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Hautnah
Hautnah
Das Auto wartete vor dem Flughafengebäude. Die Türen wegen der brütenden Hitze weit geöffnet, stand es in der glühenden Sonne. Der junge Fahrer lehnte dösend an der Kühlerhaube, die Dienstmütze tief ins Gesicht gezogen.
Brügger eilte zu ihm und tippte auf den klebrigen Stoff seines Hemdes. Mit einer knappen Drehung reichte der junge Mann ihm die Hand und lächelte freundlich.
„Guten Flug gehabt?“ Er schloss die übrigen Türen und setzte sich hinters Steuer.
Brügger ließ sich erschöpft in die Rückpolster fallen. Zu ausgelaugt für eine Antwort, nickte er den Augen im Rückspiegel zu, legte den Aktenkoffer neben sich und lockerte die Krawatte.
Er war dankbar, dass der Fahrer keinen weiteren Konversationsversuch unternahm und den Wagen geschickt in den Verkehr einfädelte.
Brügger schloss die Augen und dachte, dass er allmählich zu alt für diese Langzeitflüge wurde. Trotz Beinfreiheit und allem Komfort tat ihm jeder Knochen weh, sein Schädel dröhnte und die Fußknöchel waren geschwollen.
Die Chinesen waren zähe und gerissene Verhandlungspartner, doch schließlich hatten sie sein Angebot akzeptiert, und so würde der Vertrag wohl nächste Woche zustande kommen. Deutsches Feinblech ins Reich der Mitte.
Brügger versuchte, seine geschwollenen Finger zu bewegen. Der Ehering schnitt schmerzhaft ins Fleisch. Seufzend dachte er an die mandeläugige Chinesin mit den schmalen, muskulösen Oberschenkeln, die sich wie ein Schraubstock um seine Schultern gelegt hatten. Auch die Serviceleistungen bereiteten ihm keine uneingeschränkte Freude mehr.
Überhaupt, es waren von jeher die üppigen Amerikanerinnen gewesen, die ihn anmachten, das ewige Glamourgirl, kurvig und blond, so wie Marion damals ausgesehen hatte, vor fast fünfunddreißig Jahren.
Die Klimaanlage pumpte künstliche Frische ins Wageninnere und Brügger bekam eine Gänsehaut. Marion hatte ausgesehen wie Marilyn. Er konnte ihr nie schnell genug die Kleider vom Leib reißen, ihre weichen Riesenbrüste kneten, bis sie stöhnend die Luft einsog.
Mein Gott, wie lange lag das zurück? Brügger erinnerte sich nicht einmal mehr daran, wann er seine Frau zum letzten Mal nackt gesehen, geschweige denn Haut berührt hatte, die von Kleidern befreit werden musste. Mit achtundfünfzig bevorzugte er freizügige junge Damen, die sich routiniert entblättern ließen und sich der Erotikillusion bewusst waren, genau wie er.
Brügger ließ die Gedanken ohne Bedauern ziehen und konzentrierte sich auf die Vorstellung, in geraumer Zeit ausgiebig zu duschen und danach mit einem goldenen Bourbon auf der sonnengeschützten Terrasse zu sitzen.
Er war kaum eingetreten, den Aktenkoffer noch in der Hand, als sein Schritt stockte.
Niemals hatte Brügger damit gerechnet, dass Marion nackt daliegen würde! Erschreckt und verwirrt wandte er den Blick ab, sah auf seine staubigen Schuhspitzen.
Er hatte keinen Speichel mehr im Mund, die Zunge pappte am Gaumen und seine Augen fühlten sich ausgetrocknet an. Blinzelnd bewegte er sich schließlich auf Zehenspitzen vorwärts. Vorsichtig stellte er den Aktenkoffer ab.
Sein Herz schlug hart gegen den Brustkorb, und das Blut pulsierte in den Ohren. Plötzlich erfasste ihn heftige Neugier. Kein Gedanke an Scham, nur der Wunsch sie anzuschauen, in Ruhe, schonungslos voyeuristisch.
Konnte er noch eine Spur von Marilyn entdecken?
Marions Kopf lag zur rechten Seite geneigt, ihm zugewandt, und er bemerkte, dass ihre Augenbrauen noch immer den lebhaften Schwung der Jugend hatten. Gezupft und gebürstet, dachte Brügger, doch ihre Lider verrieten die Jahre. Dünn und durchscheinend, wie altes Bütten, lagen sie über den Augen.
