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Heike
Leise öffne ich die Haustür, kontrolliere den Briefkasten: ein Schreiben meiner Bank, eine Rechnung, mehrere Werbesendungen. Müde steige ich die Treppen hinauf bis zu meiner Wohnung im vierten Stock.
Im Dunkel des Flurs sehe ich das rote Lämpchen des Anrufbeantworters blinken. Vier Nachrichten, eindeutig zu viele nach einem lästigen Betriebsausflug. Aber was, wenn die attraktive Kollegin aus der Fertigung versucht hat, mich zu erreichen? Ich spiele die Nachrichten ab, eine blecherne Frauenstimme hebt in zusammengestückelten Silben an:
Freitag siebzehn Uhr und zwei-und-zwanzig Minuten ... (Piep)
Ich hasse es, wenn Leute nichts auf den Apparat sprechen.
Freitag achtzehn Uhr und drei-und-fünfzig Minuten ... (Piep)
Freitag zwanzig Uhr und sieben Minuten ... (Piep)
Freitag zwei-und-zwanzig Uhr und acht-und-vierzig Minuten
Jan, hier Heike... Es ist meine Schwester. Ruf mich doch einmal an, wenn du zu Hause bist, ja? Ich werde unruhig, irgendetwas in ihrer Stimme klingt merkwürdig. ... Oder morgen dann ... ... (Piep)
Verwirrt schalte ich das Licht im Flur ein. Ob etwas mit unseren Eltern ist? Aber ich habe doch erst neulich mit den beiden telefoniert, es schien ihnen sehr gut zu gehen. In meinem Notizbuch finde ich Heikes Nummer und wähle mit leicht zitternden Fingern Vorwahl und Rufnummer. Heike nimmt nach dem zweiten Klingeln ab.
„Ja?“
„Heike?“ frage ich.
„Jan, hallo. Wie geht es dir? Schön, daß du zurückrufst.“
Die Beiläufigkeit, mit der sie spricht, läßt mich noch unruhiger werden.
„Ganz gut; wir hatten heute Betriebsausflug, war ziemlich anstrengend.“
„Ach so, dann bist du vermutlich müde.“
„Schon, aber egal: Wie geht es dir?“
Heike schweigt einen Moment, sagt dann: „Nicht so gut.“
„Oh.“
In der darauffolgenden Stille bekomme ich plötzlich Angst, sie könnte eine tödliche Krankheit haben. Krebs vielleicht. Oder Aids.
„Tilmann und ich werden uns scheiden lassen“, preßt Heike heraus und beginnt zu weinen.
Mit einem schuldigen Gefühl stelle ich fest, daß ich erleichtert bin und denke: Zum Glück geht es ihr gut. Als ob das der Fall wäre.
„Oh“, beginne ich hilflos, „seit wann... habt ihr das heute...“
Ich weiß nicht mehr weiter, die Nachricht trifft mich unerwartet. Man läßt sich doch nicht von heute auf morgen scheiden, oder? Am liebsten würde ich ihr sagen, daß ich Tilmann schon immer für einen Idioten gehalten habe.
Mit brechender Stimme fährt Heike fort:
„Du bist vermutlich gerade zu müde.“
„Nein, auf gar keinen Fall.“
„Ich mag dich aber jetzt nicht vollheulen, ich wollt’ es dir nur sagen.“
„Du störst mich überhaupt nicht, ehrlich nicht.“
Was für ein idiotischer Satz. Schnell schiebe ich hinterher: „Bitte, nein, wir können die ganze Nacht telefonieren, oder einfach nur stumm am Hörer sitzen, ganz egal.“
„Danke, Jan, das ist nett von dir.“
„Ach was, ist doch klar.“
In der Hoffnung, doch noch irgendetwas richtiggemacht zu haben, lehne ich mich an die Wand und lausche angestrengt in den Hörer. Zunächst höre ich nur etwas, das entfernt an Schluchzen erinnert. Dann ein Schneuzen, endlich ist es still.
Als nach einer Weile immer noch nichts geschehen ist, beginne ich fieberhaft zu überlegen, was ich sagen könnte. Tilmann war schon immer ein Idiot, will ich sagen, nein. Was hat Tilmann denn gemacht, auch falsch. Wie ist es denn dazu gekommen, auch das klingt unbeholfen.
„Bist du noch da?“ fragt Heike.
„Ja, sicher“, sage ich schnell.
„Wenn du nicht mehr magst, dann kann ich...“
„Jetzt hör mal, natürlich bin ich da, ich lasse doch meine kleine Schwester nicht im Stich.“
Aua. Das ging ja völlig daneben. Krampfhaft überlege ich, wie ich den Satz noch umbiegen könnte.
„Das tut gut“, sagt Heike und atmet tief ein und wieder aus, „ich bin so froh, daß ich mit dir reden kann.“
Erleichtert und durch den unerwarteten Erfolg meiner plumpen Worte ermutigt setze ich fort: „Na komm, erzähl doch mal alles von vorne.“
Unsicher warte ich auf eine Reaktion, Heike schweigt einen Moment, dann antwortet sie: „Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll.“
„Fang doch mal mit heute an“, schlage ich vor, hatte sie überhaupt etwas von heute gesagt?
