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Hel
Ich lernte Hel kennen, als wir zusammen drei Stockwerke, den Keller und den Dachboden eines Hauses im Zentrum meines Heimatortes in den Salzburger Bergen ausräumten. Das Auffälligste an ihm war die Geschwindigkeit bei allem was er tat. Er sagte etwa: "Hastdudiezimmerdahintenschonfertig?"
Ich musste oft nachfragen, weil ich ihn nicht gleich verstand.
Wie er mit der Axt in der Hand durch die Gänge lief, Zimmer stürmte und mit wenigen Schlägen alte Schränke zerstörte, war erschreckend. Wir trugen die Teile hinaus auf den Balkon und warfen sie von dort in den gemieteten Container, der vor dem Haus stand. Zwei Dutzend Türen aus dem Dachboden flogen vom Balkon im zweiten Stock hinunter. Manche drehten sich in der Luft. Manche schlugen hart am Rand auf.
Unser Vorarbeiter hieß Ernst, war 66 Jahre alt und sehr stark. Er sagte ständig, wir sollten aufpassen und nicht etwa jemanden, der zufällig unten vorbeiging, verletzen oder dem Bierlokal im Erdgeschoß die Scheiben einschlagen...
Für unsere Erfrischung in den Pausen hatte der Besitzer des Hauses gesorgt. Die Rechnung lautete: Drei Mann mal zwei Tage Arbeit gleich zwei Kisten Bier.
Hels Schlund verschluckte Bier schneller als jeder Ausguss. Die Mengen, die er trank, veränderten seinen Stoffwechsel. Seine Anwesenheit war oft von gewaltigen Gasausbrüchen begleitet. Auch die Akne in seinem Gesicht war die des Alkoholikers.
Er sagte zu mir: "Du musst Bier trinken! Wenn du bei uns auf der Baustelle ein Cola trinkst..."
(Eine Handbewegung zeigte seine ganze Verachtung für dieses Getränk)
"... Dann jagen sie dich davon!"
Seine Baustelle war ein Tunnelprojekt im Tiroler Oberland. Im Urlaub verdiente er sich etwas dazu, wie eben an diesen beiden Tagen. Als wir vor unseren Bierkisten hockten, erzählte Hel von hundert Kilo schweren Platten, die er auf einem Gerüst herumgetragen hatte. Er war höchstens eins fünfundsechzig groß. Aber wenn man seinen Ausführungen zuhörte, wusste man: Er sagte die Wahrheit!
Seine politischen Ansichten waren bizarr. Was er über Hitlers Rolle in der Weltgeschichte, die Araber und andere Themen äußerte, verschlug einem erst einmal die Sprache. In praktischen Dingen war er vernünftig und unerbittlich, hatte selbstständig eine Autowerkstatt betrieben und passte genau auf, dass die Kellner seinen Bruder, der ein Lokal hatte, nicht durch falsche Abrechnungen betrogen.
Leider trank er viel zuviel...
Bevor wir wieder an die Arbeit gingen, erzählte er von dieser Sache, die ihm in Innsbruck passiert war: Er lag schwer betrunken auf der Maria-Theresien-Straße. Da kam ein Polizist ("So eine richtig große, fette Sau") und versetzte ihm einen Tritt. Hel brauchte einige Zeit, bis er zu sich kam und ungefähr wusste, wo er war. Der Polizist wollte ihn noch einmal treten. Zu seinem Pech war Hel jetzt wach und knallte ihm die Faust auf die Nase, dass er rücklings hinfiel.
Bei der Schilderung dessen, was dann geschah, musste ich unfreiwillig assistieren.
Hel sagte: "Ich hab ihn dann nochmal gepackt und hochgerissen..."
Seine Hand schoss vor, fasste meine Jacke, zog mit ungeheurer Kraft an ihr.
"...und ihm noch eine reingehauen."
Jetzt näherte sich seine Faust meinem Gesicht. Mein Puls raste. Zum Glück ließ er mich los...
Es gab eine Gerichtsverhandlung. Hel beteuerte, dass es einem so kleinen Mann wie ihm nicht möglich sei, "diesen Hundert-Kilo-Typen" einfach so hochzureißen und gleich wieder niederzuschlagen - noch dazu stark alkoholisiert.
Er sagte: "Frau Richterin! Wie der Kläger es schildert, kann es also nicht gewesen sein. Sehen Sie mich an! Ich wiege ja nicht einmal fünfzig Kilo."
Nüchtern und im Anzug machte er einen guten Eindruck.
Nach langem Hin und Her ließ die Richterin eine Waage holen. Geziert zog er die Schuhe aus, "damit das alles seine Richtigkeit hat", und stieg hinauf: Weniger als fünfzig Kilo!
Die Richterin sprach ihn frei.