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Heimfahrt

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18.01.2022
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Heimfahrt

Seit drei Stunden fährt er durch die Nacht. Mitten im Herbst. Vorher hat er seine Tochter Sarah angerufen, die zur Zeit für ein Auslandsjahr in New York ist.
„Jetzt in dieser Jahreszeit? Bist du verrückt?“, hat sie gefragt.

Seit er am frühen Abend losfuhr, wird es immer kälter. In seinem alten Citroën Xantia funktioniert die Heizung nicht mehr. Zum Glück hat er seine dicke Strickjacke an, die Uschi schon für die Altkleidersammlung aussortiert hatte. Uschi, die ihn wieder und wieder gebeten hat, wegen der Heizung mal in die Werkstatt zu fahren. Uschi, die tot ist.

In der linken Tasche weiß er seine Medikamentendose. Alles unter Kontrolle.
Er fährt gemütlich ganz rechts. Ab und zu überholt ihn ein hupender LKW. Das ist ihm egal. Sein Auto ist in die Jahre gekommen, so wie er selbst. Wir beide passen prima zusammen, bald gehst auch du in Rente. Und tätschelt sanft das vertraute alte Lenkrad.
Vor ihm taucht das Hinweisschild zur nächsten Raststätte auf: Fünf Kilometer. Wie früher. „Du musst jetzt mal da rausfahren“, hört er Uschis Stimme. Das wurde zum Ritual und sie legten jedes Mal hier eine Pause ein. Ihre Tochter Sarah war auf dem Rücksitz immer längst eingeschlafen.
Er setzt den Blinker, hält auf dem Parkplatz. Dringend muss er jetzt erst einmal aufs Örtchen. Die siebzig Cent hat er griffbereit, in seinem Alter kennt man sich mit öffentlichen Toiletten aus. Früher hat er über diese Wucherpreise geschimpft. Die nutzen die Not der Prostatageplagten schamlos aus, hatte er zu Uschi gesagt.
„Fahren Sie Richtung Meer?“
New York Yankees Cap, der Schirm im Nacken. So steht sie vor ihm. In diesen modern kaputten Jeans. Und dem Schriftzug Life is it auf dem T-Shirt. Dazu das Lächeln eines verdammt hübschen Teenies. Sie ist so alt wie Sarah, schätzt er.
„Nicht nur das!“, sagt er. Sie schaut ihn fragend an.
„Ich fahre direkt dorthin. Ans Meer. Nach Dieplitz.“ Sie lächelt.
„Können Sie mich mitnehmen?“ Klar, denkt er und zuckt dabei mit den Achseln.
„Können Sie?“, fragt sie noch einmal.
„Klar!“
„Super!“, sagt sie, schultert ihren Deuter- Rucksack und folgt ihm.
„Ich muss noch ein paar Kleinigkeiten für die Nacht einkaufen“, meint er und nimmt sie mit in den Tankstellenladen.
Hier haben sie sich immer mit Proviant eingedeckt. Schokolade für Uschi und Weingummi für ihn. Dazu zwei Flaschen Wasser. Das hat gereicht bis ans Ziel, wo sie sich am Morgen in einem Café ein gutes Frühstück gegönnt haben.
„Brauchen Sie auch was?“, fragt er an der Kasse, mit seinem Weingummitütchen und den Wasserflaschen in den Händen. Sie schaut ihn an und nickt.
„Na dann“, sagt er.
Sie holt einen Müsliriegel aus dem Regal. Er legt noch eins dazu aufs Kassenband.
„Danke“, sagt sie auf dem Rückweg zum Auto.

