käthe.“
Nach dem Tod seiner Frau waren ihm die wenigen Gegenstände eingepackt worden, die sie mit ins Krankenhaus genommen hatte – ein paar Nachthemden, Hausschuhe, den alten Kulturbeutel. Dinge, die er ohne weiteres hätte wegwerfen können. Aber das brachte er nicht über sich. Ihm war, als würde er über diese Gegenstände ihre Nähe spüren, und das tröstete ihn.
Es war früher Nachmittag, und auf der Fahrt durch die Stadt stiegen immer mehr Kinder in die Bahn. Der Regenguss hatte sie aufgekratzt, sie waren vergnügt, johlten und unterhielten sich laut. Ein Mädchen von vielleicht zehn Jahren setzte sich neben ihn und streifte mit dem breiten, nassen Ranzen die Pappschachtel auf seinem Schoß. Aus seinen Gedanken gerissen, erschrocken, knurrte er es unwirsch an. Das Kind entschuldigte sich, wandte sich ab und alberte laut mit seinen Kameraden. Der alte Mann schaute wieder nach unten und hielt das Paket schützend zwischen beiden Händen.
Er fühlte sich leblos, ebenfalls tot. Das junge lärmende Leben um ihn herum war ihm fremd. Alles, was sich noch in ihm regte, schien ihm Schmerz und Kummer. Die Tiefe dieser Erfahrung erschreckte ihn, und er scheute davor zurück, versuchte sich hinter einer Haltung von Stärke zu verstecken. Am liebsten hätte er jedes verbleibende Gefühl ausgemerzt.
Die folgenden Monate verlebte er wie in einem Nebel. Es war dunkler geworden, etwas in ihm war mit abgetreten. Es fehlte jenes vertraute Element, das immer der feste Pol in seinem Leben gewesen war. Seit Kriegsende lebte er in dieser Stadt, aber mit einem Mal fühlte er sich plötzlich unsicher, wenn er auf die Straße trat, schaute sich misstrauisch um, fuhr zusammen, wenn jemand in der Nähe laut rief. Wenn er abends unterwegs war, steckte er sogar eine kleine Pistole in seine Jackentasche, die noch aus dem zweiten Weltkrieg stammte. Er wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch funktionieren würde, aber sie vermittelte ihm etwas Sicherheit. Die Zeitungen waren voll von üblen Geschichten – Überfälle, Messerstechereien, oft aus nichtigem Anlass. Mit der Waffe fühlte er sich nicht mehr gänzlich ausgeliefert.
Es hatte ihn immer beruhigt, sich bei seiner Frau aussprechen zu können. Jetzt redete er manchmal mit sich selbst, ganz unbewusst, so als sei sie noch immer da. Als ihm das auffiel, hielt er erschrocken inne. Dann aber lächelte er nur milde und sprach ganz bewusst zu diesem Menschen, den es nur noch in seiner Erinnerung gab.
„Vierundfünfzig Jahre.“ Seine Stimme wurde sanft. „Vierundfünfzig Jahre. Und ich habe keinen Tag davon bereut. Habe ich dir das jemals gesagt? Du bist das Beste, was mir widerfahren ist.“
Mehr und mehr zog er sich zurück, hatte keine Lust mehr, die alten Bekannten zu treffen, die ausschließlich über ihre Krankheiten klagten, und verließ das Haus letztlich nur noch zum Einkaufen – und für die Oper. Obgleich er mit den modernen Inszenierungen oft wenig anfangen konnte, zog es ihn der Musik wegen immer noch dorthin.
Er liebte es, die kurze Distanz nach Hause zu Fuß zurück zu legen, er mied die Menschenmengen in der Straßenbahn und ihre fortwährende Gesprächskulisse. Gedankenverloren schritt er ohne Eile über den Gehweg. „Neumodisches Zeug“, grummelte er zu sich selbst. „Muss heutzutage alles gleich ins Perverse gezogen werden, damit noch jemand hinschaut? Spricht die Musik nicht mehr für sich selbst?“ Er schüttelte den Kopf. Er verstand diese Zeit nicht, ihren Hunger nach Sensationen, die zunehmende Beschleunigung. Warum fortlaufend alles ändern? Es schien ihm nicht, als würde es dadurch besser.
Ein Radfahrer kam ihm frontal entgegen und wich erst im letzten Moment aus.
„Entschuldigen Sie", rief er ihm hinterher.
