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Heimkehr
Schnee begräbt die Straßen, Dächer und Bäume unter makellosem Weiß. Diese Reinheit, die mir nie zu Teil wurde, diese Stille, die mir von früher so vertraut war, fängt mich ein, lässt mein Herz langsamer Schlagen, und alles andere tritt in den Hintergrund. Mir fällt das Atmen schwerer. Meine Schritte werden langsamer. Schließlich bleibe ich stehen. Ich zittere, der Seemannssack, den ich mir um die Schultern geschlagen habe, droht herunterzufallen.
In Gedanken schimpfe ich mich einen Narren und im selben Moment ist mir wieder zum Heulen. Erinnerungen steigen in mir auf, drohen mich zu überwältigen.
Die bunt leuchtenden, weihnachtlich geschmückten Fenster scheinen mich anzustarren.
Ich zwinge mich weiterzugehen, aber aus einem Fenster höre ich einladend ein gedämpftes Lachen. Mit klopfendem Herzen schau ich hinein.
Der Raum ist hell erleuchtet und strahlt wunderbare Wärme aus. Eine Frau in bunter Schürze hebt gerade ein Backblech aus dem Ofen. Daneben steht ein Kind, das voller Vorfreude in die Hände klatscht und lacht. Es ist fast so, als ob ich das Gebackene riechen könnte. Dieser feine Duft nach Zimt und anderen Gewürzen, der einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt und der beinahe schreit, ich solle eintreten.
Doch plötzlich dreht sich die Frau zu mir um und erschrickt; ihre Züge, zuerst fröhlich, sind jetzt wie versteinert vor Wut. Eiligen Schrittes tritt sie zum Glas und zieht die Vorhänge vor. Der wärmende Schein verschwindet, betroffen und voller Scham wende ich mich um. Früher hätte mich das kalt gelassen, aber jetzt frage ich mich, ob mein kurzer Blick wirklich derart störend und schlimm war.
Ich packe meinen Seesack fester, ramme die zweite Hand in die Jackentasche und marschiere langsam weiter.
Die Flocken, die still und sanft, beinahe anmutig, vom Himmel herab schweben, begleiten mich den ganzen Weg über, bis ich das Haus meiner Eltern erreiche. Auch hier sind die Fenster in festlicher Tracht geschmückt. Das Tor ist nicht verschlossen. Ich zögere noch.
Mit einem Mal bin ich mir ganz und gar unsicher, ob ich hinaufgehen soll. Alles in mir schreit danach, wieder in den Schoß meiner Familie zurückzukehren und der Kälte, die hier draußen ist und die letzten sieben Jahre meines Lebens beherrscht hatte, den Rücken zu kehren. Aber die schmerzhaften Erinnerungen lasten schwer auf meiner Seele.
Ich öffne das Tor. Die Einfahrt ist geräumt. Vermutlich hat meine Schwester gerade erst vor kurzem diesen Weg durch den Schnee geschaufelt, den ich nun bis zu unserem Stiegenaufgang begehe. Meine Füße sind jetzt so schwer, als hätte jemand Bleigewichte drangehängt. Plötzlich wird mir die Kälte erst wirklich bewusst, mir friert es, die Jacke, die ich trage, schützt mich nicht. Meine Gedanken rasen. Ein schwerer Kloß blockiert meinen Hals, ich schaffe es bald nicht, zu schlucken. Ich habe Angst.
Schritt für Schritt besteige ich die Stiegen, so als wären das nicht bloß Stufen, sondern eine Besteigung des Mount Everest. Dann stehe ich vor der Haustür. Ich packe die Türklinke, drücke sie herunter. Nicht versperrt. Dann trete ich ein.
Die Verbindungstür zur Küche ist offen. Der Geruch von Backwaren liegt in der Luft. Ich erinnere mich, dass auch meine Mutter jedes Jahr zu Weihnachten Lebkuchen bäckt. Es kommt mir vor, als wäre ich im Paradies. Wärme mantelt mich ein, schmiegt sich an meinen Körper. Der Schnee, der sich in dünnen Schichten auf meinen Schultern niedergelassen hatte, beginnt zu schmelzen und alsbald bildet das Schmelzwasser kleine Rinnsaale, die den langen Weg bis zum Boden antreten.
Ich sehe meine Mutter. Ihr rotes Kopftuch leuchtet mich an, wie eine Signallampe. Wie strebsam sie aussieht, denke ich mir und verbleibe stehend und schweigend, während ich beobachte, wie sie aus dem Backofen die frischen Lebkuchen hervorholt. Ich lächle, mir wird warm ums Herz. Am liebsten möchte ich heulen. Ich mache einen Schritt, der Seesack reibt an der Jacke und erzeugt ein Geräusch.
Meine Mutter sieht auf; gerade noch hatte sie einen angestrengten, prüfenden Blick auf ihr Werk, aber als sie mich sieht, als ihre Augen zuerst meine Beine erfassen, hochwandern bis hin zu meinem Gesicht und als sie mir in die Augen blickt, verzieht sich ihr Antlitz zu einer schrecklichen Grimasse. Ihre Mundwinkel zucken und das Backblech fällt ihr aus der Hand. Die gewiss liebevoll, in Stunden harter Arbeit gemachten Lebkuchen verteilen sich auf dem Boden. Ihr Körper beginnt zu zittern.