Es beginnt zu regnen und er schaltet die Scheibenwischer ein.
„Ein toller Wagen“, meint sie.
„Die Heizung spinnt!“, erklärt er.
„Wie lange haben sie den schon?“
Er hat sich immer wieder umgeschaut nach einem neuen Auto und Angebote eingeholt. „Was wird damit besser?“, hat Uschi gefragt. Jetzt ist er froh, diesen Xantia zu haben.
„Nicht lange genug“, meint er. Sie schaut ihn von der Seite an.
Der Scheibenwischer wischt jetzt ununterbrochen und wechselt immer wieder seinen Rhythmus. Sie beißt in ihren ersten Müsliriegel.
„Wie heißen Sie eigentlich?“, fragt er. Warum hat er bisher nicht danach gefragt?
„Lea. Und sagen Sie Du.“
„Lea? Schöner Name“, sagt er. „Ich bin Harald. Dann duzt du mich aber auch.“
„Willst du den?“, fragt sie und hält ihm den zweiten Riegel hin.
„Nein, ich mag die Dinger nicht.“
Er stellt das Radio an. Johnny Cash, Ring of Fire.
„Magst du einen anderen Sender?“, fragt er.
„Lass doch. Mein Vater hat Johnny Cash geliebt. Gar nicht so übel. Geile Stimme.“
„Hat geliebt? Lebt dein Vater nicht mehr?“
„Meine Eltern sind schon seit vier Jahren tot. Sie hatten einen Autounfall.“
Vorne leuchten Bremslichter auf.
„Sieht nach Stau aus. Bestimmt ein Unfall. Die fahren aber auch alle wie die Idioten bei dem Regen.“
Er greift zur Gummibärchentüte und nimmt eine Handvoll Bärchen. Uschi hat genau das immer aufgeregt. „Man muss jedes Bärchen einzeln genießen“, hat sie erklärt. Sie hätte doch nur Angst, zu kurz zu kommen, meinte er dann lachend.

Er erinnert sich nicht, jemals hier im Stau gestanden zu haben.
Es geht nichts mehr. Sie stehen. Mit Leaving on a Jet Plane von John Denver.
„Ist der nicht abgestürzt?“, fragt sie.
„Wer?“
„Na, John Denver?“
„Ja, stimmt. Du kennst dich ja gut aus.“ Sie schaut aus dem Fenster, auf all die Autos vor ihnen, aber in Gedanken ist sie bestimmt woanders.
„Wo willst du eigentlich genau hin?“, fragt er.
„Hab ich doch schon gesagt. Ans Meer.“
„Wir fahren nach Dieplitz.“
„Da ist doch Meer, oder?“
„Klar ist da Meer. Jede Menge.“
Dann fahren die Autos vor ihnen wieder an. Und sie schläft ein.
Es hat aufgehört zu regnen. Am Himmel sind sogar ein paar Sterne zu erkennen.

„Wo sind wir?“, hört er sie aus dem Nichts.
Die Sonne ist schon aufgegangen. Keine Spur mehr vom Regen der letzten Nacht. Der Himmel wolkenlos.
Und endlich das Ortsschild: Dieplitz! Der Moment, an dem sich Uschi immer an ihn geschmiegt hat. „Schatz, sind wir wirklich da?“
„Sind wir wirklich schon da?“, fragt Lea. „Dann habe ich ja fast die ganze Fahrt verpennt?“

Dieplitz war für sie ein Zufall. Sie verbrachten damals ihre Sommerurlaube regelmäßig in einer kleinen Familienpension in Schönhagen, nicht weit von Dieplitz. Sarah ging noch zur Schule, pubertierte aber schon und war gegen jede Form von Familienurlaub eingestellt. Dann entdeckten sie auf einer ihrer häufigen Ausflüge durchs Land dieses Haus mit dem riesigen Schild. Zu Verkaufen. Uschi und er warfen sich nur einen Blick zu und wussten: Wenn die Tochter, die soeben von der Rückbank ihr Willkommen am Arsch der Welt kundtat, einmal ihren eigenen Weg geht, dann ist das unser Ort. Und unser Haus. Der kleine Lebensmittelladen, dazu ein Metzger, ein Bäcker, die Pension mit Restaurant und ein paar Kneipen: Dieses dörfliche Umfeld war ihr Ziel für ihren kommenden Lebensabschnitt zu zweit. Der recht günstige Preis für das Haus überzeugte sie dann endgültig, den Kaufvertrag noch vor Ende des Urlaubs zu unterschreiben. Das Murren von Sarah lächelten sie in ihrem Glück weg.