Die Wimpern, schon immer zu kurz für seinen Geschmack, waren nicht getuscht und von unregelmäßiger Länge. Er fand, dass sie sich einfach nicht so zeigen sollte. Unter einer leichten Sonnenbräune schimmerte der blasse Hautton durch, der ihn flüchtig an ihre elfenbeinfarbene Schönheit erinnerte. Wie alle Naturblonden hatte Marion Sommersprossen. Winzige Sprenkel, die tanzten, wenn sie die Nase kräuselte, und die er verliebt gezählt hatte. Wie viele Male, mit wie vielen Ergebnissen?
Brügger beugte sich vorsichtig vor, doch er sah nur die grobporige Haut der Nasenflügel und scharfe Falten am oberen Rand des Jochbeins, gemeißelt in die papierdünne Haut.
Der Anblick ihres Ohrläppchens erschreckte ihn regelrecht. Waren die schweren Ohrgehänge Schuld daran, dass es wie ein ausgewrungener Lappen aussah, der von einem langen, senkrechten Riss zerteilt wurde?
Brügger richtete sich auf und taxierte unwillig ihren Kopf. Die spröden, strichdünnen Lippen, der Ansatz grauer Haare in ihrer strähnigen Frisur. Sein Widerwille wuchs, als sein Blick über ihren Körper wanderte
Warum, verdammt noch mal, war sie so hässlich geworden? Gab sie nicht Unmengen für Kosmetik aus? Weshalb hortete sie zahllose Tuben und Tiegel in ihrem Bad, ging zur Gymnastik und in die Sauna, wenn ihre Brüste wie fleckige, überreife Birnen an ihr hingen?
Brügger fühlte, wie die Wut ihn packte. Er hätte sie gerne geschlagen, ihre stumpfe, hügelige Brustwarze gepackt und daran gerissen, bis die Streifen auf ihrer Haut lang wären wie Mauerrisse.
Wofür zum Teufel, schuftete er sich ab, tagein tagaus, wenn sie ihm nichts zu bieten hatte als diesen Anblick?
Ihr Bauch war immer noch flach, doch die Haut um den Nabel körnig und grau. Dieser Körper erinnerte ihn an den groben Sand der Nordseestrände, und mit Verwunderung stellte er fest, dass nicht ein Funken Barmherzigkeit in ihm glomm.
Dabei war sie nur zwei Monate jünger als er. Sie war achtundfünfzig, genau wie er!
Brügger schüttelte den Kopf. Egal, sie war eine Frau, ein Luxusweibchen, verwöhnt, ohne Kreditkartenlimit. Ein einziges Kind hatte sie großgezogen, mit Köchin und Kinderfrau, ihr Nachtschlaf wurde nie gestört, ihr Bad war eingelassen, wenn sie aufstand, und dennoch erlaubte sie sich, ihm den Anblick einer verfallenden Ruine zu bieten!
Der Raum war kühl und schattig, doch Brügger lief der Schweiß in Strömen über Gesicht und Nacken, rann seinen Rücken hinunter. Eigentlich ist es zu kühl hier, um nackt dazuliegen, dachte er. Vielleicht sähe Marion in der Sonne wieder besser aus, straffer und rosiger.
Er zerrte an den oberen Hemdknöpfen, seine Hände zitterten unkontrolliert. Mein Gott, er brauchte dringend einen Schnaps, oder Cognac, irgendwas Hochprozentiges.
Sein Blick wanderte abwärts und er starrte auf ihren Schamhügel.
Wo waren die blonden Locken, der dichte Busch, in den er sein Gesicht geschmiegt hatte?
Sein Gehirn schickte ihm die Erinnerung an den schweren, süßen Duft, die glitzernden Tröpfchen der Verheißung, wenn seine Zunge abwärts wanderte.
Sein Zorn machte das Atmen schwer, er trat von einem Bein auf das andere, fuhr sich mit der Hand über den feuchtklebenden Nacken.
Die wenigen, angegrauten Flusen hatten nichts mehr mit der schimmernden Verlockung seiner Erinnerung zu tun. Was er anblickte, sah ebenso erbärmlich aus wie ein gerupftes Huhn. Und wieso lag ihre gekrümmte Hand mit dem glänzenden Ehering auf dem Hüftkamm, wie ein Wegweiser zu der ausgetrockneten Grotte? Wollte sie ihn daran erinnern, dass er ihr Mann war, forderte sie sein Bekenntnis ein?
Hinter Brüggers Schläfe hämmerte der Schmerz. Er fühlte sich elend, wütend und hilflos. Es wäre eine Erleichterung, anders empfinden zu können. Er suchte nach wärmeren Regungen, beschwor Bilder ihrer wilden, stürmischen Zeit herauf. Doch sie wurden nicht lebendig, es war, als kramte er in einer verstaubten Fotokiste.
