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Heimat
Für Svetlana
Dort, wo der Himmel noch Sterne hat, der Mond noch eine Bedeutung trägt und der Wind noch pfeift, wo er es für richtig hält, dort ist meine Heimat. Lange Zeit pflegte ich zu sagen dort war meine Heimat, aber ich habe festgestellt, dass es so nicht korrekt ist, denn eine Heimat ist ewig. Und der Ausgangspunkt für alles Weitere. Ich möchte hier und jetzt keine geografische Lage skizzieren oder beschreiben; als Faktum reicht alleine die Tatsache, es ist meine Heimat.
Die Farben, es fängt für mich mit den Farben an, die hier ganz anders sind, als an besagtem Ort. Hier sind sie organisiert, mit einer Absicht angewandt.
Ja, sie sind angewandt; an Werbetafeln, die eine Innenstadt einnehmen, sind sie angewandt; mit ihnen soll etwas bezweckt werden, zu etwas überredet werden, hinterlistig suggeriert werden, das habe ich schon, wenn auch nicht in diesen Worten, in der Schule gelernt.
In der Heimat sind die Farben nicht zweckentfremdet, nicht benutzt worden. Dort sind sie noch so, wie sie vom Himmel geworfen wurden, und verfolgen den einzigen Zweck zu erhellen.
Auch gibt es noch einen Himmel, einen Sternenhimmel. In Städten sieht man den Himmel nicht, nur ein industrielles Schwarz, das wie Teufelshand über den Bauten liegt. Wenn ich zu Hause bin, und gehe spazieren, dann schaue ich oft in den Himmel, betrachte die Sterne, sehe sie zappeln, und manchmal nenne ich es tanzen. Hier starre ich nicht in den Himmel; im Allgemeinen ist der Blick der Menschen in Städten tiefer, gesenkter, sie und auch ich verfolgen den Boden, der an uns vorbeizieht.
Wenn in der Heimat die Sonne den Horizont verlässt und das Licht des Mondes das Firmament einnimmt, dann wird es plötzlich ruhiger, gelassener, und jedes Wesen scheint einen Platz zum Gelassensein gefunden zu haben. Hier, in der Stadt, ist kein Moment des Umbruchs, keine Teilung des Tages zu erkennen, wahrzunehmen; vielmehr wird es nicht bemerkt, nicht registriert, so habe ich zumindest das Gefühl.
Vor mir ein Kieselsteinweg, er ist übersäht mit Schleifspuren von Kinderwagen und Pärchenschritten, vom Tagesgeschehen, dann folgt, ich kann ihn in der Dunkelheit nicht bis zum anderen Ufer überblicken, ein gestorbener Teich, umgekippt, eine einsame kleine Ente ackert sich durch dunkelgrünen Schlick, und aus dem ein Fahrrad, dessen Vorderrad sich zu jedem Windstoß dreht, herausragt.
Alles schwach beleuchtet durch eine etwas abseits stehende Laterne, die ihr Licht müde in den nächtlichen Park spuckt.
Ich strecke einen Arm über die Lehne der Parkband; das Eichenholz ist kalt und schon etwas feucht, die Nacht ist spät, der Morgen früh.
Meine schwarze Leinenhose zieht in eine Richtung mit dem Wind, die Herbstbäume hinter mir bewerfen mich mit ihren Blättern, als säßen wir im Kino und sie würfen mit Popkorn. Ich höre sie kichern.
In solchen Momenten denke ich immer an Svetlana. In solchen Momenten muss ich immer an Svetlana denken, sagt man. Svetlana sitzt in den Vorlesungen neben mir; ich finde sie immer, unter den Milliarden von Zuhörern – Kommilitonen kann ich sie nennen, wenn ich mag – wieder, vielleicht finden wir uns auch wieder, das kann schon sein. Sie schmiegt sich immer an mich, mit dem Oberschenkel und dem Arm und dem Gemüt, manchmal streichelt sie meine Hand.
Svetlana trägt Heimatfarben, das ist mir schon am ersten Tag aufgefallen. Hier würde niemand solche Farben tragen. Das beißt sich, wird zu solchen Farbkombinationen gesagt.
Auch merkte ich früh ihre sympathische Desorientierung, die mich noch immer überkommt. Oft beobachte ich sie, wie sie durch die Gänge irrt. Es kommt gelegentlich vor, dass wir in den Laufweg eines Einheimischen geraten, der nicht willig ist, diesem auch nur abzuweichen, da er wie von einer Leine gezogen, wie auf Schienen arretiert, den Blick abwärts, schnell und zielstrebig, städtisch möchte ich es nennen, dahereilt.
Gestern habe ich sie geküsst, die Svetlana, und habe zu meiner eigenen Verwunderung, und leider, nicht sehr viel empfunden. Nichts Sexuelles, kein Verlangen nach mehr, nach Schweinereien, sondern lediglich ein Gefühl von Zufriedenheit.
Und heute, deswegen verfasste ich auch diesen Text, habe ich gemerkt, auch wenn es noch eine Vermutung ist, dass es genau dieses Gefühl von Zufriedenheit ist, welches mir die abenteuerliche Stadt noch nicht bieten konnte.
Es gibt und gab hier Frauen, die ich begehre und begehrt habe, doch sie haben mich hinter sich gelassen, mich vergessen wie schon so viele andere vor mir. Stets empfand ich in den Augen dieser Frauen etwas Komisches, etwas so Komisches, dass ich nicht in der Lage bin, es anders zu formulieren. Es ist wieder diese Gelassenheit, die ich vermisst habe, wenn ich in ihre Augen gesehen habe, oder besser: die Sehnsucht, die mich ständig übermannt. Svetlana hat sie in den Augen.
Aber jetzt, da ich schon in der Stadt gewachsen bin, mir schon einige Male den Kopf gestoßen habe, mich an das Leben hier gewöhnt habe, schon fast meinen täglichen Weg wie auf Schienen laufe, mich eingelebt habe, sagt man ja, da verstehe ich es, den Blick ohne das Verlangen nach Sicherheit, nach dieser Gelassenheit.
Jetzt ist es umgedreht, jetzt bin ich derjenige, der ein Herz brechen wird. Denn auch wenn ich das Gefühl der Heimat, das Gefühl von Zufriedenheit und Sicherheit an Svetlana so mag, vielleicht sogar so liebe, dann ist es doch genau dieses Gefühl, welches ich hinter mir lassen wollte, hinter mir lassen musste, um weiterzukommen, der Entwicklung halber.
Ich werde mit ihr schlafen, das steht fest, und ich sehe sie schon weinen, so wie ich geweint habe, jedes Mal, jede Nacht, wenn sie sich als eine Einzige entpuppte, wenn meine Geliebten wieder in der Stadtmeute verschwanden, jedes Mal, wenn ich nicht mehr war als ein geplanter Fick, der jeder hätte sein können, der zu der Zeit an dem Ort, in der Kneipe, betrunken und leicht zu haben, sehnsüchtig und gut gelaunt, gewesen wäre.
So wie mein Herz benutzt wurde, so werde ich ihr Herz benutzen. Ich werde sie in meinem Terminkalender eintragen, mich nicht melden, wenn ich es versprochen habe, müde und schlecht gelaunt zu Besuch kommen; es ist hier so üblich, es ist hier so Sitte, wird gesagt, werde ich sagen.
Die Heimat ist verbrannt, Svetlana, liegt verlassen in Schutt und Asche, werde ich sagen, und sie wird lange brauchen, um es zu verstehen.