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Heldenlos
Einfach nur nach Hause gehen und schlafen. Es war saukalt. Wo bleibt denn der Bus? Ob noch eine Kippe drin ist? Anzünden, dann kommt der Bus bestimmt. Er schaute nochmals auf den Plan. Was? Nachtbus nur samstags oder sonntags? Und wieso nicht freitags? Stand das vorher auch so drauf? Verdammt, warum hast du nicht genauer hingesehen? Der letzte normale Bus. 23:57 Uhr. Längst vorbei. Verdammter Scheißabend. Kein Taxi weit und breit. Sonst waren hier doch immer irgendwelche Taxen. Wartende, rauchende Taxifahrer. Warum nicht heute? Was für ein blöder Fahrplan ist das überhaupt? Sonntags statt freitags? Typisch Stadtverwaltung. Beamte. Die liegen jetzt im Warmen.
Dann eben zu Fuß nach Hause. Dauert etwa eine Stunde. In der Kälte. Dann mal los. Bald wird der Winter kommen. Eis und Schnee. Weiß, wie ein Bettuch. Nach hause kommen. Es war so kalt, dass der Atem Wolken bildete. Wie Rauchwolken. Noch eine Kippe nehmen. Es war die letzte der Packung. Wind. Kurz stehen bleiben, anzünden, weiter. Ich werde morgen wieder damit aufhören, aber heute brauche ich die Kippen. Ausnahmsweise. Ich hätte am besten gar nicht erst aus dem Haus gehen sollen. "Schicksal", hatte Linda gesagt. Schicksal? Dumme Kuh. Hier abbiegen. Zu Fuß geht es hier schneller. Es war frostig. Linda. Wie war das denn die letzten Wochen mit Linda gewesen? Wir hatten uns doch so oft getroffen, gelacht, über alles unterhalten. Ich war gut genug gewesen, mir alle ihre verdammten Sorgen anzuhören. Über ihre Mutter, die Sache mit dem Chef, die OP und - ja genau - wir hatten geflirtet. Beide! Auch Linda. Und jetzt wusste die dumme Kuh plötzlich nichts mehr davon. Jetzt hier rein zu den Kleingärten. Warum habe ich es Linda heute sagen müssen? Warten wäre besser gewesen. Die große Klappe halten. Ein anderes Mal hätte sie vielleicht anders reagiert. Warum hatte ich es überhaupt angesprochen? Aber es war doch bis dahin ein perfekter Abend. Der Film, das Kleid, der Cocktail. Linda hatte einen "Sex on the beach" bestellt und dabei gekichert. Natürlich hatte sie geflirtet! "Ich glaube du hast mich missverstanden." " Aber ich liebe dich wirklich." "Schicksal!" Dumme, dumme, dumme Kuh!
Es war kalt. Und wozu das ganze? Umsonst. Alles war umsonst. Ungerecht. Linda war unfair gewesen. Sollte sie doch ohne mich glücklich werden. Keinen weiteren Gedanken mehr an Linda verschwenden. Sollte Linda doch ihre Probleme in Zukunft alleine lösen. Ich komme sehr gut ohne sie zurecht, habe auch alleine genug Probleme. Was war das? Da vorne war doch was. Weiter vorne standen ein paar Gestalten und grölten rum. Was machten die hier bei den Kleingärten? Betrunkene Jungs? Alkohol. Zu viele Cocktails heute Abend. Umkehren? Zurücklaufen wäre ein weiter Umweg. Es ist eiskalt. Doch durch die Innenstadt? Jetzt sind sie schon ziemlich nahe. Einfach vorbeilaufen. Sie lachen. Die haben keine Probleme. Lasst mich bloß in Ruhe. Nicht in die Augen sehen. Nicht gesehen werden. Blind, wie die Nacht.
Es sind drei oder vier. Denen scheint es ja gut zu gehen. Es sind genau vier. Zwei tummelten sich am Boden. Vorbeilaufen. Gleich vorbei. Einer drehte sich um und sah ihn an. Er kam mit unangenehmer Alkoholfahne näher. Bier, kein Cocktail. Was will er? "Ich mach dich fertig!" Der Fremde holte plötzlich aus. Was sollt das? Vorsicht. Nicht stürzen. Harter, kalter, feuchter Asphalt. Wo ist der Typ? Der Besoffene stand noch dort, wo er zugeschlagen hatte, in Siegerpose. Das war zu viel. Zu viel Demütigung, zu viel Besserwisserei und zu viel Dummheit. Aufstehen, zuschlagen! Der Kerl wich noch nicht einmal aus. Zu blöd und zu besoffen. Einfach hingefallen. Will er weitermachen? Keine Bewegung zu sehen. Stechender Schmerz. Mein Arm. Was war das? Ein Messer. Ein anderer Fremder stand neben ihm. Ein weiterer, dummer, besoffener Mann. Zuschlagen! Was sollte das? Warum hat dieser Vollidiot auf meinen Arm eingestochen? Zuschlagen! Können diese Kerle denn nicht verstehen, dass mir deren Probleme völlig egal sind? Zuschlagen! Können sie mich denn nicht in Ruhe lassen? Ich habe ge-nug ei-ge-ne Pro-ble-me! Und ge-nug ei-ge-ne Sor-gen!