„Ziemlich kleines Kaff, oder?“ Einen Moment lang glaubt er an ein Deja vu. Aber neben ihr sitzt Lea und Sarah ist in ihrem Auslandsjahr in New York.
Beim Bäcker Hinz hält er an.
„Um die Ecke ist bestimmt der Metzger Kunz“, meint sie, als er mit ein paar belegten Brötchen zurückkommt.
Er sagt nichts und fährt weiter.
Lea betritt das kleine Haus mit seinen vier Zimmerchen und einer Terrasse zum Meer. Ihr entfährt ihr ein wow.
„Das hat Uschi auch gesagt, als wir das erste Mal hier standen.“
„Uschi?“, fragt sie.
Statt zu antworten, deckt er auf der herbstsommerlichen Terrasse den Tisch mit Kaffeetassen und den belegten Brötchen. Sie folgt ihm.
„Wer ist Uschi?“, fragt sie beharrlich und schüttet sich vier Löffel Zucker in den Kaffee.
„Du magst es aber süß“, meint er. Sie fixiert ihn mit sturem Blick.
„Meine Frau“, sagt er, „aber lass uns später darüber reden.“
Sie nickt und nimmt sich einem Käsebrötchen.

Nach dem Frühstück schlägt er einen Gang zum Strand vor. Die Herbstsonne bringt noch einmal etwas Wärme mit sich.
„Cool!“, meint sich, „ich zieh mir nur eben was Anderes an.“
Er hat Zweifel, dass sie viel Kleidung in ihrem mittelgroßen Rucksack dabei hat. Doch eine weitere dieser modern löchrigen Jeans hat sie gefunden, die Sarah ebenfalls so gerne trägt. Verstanden hat er bis heute nicht, wie man für solch kaputte Hosen Geld bezahlt. Auf ihrem weißen T-Shirt steht über ihrem Busen geschrieben: To whom it may concern. Originell, denkt er.
„Es ist so schön hier!“, sind ihre ersten Worte, nachdem sie minutenlang wortlos durch den feinen Sand gegangen sind.
Die Wellen laufen heute sanft am Strand aus.

Sie sitzen nebeneinander im Sand und schauen auf den fernen Horizont.
„Geht es dahinten weiter?“, fragt sie.
„Wer weiß das?“, meint er.
„Uschi?“, sagt sie.
„Vielleicht.“ Er ahnt ihren Blick.
„Sie ist vor einem Jahr gestorben. Als man ihren Krebs entdeckte, war es schon zu spät. Vielleicht ein halbes Jahr, hatten die Ärzte gesagt. Am Ende waren es nur noch zwei Monate.“
Harmonisch auslaufende Wellen, aber erste Wolken am Himmel.
Eine junge Frau, die plötzlich weint.
„Scheiße!“, sagt sie.

Dann nimmt er sie mit in ihr Stammrestaurant. Es ist Mittag und er hat diesen ErstenTagAmMeerHunger. So wie früher.
„Die gebratene Scholle mit Kartoffelsalat ist gut.“ Er hasst Fisch, aber Uschi hat das ganze Jahr über von dieser Scholle geträumt. Und so war ihr erstes Ziel nach Ankunft immer das Restaurant. Dann saßen sie auf der Terrasse und schauten aufs Meer.
„Coole Location hier“, meint Lea und schaut auf die endlose See. Ihm fehlt die sommerliche Wärme aus der Erinnerung.
Sie bestellt eine Cola. Zero. Und die Scholle mit Kartoffelsalat. Er nimmt ebenfalls den Kartoffelsalat, aber mit Bockwurst. So wie immer.
„Was hast du jetzt eigentlich weiter vor?“, meint er und weiß schon lange, dass die Frage für beide überfällig ist.
„Ganz ehrlich?“
„Klar.“
„Keine Ahnung!“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Wie die kleine schüchterne Sarah.
Der Kellner bringt die Scholle und erklärt entschuldigend, dass die Bockwurst aus ist. Also wird es für ihn heute die Frikadelle.
„Es ist doch nicht alles so wie früher“, meint er. Sie schaut ihn an.
„Kann ich vielleicht eine Nacht bei dir bleiben?“
„Null problemo!“, sagt er und merkt sofort, wie gestern das ist.
„Schmeckt mega!“, meint sie und macht sich über die Scholle her.

