Haruki Murakami: Mister Aufziehvogel
Hat man erst mal einen Murakami gelesen, dauert es sicher nicht lange bis man zum nächsten greift. Ich zumindest musste unbedingt in diese Welt zurückkehren und in der Buchhandlung meines Vertrauens griff ich zu dem dicksten Buch das ich von ihm bekommen konnte.
MISTER AUFZIEHVOGEL
Um herauszufinden was er wirklich machen möchte kündigt Toru Okada seinen Job in einer Anwaltskanzlei. Zitronenbonbons lutschend genießt er dieses neue, freie Leben, übernimmt dabei die häuslichen Pflichten und verliert sich gelegentlich in Alltagsphilosophien. Seine Frau geht weiterhin arbeiten.
Anstatt zu den erwünschten Klarheit zu gelangen, eröffnen sich ihm allerdings ganz andere Eindrücke über sein Leben, seinen Verwandten und schließlich auch seiner Frau.
Ganz wie ein typischer Haruki-Hauptdarsteller weiß Okada nie genau was er will, oder was er meint. “Darüber habe ich noch nicht nachgedacht” oder “Vielleicht ist es so..” sind klassische Antworten des passiven, hilflos-neutralen Mister Aufziehvogel, vor dem sich die Menschen ständig öffnen. So zum Beispiel die 16jährige, vom sterben faszinierte May Kasahara, die er in seiner Nachbarschaft kennen lernt:
“Du hast recht” sagte ich.
“Hören sie auf mir ständig recht zu geben! Es ist ja nicht so, daß sich alles in Wohlgefallen auflöst, wenn Sie nur Ihre Fehler zugeben. Ob Sie es zugeben oder nicht, Fehler bleiben Fehler”.
“Du hast recht”, sagte ich. Sie hatte recht.
Sie ist nicht die einzige Frau die plötzlich im Leben des selbsternannten Mister Aufziehvogel auftaucht. Neben einer obszönen Anruferin erscheint auch die hellsichtige Malta Kano, um ihn bei der Suche des verschwundenen Katers zu helfen. Ihre Schwester Kreta Kano dagegen, offenbart sich Okada mit einer unglaublichen Lebensgeschichte, als “Prostituierte des Geistes“. Die Merkwürdigkeiten häufen sich, bis plötzlich die Ehefrau des Mister Aufziehvogel verschwindet. Nun bleibt ihm nichts anderes übrig als in eine andere Welt einzutauchen, die am Grunde eines alten Brunnens beginnt...
Alles was da oben nun steht ergibt vielleicht eine kleine Einleitung zu dem was einem erwartet wenn man sich diesem Buch hingibt. Mit keiner Zeile ist aber bisher geschrieben um was es eigentlich in der Geschichte geht.
Um das zu erfahren musste ich das ganze Buch lesen. Erst zum Ende hin zeigt sich das Bild in seiner Gesamtheit. Zuvor wird man, gemeinsam mit dem herzzerreißend coolen Mister Aufziehvogel, in eine Welt gezogen, die die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen lässt. Das wundervolle dabei, Murakami hat es nicht nötig den Leser mit einer umständlichen Erzählweise zu verwirren. Er geht völlig linear vor und seine Beschreibungen bestechen mit einer fast magischen Klarheit. Trotzdem oder gerade deswegen schafft er es eine (Traum-) Welt zu erschaffen, die ihres gleichen sucht. Wie in einer Art Film-Noir Version von “Alice im Wunderland” taucht der Leser hinein und lernt dabei unglaubliche Charaktere kennen, die ihm Murakami ins Gedächtnis brennt. Jedenfalls ging es mir so. Funktionieren kann das ganze nur, dank der Coolness des Mister Aufziehvogel. Er nimmt die Dinge so wie sie erscheinen, er zweifelt nicht an ihnen. Täte er das, würde er sich hoffnungslos in einem rabenschwarzen Labyrinth verlieren. So aber kämpft er anrührend daran diesen verzwickten Knoten aus subjektiven Realitätsfragmenten und mysteriösen Traumbotschaften zu lösen. Hilfe zieht er unter anderem auch aus der düsteren Geschichte eines Leutnants, der in den Wirren der Japanisch/Chinesischen Frontline eine schicksalhafte Begegnung hatte.
Wundervoll bei all dem, wie Murakami es schafft dem Leser immer etwas für die Zeit zwischen dem Lesen mitzugeben. Oft legte ich das Buch zu Seite und verschwand noch einmal, im Geiste, in dem eben gelesenen. Was während der Aufnahme noch zu gegenwärtig schien, entfaltete sich in solchen Momenten oft zu einer mythischen Blüte die einen wärmenden Druck auf meiner Brust hinterließ. Einer meiner ganz seltenen körperlichen Leseerlebnisse, für die ich Herren Murakami äußert dankbar bin.
FAZIT:
Mister Aufziehvogel ist mit seinen fast 800 Seiten nicht einmal langatmig geworden. Es ist eine spannende Traumreise in ein wohl alles umspannendes Netz. Die Wirklichkeit erscheint da schon bald als eine Variante von vielen, wie ein einzelnes Spiegelchen in einem funkelndem Kaleidoskop. Besonders schön dabei, mit welchem Feingefühl Murakami seinen Charakteren Leben einhaucht. Oft lässt er sie Briefe schreiben, die mich mehrmals innerlich aufseufzen ließen. Besonders beeindruckt hat mich da, die schon erwähnte, May Kasahara. Auf dem Traumtrip des Mister Aufziehvogel bekommt diese, vermeintlich zufällige, Begegnung eine ganz besondere Rolle.
Stilistisch kann ich natürlich nur Vergleiche zu dem bereits besprochenen Buch “Hard Boiled Wonderland” ziehen. Mister Aufziehvogel wurde, im Gegensatz zu H-B.W., leider vom englischen ins Deutsche übersetzt. Dabei, so schien mir zumindest, ging ein wenig von der Poesie in Murakamis Sprachbild verloren. Genau kann ich das aber nicht sagen, immerhin liegen zwischen der Veröffentlichung beider Bücher 10 Jahre. Wahrscheinlich ist auch, daß Murakami, der selbst englischsprachige Literatur ins japanische übersetzt, bestimmt ein wachsames Auge auf die Übersetzung der eigenen Bücher hat. So dürfte der Verlust durch zwei Übersetzungen sich in Grenzen halten. Zumindest hoffe ich das ;o)
Etwas ärgerlich stimmten mich leider gelegentliche Druckfehler in der Taschenbuchausgabe. Ich kann mich eigentlich an kein Buch erinnern wo mir das so häufig aufgefallen wäre. Mindestens fünf davon hab ich gefunden .
Trotz dieser beiden Punkte sorgte das Buch bei mir für ein ungebremstes Lesevergnügen.
Um bei der Wahrheit zu bleiben, dank Mister Aufziehvogel bin ich Murakami Haruki hoffnungslos verfallen. Selten hat mich ein Autor so begeistert und in den Bann seiner Welten gezogen. Und so konnte ich auch gestern wieder mal nicht an der Buchhandlung meines Vertrauens vorbei, ohne mir einen weiteren Murakami zuzulegen....
btb Taschenbuch erschienen im Goldmann Verlag für 12,50 Euro