Heimwegs-Joint
Ich sitze. Ich sitze einfach da, auf dieser Bank, und rauche eine Zigarette. Kalte Dezemberluft kratzt auf der Haut und zerfetzt meine Lunge. Es ist ein stürmischer Tag. Die brodelnde Nordsee vor mir, meine Vergangenheit hinter mir und du - du neben mir. So wie an unserem letzten Abend.
Kaum waren wir aus dem Club gestolpert, hast du schon den letzten Joint angesteckt. Den Heimwegs-Joint, wie jedes Mal. Der Kopf dröhnte noch von den Bässen. Was für eine Nacht! Du hast mir den Joint gereicht und gelallt: „Jimmy, weißt du, ich will leben! Ich will leben, leben, leben.“ Ich sagte nichts, ich hielt nur an, wühlte in meiner Tasche und holte mit zitternden Händen - es war kalt, wirklich kalt - die letzten beiden Teile heraus. „Das will ich, leben!“ Wir liefen weiter die Neustadt hoch, unseren Promilleweg, mit dem Heimwegs-Joint in der Hand. Rechts zündeten ein paar Fascho-Idioten einen Mülleimer an und riefen uns zu: „Linkes Dreckspack, scheiß Zecken!“ Wie so oft musste ich dich davon abhalten, zurück zu pöbeln. Wir liefen und liefen also, es war wie immer eine Ewigkeit, aber eine angenehme Ewigkeit. Sind wir den Fascho-Idioten nochmal begegnet? Ich kann es dir nicht sagen. Durch die verrauchten Straßen dieser grauen Stadt, den Geruch von Gras immer in der Nase. Dazu ein Teil im Kopf. Und als wir fast da waren, da bliebst du stehen und ich wünschte, du hättest es nicht getan. Und du sagtest: „Hey, lass nochmal runter, ans Wasser. Ich will Nordseeluft riechen.“ Ich widersprach nicht. Ich wünschte, ich hätte es getan. Aber ich lief dir einfach hinterher.
Erst als wir aus der Stadt raus waren, fiel mir auf, wie windig es war. Der Joint ging aus, immer wieder, und nochmal und nochmal. Wir kamen bis ans Wasser. „FREIHEIT! FREIHEIT!“, gröltest du in bester Westernhagen-Manier. Du liefst direkt am Wasser entlang, ich ging ein Stück landeinwärts. Wasser fand ich nie gut. Normalerweise hätte ich dich davon abgehalten, so nah am Wasser zu gehen. Ich wünschte, ich hätte es getan. Ich ging landeinwärts und merkte gar nicht, wie sehr wir auseinander liefen. Dann hörte ich ein Auto in der Ferne. Bis ich realisiert habe, was da passierte, war es schon zu spät. Ich drehte mich um, sah das Auto, sah dich. Mehr als schreien konnte ich nicht. Dann stiegen sie aus, vier Männer. Nein, verdammt, nein, verdammt, nein verdammt. Die Fascho-Idioten. Sie prügelten auf dich ein, ich konnte nichts tun, war viel zu weit weg, bestimmt 100 oder 200 Meter. Ich konnte nichts mehr tun. Nur noch rennen. So weit die Füße tragen.
Am darauffolgenden Nachmittag fanden sie dich am Ufer. Und ich war schuld. Weil ich nicht aufgepasst habe. Weil ich nicht, wie sonst immer, auf dich aufgepasst habe. Dabei wolltest du doch leben.
Jetzt sitze ich hier, zum ersten Mal. 16 Jahre ist es her, weißt du noch? Meine Zigarette ist aus, ich puste den letzten Rauch raus in die raue Dezemberluft. Es hält mich nicht mehr. Ich stehe auf, laufe und laufe und laufe, wie ferngesteuert. Das kalte Wasser, das dich damals eingesaugt hat, es fühlt sich an wie Schmerz, unendlicher Schmerz, und es saugt auch mich ein. Ich denke an dich, ich denke an sie. Wie sehr ihr euch geliebt habt. Und ich denke an mich und sie.
Moment, denke ich, waren das die Fascho-Idioten? Oder warst du es? Ich möchte umdrehen, kann nicht, bin gefangen. Die bestialische Nordsee saugt alles auf, was sie aufsaugen kann. Mein Hilferufe wird von einer Welle verschluckt. Der Himmel färbt sich von grau zu schwarz. Dann ist Schluss. Wir werden eins. Aber du wolltest doch leben.