„Mutter ...“, sage ich. Meine Stimme versagt, ein fürchterlicher Druck schnürt meine Kehle zu, ich lasse den Seesack fallen.
Ein schrecklicher Laut entringt sich ihrer Kehle. „Du?“
Du, fragt sie. Mir wird schwindlig. Die Augen werden feucht, meine prankenartigen Hände öffnen und schließen sich unentwegt.
„Ja, ich bin es, Mutter. Ich bin zurück.“
Dann beginnt sie zu weinen. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt. Sie bebt und schwankt. Ich will zu ihr eilen, sie in die Arme nehmen, aber als ich einen Schritt mache, fährt sich mich an.
„Bleib stehen!“
„Aber ...“ Ich merke, wie es mir salzig die Wangen runterläuft. Rasch wische ich es weg.
„Bleib wo du bist“, sagt sie wieder. Während sie spricht, schluchzt sie immer wieder und Tränen stürzen die Wangen herab. „Wer hat dir erlaubt hierher zu kommen?“
Ich kann es nicht fassen. Ich will nicht begreifen. Es ist alles so lang her. Meine Schuld ...
„Nach alldem, was du getan hast, kommst du hierher?“ Sie schreit nun, sie brüllt mich an.
„Rede bitte nicht so, Mutter. Ich habe gebüßt, ich habe doch gebüßt ...“ Nichts verhindert, dass meine Stimme schwankt.
Sie hört mir nicht zu, stattdessen hebt sie die Lebkuchen auf, die verstreut herumliegen und beginnt, diese nach mir zu werfen.
„Mörder! Mörder!“
Ich weiche keinem der Wurfgeschosse aus. Zwei treffen mich am Kopf.
„Du verdammter Mörder...“, sagt sie wieder, doch diesmal bricht ihre Stimme ab.
Langsam mache ich einen Schritt vorwärts. „Es tut mir so leid ... so schrecklich leid ...“
Meine Mutter hebt den Kopf, ihr Antlitz gleicht dem eines wütenden Gottes. „Dir tut es leid? Erzähl das doch deinem Vater, den du damals erschlugst!“
Ich fahre zusammen wie unter einem grässlichen Hieb.
„Was ist, hast du das bereits vergessen?“
Wie kann ich vergessen, was ich damals meiner Familie angetan hatte. Ich werde niemals vergessen können, Mutter, aber das wirst du nicht verstehen, denn du weißt nur um den Schmerz, den du durch den Verlust erleidest. Doch auch ich musste vieles ertragen. Glaubst du, mir erging es einfach? Glaubst du ich wollte Vater töten? Glaubst du das wirklich? Könnte ich es ändern, bei Gott, würde ich seinen Tod durch den meinigen rückgängig machen, so glaube mir Mutter, ich würde mit Freuden mein Leben geben.
Nichts von dem spreche ich aus. Ich sage nur: „Nein“, und sie schweigt, beruhigt sich ein wenig.
„Was willst du hier?“, fragt meine Mutter und ihr Blick steinigt mich.
Was soll ich nur auf diese Frage antworten? Was ich hier will, willst du wissen, Mutter? Ich hoffte, hier Zuflucht zu finden, vor meiner Vergangenheit und alles, was ich verbrochen hatte. Ich wollte dir helfen, Mutter, wollte versuchen, wenigstens einen Teil, von dem, was ich dir angetan hatte, wieder gut zu machen. Es war eine schreckliche Zeit, nicht nur für dich, und ich weiß, dass ich nie wieder einen Platz in deinem Herzen haben werde, weil meine Schuld zu groß ist, meine Tat zu unfassbar, dennoch ...
„Ich bin nicht mehr willkommen“, hauche ich. Es sollte eine Frage werden, aber es klingt wie eine Feststellung.
Mutter schüttelte den Kopf. „Verschwinde aus meinem Haus.“
Ich hebe den Seesack auf. Da fällt mir ein, dass ich Geld mitgebracht habe, das ich im Gefängnis verdient hatte. Ich hole es hervor und will es auf den Tisch im Vorhaus legen.
„Behalte dein Geld. Ich brauche es nicht.“
Warum lügst du, Mutter? Seit Vater nicht mehr hier ist, um zu arbeiten, ist das Geld knapp im Haus.
„Verschwinde endlich“, sagt sie noch einmal.
Mir wird heiß und kalt zugleich, ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Ich sehe meine Mutter an, sie weicht meinem Blick aus. Mein Kopf senkt sich, ich schäme mich, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Das Geld stecke ich wieder weg. Ich will noch etwas sagen, meine Mutter anflehen, mich nicht hinauszuschicken, mich nicht der Dunkelheit preiszugeben. Aber ich sehe ihr Gesicht, den Ausdruck darin.
Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, meine Beine wollen nicht mehr gehorchen. Ich bin nicht mehr fähig zu denken, zitternd stolpere ich aus dem Haus.
Kurz bevor mich die Finsternis endgültig verschlingt, höre ich ein entsetzliches Schluchzen und als ich meinen von Tränen verschleierten Blick hebe, sehe ich, wie meine Mutter, die Hände vors Gesicht geschlagen, zitternd und unter Weinkrämpfen zu Boden sinkt.