Am Horizont brauen sich mittlerweile immer mehr dunkle Wolken zusammen, und der Wind hat aufgefrischt.
„Wir sollten uns sputen, wenn wir nicht pudelnass werden wollen“, meint er.
„Wie ich dieses Wetter hier liebe!“ Sie reißt die Arme hoch und lacht.
Er bedauert, keinen Schirm mitgenommen zu haben.
Um diese Jahreszeit waren sie selten hier. An das Schietwetter können wir uns noch gewöhnen, wenn wir mal fest hier wohnen, hatte Uschi immer gesagt.
Sie kommen an dem kleinen Lebensmittelladen vorbei.
„Wir brauchen noch was zum Abendessen“, sagt er.
Die Ladenbesitzerin ist sicher schon über achtzig, doch sie erkennt ihn. Einen Moment zögert sie und mustert Lea. Vielleicht meint sie, dass es Sarah ist.
Er zahlt, dann holt er noch eine zweite Flasche Rotwein.
„So, jetzt haben wir alles!“, sagt er und lächelt der Verkäuferin zu. Sie schaut nach wie vor irritiert.

Den Nachmittag haben sie beide verschlafen. Er hat ihr angeboten, sich auf das Sofa zu legen. Er gab ihr eine Decke und sie schlief sofort ein.
Er legte sich im Schlafzimmer auf das große Bett, auf seine Seite.
Als er aufwacht, dämmert es draußen. Und Regen prasselt an die Scheiben. Während sie noch tief schläft, macht er den Kamin an. Es ist ungemütlich kühl geworden in der Wohnung.
„Mann, das ist ja mega!“,hört er sie auf einmal hinter sich.
„Hast du Hunger?“
„Ein bisschen“, meint sie. Sie steht auf und folgt ihm in die Küche.
„Sehr viel Proviant ist nicht da“, sagt er und öffnet den Vorratsschrank.
„Lass mich machen, wenn das für dich ok ist.“ Sie greift nach einer Packung Spaghetti und schaut ihn fragend an.
„Ich kann zwar nicht viel kochen, aber meine Nudeln sind spitze.“
Er nickt, lässt sie in der Küche allein und setzt sich ins Wohnzimmer vor den kaputten Fernseher. Als er das letzte Mal mit Uschi hier war, schaltete er sich auf einmal ab, wurde schwarz. Aus! Ohne jede Vorwarnung. In zwei Tagen war die Rückfahrt, so schnell ließ sich da nichts reparieren. Er plante, sich das nächste Mal darum kümmern. Dann ist sie gestorben und den Fernseher hat er vergessen. Und die letzten Male, die er allein hier verbrachte, versank er abends in Erinnerungen und trank seinen Rotwein.

Jetzt hätte er Lust, wieder einmal durch die Programme zu zappen oder Nachrichten aus aller Welt zu schauen.
Aus der Küche der Duft von angebratenen Zwiebeln und Knoblauch.

Dann kommt sie mit zwei Tellern Spaghetti mit Tomatensauce.
„Parmesan habe ich leider nicht gefunden. Aber ich hoffe, es schmeckt trotzdem.“
„Perfekt!“, sagt er.
Dann springt er auf.
„Ich habe den Wein vergessen!“Er eilt in die Küche. Den Korkenzieher hat er schnell gefunden, der war schließlich das Hauptwerkzeug während seiner einsamen letzten Aufenthalte in diesem Haus.
Aus dem Wohnzimmerschrank holt er zwei Gläser.
„Danke, ich nicht!“, meint sie.
„Oh.“
„Darf ich nicht. Wegen der Medikamente.“
„Medikamente?“, fragt er.
„Mir reicht das Wasser!“, sagt sie und zeigt auf die Wasserflasche, die vor ihr auf dem Tisch steht.
Mit dem ersten Schluck Wein kommt Zufriedenheit in ihm auf.
„Warum machst du das?“, fragt er.
„Was?“, meint sie.
„Na, mit mir mitfahren und jetzt hier übernachten? Bei einem wildfremden alten Mann wie mir! Was könnte nicht alles passieren?“
Sie lacht. Laut. Lange hat niemand mehr so laut gelacht in diesem Haus.
„Ich vertraue dir. Auf meine Menschenkenntnis habe ich mich immer verlassen können.“ Und lacht wieder.
„Aha!“ Er schenkt sich neuen Wein ein.
„Nein, im Ernst, was kann ich schon viel verlieren?“
Er nimmt einen Schluck.
„Wie meinst du das?“
„Ich habe nicht mehr viel vor mir“, meint sie und prostet ihm mit ihrem Glas Wasser zu.
Er sagt nichts, schaut sie fragend an.
„Ich habe Krebs und werde nicht mehr lange leben.“
Stille. Er sagt immer noch nichts. Das Weinglas in seiner Hand. Nimmt einen Schluck, Blick zu Lea: Die vor ihm sitzt, die lächelt. Die bald stirbt. Bilder, Erinnerungen!
„Aber warum?“ Und er merkt sofort, dass es eine saudumme Frage war. Und doch! Dieses Mädchen: So alt wie Sarah! Das kann gar nicht sein.
„Es ist so!“, meint sie leise, „gib mir auch etwas Wein.“
„Sicher?“, fragt er. Sie nickt.
„Cheers!“