Außer Verbitterung empfand er nichts, als plötzlich ein neues Bild in seinem Kopf auftauchte.
Er sah sich im Hotelzimmer in Peking, schon völlig nackt, als die junge Chinesin eintrat. Seit er älter wurde, gelang es ihm nicht mehr, sich seiner Kleidung so schwungvoll zu entledigen, dass es sexy wirkte. Zu peinlich waren ihm die Verhedderungen in Hosenbeine und hängen gebliebene Socken, wenn sein Rücken am Ende eines Verhandlungstages steif vom stundenlangen Sitzen war. Die kleine Sunny war höchstens Anfang Zwanzig, und er saß mit eingezogenem Bauch auf dem Bett, als sie ihr dünnes Seidenkleid über den Kopf streifte, unter dem sie nichts als einen winzigen String trug. Brügger erinnerte sich deutlich an seinen verstohlenen Blick auf seinen Schwanz, der sich noch nicht regte, und so stürzte er sich aus lauter Verlegenheit auf die festen, kleinen Brüste und begann wild an der halbweichen Warze zu saugen, während er mechanisch die andere Brust knetete.
Was hatte Sunny gesehen?
Seinen verschwitzten Schädel mit der kahlen Stelle in der Mitte. Einen Vaterschädel, einen Großvaterkopf. Und später, als er seine Hand in ihr schwarzes Haar krallte, ihren zarten Kopf an sich presste, was hatte sie da gesehen?
Wahrscheinlich waren ihre Augen geschlossen, damit sie beim Saugen an seinem Schwanz den Speckhügel über seiner Scham nicht sehen musste, und nicht die stacheligen schwarzgrauen Haare auf einem gewölbten Bauch, den er nicht länger einziehen konnte.
Wusste sie, dass seine Zehen sich vor Anspannung krümmten, weil er Angst hatte, nicht spritzen zu können? Als sie ihn, auf dem Rücken liegend, fast mit ihren Beinen erdrosselte, wusste sie von seiner Panik, dass sein Schwanz in ihr erschlaffen könnte, trotz der blauen Pille? Was würde aus ihrer höflichen Gefälligkeit, wenn sie später mit anderen Edelnutten in der Hotellobby saß? Sie konnten sich mehrsprachig über die alternden, geilen Böcke aus der westlichen Industriewelt lustig machen.
Brügger fühlte Übelkeit aufsteigen. Sein Würgen klang wie ein trockenes Schluchzen.
Hinter ihm räusperte sich jemand. Er fuhr erschreckt herum.
Der ältere Mann mit dem dicken Notizkalender sah ihm ins Gesicht.
„Ist die Tote Ihre Frau, Herr Brügger?“
Er nickte, und als er ins Schwanken geriet, griff der Kommissar nach seinem Ellbogen.
„Wie hat sie es gemacht?“, flüsterte Brügger.
„Wir haben drei leere Röhrchen von starken Schlaftabletten gefunden. Sie war allein im Haus, es gibt keinen Anhalt für irgendeine Form der Fremdeinwirkung. Die Putzfrau hat uns alarmiert, als ihr niemand öffnete.“
Der nüchterne Ton beruhigte Brügger. „Können Sie sie zudecken, bitte?“
Aus dem Hintergrund tauchte ein Mann in grüner OP-Kleidung auf und zog ein dünnes, weißes Tuch von den Füssen hoch bis über Marions Kopf.
So war es besser. „Kann ich jetzt gehen?“
Der Kommissar nickte. „Selbstverständlich. Wir danken Ihnen, dass Sie sofort hierher gekommen sind. Soll der Kollege Sie nach Hause fahren?“
Das Auto wartete vor dem Institut für Rechtsmedizin. Die Türen wegen der brütenden Hitze weit geöffnet, stand es in der glühenden Sonne. Der junge Fahrer lehnte dösend an der Kühlerhaube, die Dienstmütze tief ins Gesicht gezogen. Dieses Mal sprach er kein Wort, sah Brügger nur kurz ins Gesicht und lenkte den Wagen in Richtung seiner Adresse. Er musste sie kennen.
Brügger saß im Fond und versuchte mit aller Anstrengung, den aufkommenden Gedanken zu unterdrücken, doch sein Bemühen war vergeblich: Marions Beerdigung durfte nicht am kommenden Donnerstag sein, denn da war Vorstandssitzung.