Es ist genug. Beherrsch dich. Ruhiger werden. Vielleicht bin ich bei dem Kerl zu weit gegangen. Aber das Messer. Notwehr. Tot? Der Typ atmete, war bewusstlos. War okay. Der Arm sticht schmerzhaft. Warum hatten die Kerle überhaupt angegriffen? Warum waren sie überhaupt hier? Warum bin ich überhaupt hier? Genau so sinnlos, wie der komplette, verfluchte Abend. Was war mit den letzten beiden? Da liegt nur noch einer. Genau, da waren vorher Schritte gewesen. Weggerannt. Wohl Angst bekommen? Zu Recht. Er war nicht mehr zu sehen. Feigling. Pulsierender Schmerz im Arm. Warum bewegte sich der vierte nicht? Kein Mann. Eine Frau. Sie weinte und sah ihn an. Ängstlich. Erwartungsvoll.
Eine Vergewaltigung! Die drei Kerle. Das Messer passte dazu. Natürlich, alles klar. Kurzer Rock, weiter Ausschnitt. Sieh sie dir an! Flirten, das können sie gut. Wie Linda. Wahrscheinlich hatte sie Spaß daran gehabt, die Aufmerksamkeit aller Männer auf sich zu ziehen. Jetzt sah sie schlecht aus. Und wenn ein paar besoffene Typen einen Korb nicht so einfach runterschlucken, andere können es ja ausbaden. Immer muss ich alles ausbaden. Ein Bad wäre jetzt gut. Oder wenigstens eine Dusche. Dieses Pochen im Arm. Das Gesicht tut ebenfalls weh. Der Schlag vorhin. Ans Auge. Geschwollen? Dumpfe Krämpfe im Arm. Es trat noch kein Blut aus der Jacke. Ich hau ab hier. Sie sah ihn immer noch an. Die beiden Verprügelten regten sich langsam. Der dritte war noch irgendwo. Sie hat dich gesehen. Die Kerle könnten aufstehen und weitermachen. Unterlassene Hilfeleistung. Gefängnis. Du kannst jetzt nicht einfach weg gehen. Hier bleiben war ebenfalls gefährlich. Die drei Kerle können ihn schlagen, totschlagen, morden. Weg hier! Er trat zu ihr. Sie hat noch alle Kleider an. Die Typen waren noch nicht zur Sache gekommen. "Komm steh auf. Wir müssen hier weg." Sie nickte, stand auf und sie liefen beide los.
Schnell weg hier. Zurückschauen. Keiner folgt. Zur Hauptstraße ist es noch ein Stück. Autos mit Menschen. Sicherheit. Sie liefen weiter. Hier abbiegen, schnell weiter. Kaum noch Luft. Jetzt vielleicht etwas langsamer. Der Schmerz ist stärker als vorhin. Kurz stehen bleiben und durchatmen. Atmen. Vielleicht noch eine Kippe rauchen. Nein, die Packung ist ja leer. Die Frau sah ihn an, aber nicht ins Gesicht. Es ist alles deine Schuld. Deine und Lindas Schuld. Ich hätte euch beide ignorieren sollen. Ich hätte zu Hause bleiben sollen. Ins Bett. Zur Wärme. Ohne Schmerzen. „Sie sind verletzt.“ Die Frau hatte auf den Arm geschaut. Blut am Arm, dreckig und feucht. Mitleid, demütigendes Mitleid. "Ich bin Krankenschwester. Lassen Sie mich das mal ansehen." Krankenschwester, im Hospital. Die OP bei Linda. Die Besserwisserin. Sie kam näher, machte sich am Arm zu schaffen...brennender, ungerechter Schmerz! Sie hat keine Ahnung. Nur Schmerz! Frauen und Schmerz. Wegstoßen! Sie zuckte zurück. "Was soll das? Sie sind verletzt. Das sollte vielleicht verbunden werden." Ihr denkt wohl, ihr könnt über alles entscheiden. Bevormundung. Einlieferung ins Krankenhaus. Ich will nicht ins Krankenhaus, brauche kein Mitleid, keine Unehrlichkeit, keine Lüge, keine Linda. "Lasst mich in Ruhe. Ihr seid an allem Schuld". Sie ging einen Schritt rückwärts, sah ihn an. "Was? Wen meinen Sie?" Sie tut, als ob sie nicht versteht. Macht sich lustig über mich. Sie kann gut lachen, hat keine Schmerzen. Sie weiß doch gar nicht, wie das ist, wenn man verletzt wird. Willst du mal spüren, wie sich das anfühlt? Du sollst es verstehen! Ich werde es dir zeigen. Zugreifen, festhalten! Ihr Gesicht ist jetzt verzerrt. Jetzt verstellt sie sich nicht mehr, versteht endlich. Nicht wegrennen! "Komm her!" Sie stolperte und fiel hin. Nicht loslassen. Sie hat es verdient. Die Schmerzen sind wegen dir, wegen dir und Linda. Lindas Blick heute Abend, hochnäsig, besserwisserisch. "Das ist alles deine Schuld!" Sie zuckte zusammen, bewegte sich. Fluchtversuch? Sie soll ruhig bleiben. Niederdrücken! Mit meinem Gewicht, meinem Körper. Ich spüre ihren Körper. Wärme. Parfüm. Ihre Haare duften. Ihre weiße Haut im Ausschnitt. Die Brüste darunter. Die Schenkel. Sie weint, wehrt sich nicht. Natürlich! Sie wollte es von Anfang an...