„Ist nicht sicher. Ein Jahr vielleicht. Eher weniger.“
Er nickt nur. Stille.
„Es ist so!“, wiederholt sie. Prostet ihm zu. Er ist ihr dankbar dafür. Dann findet er wieder irgendwelche Worte.
„Aber warum diese Strapaze? Per Anhalter ausgerechnet an die Nordsee? Jetzt, mitten im Herbst?“
„Zum Abschied. Die Jahreszeit kann ich mir nicht aussuchen“, sagt sie und lächelt.
„Zum Abschied?“, fragt er. „Wovon willst du dich hier verabschieden?“ Und er fürchtet schon wieder, eine völlig falsche Frage gestellt zu haben.
„Von allem! Keine Ahnung, ich habe niemanden mehr seit dem Unfall meiner Eltern. Keine Geschwister, ich war Einzelkind. So wie meine Eltern auch.“
Er schenkt Wein nach.
„Aber auch wenn meine Eltern tot sind, bleiben die Erinnerungen.“ Sie nimmt einen großen Schluck. „Und die schönsten Erinnerungen habe ich an die Urlaubszeiten mit ihnen. Wir waren fast jedes Jahr hier. Nicht in Dieplitz, vielleicht fünfzig Kilometer von hier. Aber es ist bestimmt dieselbe Nordsee.“
„Klar ist es dieselbe Nordsee“, meint er.
„Seit ihrem Tod hatte ich oft diesen Traum. Sie schwimmen so wie früher als Mama und Papa in den Nordseewellen und winken mir zu. Damals konnte ich noch nicht schwimmen. Ich stand am Strand und habe sie nicht aus den Augen gelassen. Oft hatte ich Angst, dass sie nicht wiederkommen, dass sie mich alleinlassen. Und im Traum dann dieselben Bilder, dieselben Ängste. Sie winken mir, dabei weiß ich, dass sie längst tot sind.“
Er hält die leere Weinflasche in der Hand. Gut, dass er zwei gekauft hat.
Sie prosten sich wieder zu und ihm kommen Bilder von Sarah. Wie erinnert sie sich an die alten Nordseetage?
Und Lea erzählt. Von ihren Förmchen, die sie in jeden Urlaub mitnahm. Strandkörbe, Fischbrötchen direkt am Strand. Bilder aus einer anderen Zeit.
Und dann ist sie still. Er schenkt noch einmal nach.
„Danke dir!“, sagt sie.
„Wofür?“, fragt er. Doch ihr Blick geht an ihm vorbei.
Er holt Bettzeug für das Sofa.
„Danke.“ Er nickt und lächelt. Gern würde er sie drücken.

Am nächsten Morgen ist sie fort.
Er sieht aus dem Fenster, trinkt einen Schluck Kaffee, hat Kopfschmerzen.
Das Dorf im morgendlichen Nebel. Er greift in die Tasche seiner Strickjacke, holt das Röllchen mit den Tabletten heraus. Dann geht er ins Bad, schaut in den Spiegel. Er sieht müde aus.
Er schraubt den Deckel des Glasröhrchens ab. Inhalt zwanzig Einheiten, liest er und ist sich sicher, dass diese Menge reicht. Darüber hat er hundertmal im Internet recherchiert. Einen Moment steht er da.
Dann schüttet er die Tabletten in die Toilette und zieht ab.
Beim Verlassen des Badezimmers ein weiterer Blick in den Spiegel.
Gleich wird er Sarah anrufen und ihr erklären, dass er ein paar Tage länger bleibt. Sie wird wieder fragen, es nicht verstehen. Ihm wird irgendeine Antwort einfallen. Wie immer.