Der hielt an und wandte sich ihm zu. „Kann ich Ihnen helfen?"
„Wie wär's wenn ich zukünftig die Straße nehme und sie den Fußweg ganz für sich allein haben?", giftete er ihn an.
„Idiot!" Der Radfahrer verschwand im Dunkel.
Der alte Mann nahm kopfschüttelnd seinen Weg wieder auf. „Ist es eine so schwere Bürde, ein paar Grundregeln einzuhalten?“
Seine Gedanken zogen hin zu seiner Frau. Er hatte immer angenommen, sie werde ihn überleben, und dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches für ihn gehabt. Als bei ihr Krebs diagnostiziert worden war, hatte er seine Hoffnungen in die Medizin gesetzt und seiner Frau gegen ihren eigenen Impuls geraten, alle Behandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen.
„Ich wollte Dir ja helfen, Käthe, wollte, dass wir das gemeinsam durchstehen.“ Er erinnerte sich daran, wie sie unter der Bestrahlung und Chemotherapie gelitten hatte, und verzog das Gesicht wie unter körperlichen Schmerzen. „Ich wollte Dich nicht gehen lassen.“
Das Aufbegehren war jedoch sinnlos, innerhalb weniger Monate war der Kampf aussichtslos geworden. Er musste miterleben, wie seine Frau immer mehr in sich zusammenfiel, zu ihrem eigenen Schatten wurde. Unter Morphium erkannte sie ihn zum Schluss kaum noch und verschwand schließlich in ein dunkles Nichts.
„Alles verloren. Alles verloren und dahin.“
Gedankenversunken bog er in die kleine Seitenstraße ein, in der er wohnte. Vor seinem Haus standen zwei Jungen an der Tür und machten sich an der Wand des Gebäudes zu schaffen.
„Hey", rief er aus einigen Metern Entfernung. „Was macht ihr da?"
Die beiden Jungen in ihren viel zu weiten Hosen wirkten auf ihn südländisch. Sie mochten fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein. „Alter, zieh Leine", zischte ihn der eine an.
Der alte Mann spürte sein Herz rasen. Ihm wurde schwindelig, er musste sich konzentrieren, um nicht zu schwanken. Mit der rechten Hand umfasste er den Revolver, den er in seiner Manteltasche trug. Das kühle Metall beruhigte ihn.
„Ich wohne in diesem Haus. Das ist mein Haus", sagt er leise.
„Ey, ich stecke dir gleich ein Messer in den Arsch", polterte der andere Junge los, kam zwei Schritte auf ihn zu und stellte sich vor ihm auf.
Sie standen sich direkt gegenüber. Der alte Mann schaute zur Hauswand neben der Tür; ein unförmiges Grafitti war daran geschmiert. Dann schaute er wieder auf die Jungen vor ihm – was hatten die vor? Ihm war, als wollten sie verschwinden. Doch er stand ihnen im Weg. Sie hätten um ihn herumlaufen müssen, was einer Niederlage in diesem unausgesprochenen Duell gleichkam. Sie taten es nicht.
Provozierend kam einer der Jungen mit erhobener Faust auf den Alten zu.
Der alte Mann zog die Pistole aus der Manteltasche, und als der Junge mit seinem Arm ausholte und nach ihm schlug, drückte er ab.
Der Schuss kreischte durch die Nacht wie ein einsamer verlorener Schrei. Durch den Rückschlag verlor er fast die Kontrolle über die Waffe, um ein Haar wäre sie ihm auf den Boden gefallen. Er erschrak darüber. Wann habe ich überhaupt das letzte Mal geschlossen? Er konnte sich nicht erinnern.
Getroffen sackte der Junge auf den Boden, eine klaffende Wunde in der Brust. Blut, viel Blut. Der andere Junge starrte mit geweiteten Augen auf den Freund und lief dann schreiend davon.
Der alte Mann atmete schwer und schaute auf den reglosen Körper vor ihm. Mühsam beugte er sich zu ihm, schließlich ließ er sich auf die Knie nieder. Seine Hand fasste nach dem Arm des Jungen, suchte einen Puls, strich dann über dessen Gesicht, das noch warm war und zu glühen schien.
„Ich wollte doch nur nach Hause, Käthe. Ich wollte doch nur nach Hause.“
Als die Polizei eintraf, saß der alte Mann noch immer weinend neben dem Toten.