„Heute... Ja, heute...“, beginnt sie, „Tilmann kam schon mittags nach Hause, wollte reden.“
Dieser Volldepp. Der soll mir ja nicht über den Weg laufen.
„Und wieso warst du schon zu Hause?“ will ich wissen. Arbeiten sie nicht im selben Büro?
„Ich habe mir den Tag freigenommen... Momentan sieht es mit den Aufträgen nicht so gut aus“, erklärt Heike, „nächste Woche wollten wir auch in Urlaub fahren. Natürlich nur für ein paar Tage. Wir müssen ja Geld sparen.“
Ich bin verwirrt. Geld sparen? Ein kinderloses Architektenpaar, das Geld sparen muß?
„Er kam also nach Hause und sagte, er will jetzt wissen, wie es weitergeht.“
„Weitergeht?“
„Na ja, ob wir uns endlich selbständig machen...“
Selbständig machen! Natürlich, das eigene Büro!
“...und ob wir jetzt endlich Kinder haben wollen.“
Wollte sie das nicht immer? Vorsichtig frage ich: „Und du wolltest keine Kinder?“
„Doch, auf jeden Fall. Aber doch nicht, während wir unser eigenes Büro hochziehen! Da werden wir doch keine Zeit für Kinder haben!“
„Verstehe“, hauche ich und komme mir unglaublich dumm vor.
„Wir haben diesen Streit schon die ganze Zeit. Tilmann sagt, das wird schon, ich hätte nur Angst vor der Verantwortung.“
„In der Hoffnung natürlich, daß du dich ganz auf die Kinder konzentrieren würdest, alles klar.“
„Nein, nein, das meint er nicht.“
„Nicht?“ frage ich, etwas zu spöttisch.
„Nein, gar nicht. Mir den Haushalt überlassen? Nie im Leben, du solltest mal sehen, wie das hier aussieht, wenn er die Wohnung geputzt hat. Da findest du nirgends mehr auch nur eine Staubfluse.“
Ich erinnere mich. Tilmann, die Ein-Mann-Putzkolonne, hatte meine Schwester gescherzt, als ich die beiden das letzte Mal besuchen war. Und hatte nicht auch er dieses sagenhafte Essen gekocht?
„Gut“, beginne ich, „und wie ging es dann weiter?“
„Wie immer. Wir haben unsere Argumente ausgetauscht.“
„Wie lange geht das nun schon so?“ frage ich.
„Bestimmt schon ein halbes Jahr... Nein, eigentlich seit wir geheiratet haben.“
Ich wühle in meinem Kopf, wie lange das her sein mag. Zwei Jahre? Die beiden hatten nur standesamtlich geheiratet, sehr zur Enttäuschung unserer Mutter. Sie hätte so gerne dieses ganz Brimborium erlebt, Kirche und Verwandtschaft, sie mochte Tilman doch so sehr. Ihn, den Dynamischen, mit seinen Bessere-Familie-Manieren.
„Und dann?“ hake ich nach.
„Ja, und dann... Plötzlich sagte er, er wisse gar nicht mehr, ob das überhaupt noch einen Sinn habe. Sagte das einfach.“
„Oh.“
„Und das Schlimme daran war, daß ich es vollkommen nachvollziehen konnte.“
„Weshalb?“
„Irgendwie war es in Ordnung, weißt du? Als er es gesagt hatte, war ich schockiert, aber dann habe ich überlegt, ob es nicht vielleicht besser sein könnte, wenn wir...“
„Und dann habt ihr beschlossen...?“
„Ja“, antwortet Heike mit erstickter Stimme.
Moment. Noch einmal von vorne. Sie wollen sich trennen und Heike ist damit einverstanden? Weshalb ist sie dann so aufgelöst? Habe ich irgendetwas verpaßt?
„Hmm“, sage ich, Heike schweigt. Irgendwann frage ich: „Und jetzt?“
„Ich weiß nicht. Wird wohl irgendwie weitergehen. Muß ja.“
Ich sage nichts. Ich würde sie gerne umarmen.
„Magst du vorbeikommen?“ frage ich.
„Wann?“
„Ganz egal, wenn du willst, heute nacht noch. Für ein paar Tage vielleicht?“
Aus irgendeinem Grund ist mir klar, daß sie nicht kommen wird.
„Klingt schön... Vielleicht, heute nicht mehr, aber ich werde es mir überlegen.“
„Ich würde mich wirklich freuen“, füge ich noch hinzu.
„Vielen Dank, Jan, das tut gut... Es war überhaupt schön, mit dir zu sprechen.“
„Ach, war doch nichts...“, stammle ich.
„Ich werde jetzt mal zu Bett gehen“, sagt Heike.
„Alles in Ordnung so weit?“
„Jaja, wird schon.“
„Du kannst jederzeit wieder anrufen, auch heute nacht noch, das weißt du doch, oder?“
„Ja, weiß ich. Vielen Dank für alles.“
„Kein Problem, wirklich.“
„Mach’s gut.“
„Du auch.“
Heike legt auf. Ich halte den Hörer noch einen Moment am Ohr, verwirrt. Ein dummes Gefühl von Schuld stellt sich ein. Ich versuche, ihm auf den Grund zu gehen, bis es mir endlich gelingt, gar nichts mehr zu denken.