 

Hallo @Beba und willkommen bei den Wortkriegern

Bevor ich im Folgenden meine Meinung zu deiner Geschichte kundtue, ist mir wichtig zu betonen, dass sich alle Kritik, positive wie negative, ausschließlich auf deine Geschichte bezieht. Nichts davon ist persönlich gemeint. Nimm es daher bitte auch nicht persönlich. Ferner ist das mein ganz persönlicher Leseeindruck und als solcher subjektiv.

Deine Geschichte fand ich okay. Sie ist sehr depressiv, für meinen Geschmack zu depressiv. Natürlich ist das Motiv deiner Geschichte ein negatives. In diesem Sinne transportierst du die Stimmung und Gefühlswelt von Harald und Lea gut. Dennoch, ein wenig Licht (nicht gleich ein Happyend) wäre schön. Die Geschichte lässt sich flüssig lesen, was ein Grund ist, warum ich so lange am Ball blieb. Du formulierst klar und man kann der Handlung gut folgen.
Ein "Problem" habe ich mit deinem Spannungsbogen, sofern es einen solchen überhaupt gibt. Ich bin mir da unsicher. Die Geschichte startet durchaus spannend. Man fragt sich, wohin sich diese Autofahrt und die Bekanntschaft zwischen Harald und Lea entwickeln werden. Auf mich übte das einen Sog aus, der mich zum Weiterlesen bewegt hat. Allerdings passierte dann nichts, einfach nichts. Die Geschichte dümpelt vor sich hin und verliert sich in Belanglosigkeiten. Der Sog war weg und ich wollte dringend staubsaugen. Ich kann dir auch genau sagen, ab welcher Stelle mir bewusst wurde, dass ich mich langweile:

„Lass mich machen, wenn das für dich ok ist.“ Sie greift nach einer Packung Spaghetti und schaut ihn fragend an.
„Ich kann zwar nicht viel kochen, aber meine Nudeln sind spitze.“

Ich habe ab diesem Punkt nur noch weitergelesen, weil ich gerne eine Rezension verfassen wollte.
Auch das Schicksal der beiden Charaktere hat mich nicht berührt. Harald ist mir zumindest nicht unsympathisch, aber meine vorherrschende Emotion ihm gegenüber ist Mitleid. Über ihn dachte ich "Der arme Kerl". Lea ließ mich völlig kalt. Mir war es fast schon egal, dass sie (auch) Krebs hat. Die Krebserkrankung von Lea ist mir übrigens fast schon sauer aufgestoßen. Haralds Frau hatte Krebs und Lea nun auch. Das ist so "Ton in Ton", alles derselbe Grauton. Ziemlich fad finde ich das.

Insgesamt ist dein Erstling hier im Forum eine angenehm zu lesende Geschichte, die emotional wenig berührt und beliebig wirkt. Da mir dein Schreibstil jedoch gut gefällt, sehe ich Potenzial für spätere Geschichten von dir. Bleib auf jeden Fall am Ball.

Viele Grüße
Markov

 

Hallo Markow,

ich danke dir für deinen Kommentar und deine ehrliche Meinung. Besonders die Stellen, die du erwähnst (so die Stelle, von der ab du dich gewangweilt hast) werde ich mir mal genauer anschauen.
Insgesamt viele sehr interessante Hinweise, die du gegeben hast.

LG
BeBa

 

Hallo @Beba ,

willkommen und Glückwunsch zur ersten Kurzgeschichte, die ich sprachlich solide finde.
Die kurzen Sätze sind für diese Art Geschichten in Ordnung und erleichtern das Lesen und das "Dranbleiben". Wie Markov bereits anmerkte, gibt es keinen so wirklichen Spannungsbogen, keine Pointe am Schluss, und imgrunde fragt man sich: "Wieso diese Geschichte? Was ist der Sinn"?
Die Protagonisten könnten noch ein bisschen besser beschrieben und herausgearbeitet werden. Habe kein wirkliches Bild von Harald und Lea.
Aber wie gesagt, für ein Erstlingswerk (wenn es das ist, zumindest dein erster beitrafg hier im Forum) grundsolide, und ich finde, du kannst schreiben :-) Verbesserungspotential gibt es natürlich immer.

Hier noch ein paar Kommentare/Fragen zum Text an sich:

Seit er am frühen Abend losfuhr, wird es immer kälter
Irgendwas stimmt hier mit der grammatikalischen Zeit nicht.
Deuter-Rucksack
Ich persönlich mag solche sehr detaillierten Beschreibungen nicht, die bringen für mich keinen Mehrwert. Ich habe immer den Eindruck, dass "Neulinge" gerne so genau wie möglich beschreiben möchten aber dann oft über das Ziel hinaus schießen. Welche Marke der Rucksack ist, hat für die Geschichte überhaupt keine Bedeutung, wie ich finde.
Sie holt einen Müsliriegel aus dem Regal. Er legt noch eins dazu aufs Kassenband.
Was ist "eins"? Müsliriegel? Dann "einen"„Willst du den?“, fragt sie und hält ihm den zweiten Riegel hin.

„Willst du den?“, fragt sie und hält ihm den zweiten Riegel hin.
Sie hat doch nur einen Riegel gekauft? Oder hat er ihr den zweiten an der Kasse spendiert?

„Nicht lange genug“, meint er. Sie schaut ihn von der Seite an.

Sie schaut ihn an und wartet offenbar auf eine Erklärung, aber die kommt nicht...

Er greift zur Gummibärchentüte
Er hat doch Weingummis gekauft?
„Wo sind wir?“, hört er sie aus dem Nichts.
Aus dem Nichts hören...nicht so gute Formulierung.
Sie fixiert ihn mit sturem Blick.
Sturer Blick ist nicht gut formuliert.
Lea betritt das kleine Haus mit seinen vier Zimmerchen

Mir ist nicht ganz klar, warum sie mit ihm mitgeht, das sollte vorher besser ausgearbeitet bzw. vorbereitet werden.

"Doch eine weitere dieser modern löchrigen Jeans hat sie gefunden"


Satzbau

Ersten-Tag-am-Meer-Hunger, nicht ErstenTagAmMeerHunger


„Mann, das ist ja mega!“,hört er sie auf einmal hinter sich.

Was ist mega?

Liebe Grüsse, Philipp

 

Hallo Philipp,

ich danke auch dir für die hilfreichen Hinweise zu meinem Text. In der Tat bin ich in Kurzgeschichten noch nicht sehr erfahren, ich komme aus dem Bereich Lyrik und schreibe ansonsten bislang eher Kurzprosa.
Deine Hinweise werde ich mir noch genauer anschauen und bei der Überarbeitung des Textes berücksichtigen.

 

Danke dir, Henry.

Für mich sind die beiden Punkte, die du als Kritik anführst, sehr interessant und wichtig. Zum einen dieser HInweis auf die "Krankheit" und der Tipp, dass Leas Hintergrund Spekulation sein sollte. Das ist in der Tat eine sehr interessante Idee. Auch ich war skeptisch, ob die so deutlich ausgesprochene Krankheit von Lea nicht übertrieben rüberkommen würde. Dieser Zweifel wurde ja nun schon mehrfach bestätigt und dein Tipp bzw. Anregung ist eine Option, die mir sehr gut gefällt und für die ich dir dankbar bin.
Und dein Hinweis auf die Jugendsprache (ich fand es so toll! ;-)) ist ebenfalls sehr hilfreich. Vielleicht hätte meine Tochter (hätte ich sie lesen lassen) schon etwas Ähnliches gesagt, aber mit diesem "Cringe" dürftest du, wenn ich darüber nachdenke, tatsächlich Recht haben.

Noch mal Dank an dich!

Hi,

noch mal Dank an alle Kommentatoren so far! Ich bin überrascht und dankbar, so tolle Komms erhalten zu haben. Ich bin in diversen Foren (vor allem Lyrik und Kurzprosa), aber selten habe ich durchgehend solch brauchbare Kritik erhalten, die sich stets am Text selbst orientierten und immer freundlich rüberkamen.

Da habe ich wohl ein interessantes Forum entdeckt. Ich werde versuchen, auch selbst Komms einzustellen, denn davon lebt dieses Forum, auch wenn ich selbst wenig Erfahrung mit Kurzgeschichten habe.

Eine Frage noch: Einen Kurzprosabereich gibt es hier nicht, oder habe ich etwas übersehen?

LG
BeBa

 

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