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Heldennebel

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19.05.2015
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Heldennebel

Nach den Weihnachtstagen des Jahres 1826 fegt Eiswind über die Landschaft, die Wege verschwinden, Wälder verwandeln sich in zuckerüberzogene Märchenskulpturen, Felder, Hügel verschmelzen zu einer Schneelandschaft, die wie ein Sternenmeer gleißt. Wilhelm von Humboldt gleitet mit dem Postschlitten wie auf einem Federkissen von Leipzig nach Weimar, um seinen Freund Goethe zu besuchen, den Tauschhandel anzubahnen, den sich die Humboldt-Brüder ausgedacht haben.

Er führt einen Hutkoffer mit sich, worin er einen Gegenstand aufbewahrt, dessentwegen er die Reise auf sich genommen hat. Der Schlitten riecht nach Erde und Fäulnis, Kälte kriecht Wilhelm in die Glieder, sobald die Decke verrutscht, unter die er gekrochen ist. Er versucht die Augen zu schließen, einzuschlafen, schafft es aber nicht, wird durchgerüttelt, während Trübsinnsgedanken auf ihm lasten, die Sehnsucht nach Leben ihn erfüllt, die Schmerzen in den Gelenken, das Bewusstsein erobern. Er seufzt.

Die Reise dauert zwei Tage. Humboldt erträgt sie mithilfe des Weins, den er in die Kehle schüttet, obwohl er nach Essig und Sauerampfer schmeckt. Die Nacht verbringt er in Naumburg an der Saale. Während er sich Rehfleisch mit Kartoffeln in den Mund steckt und kräftig nachspült, notiert er in einer Ecke des Gasthauses Gedanken zu seinen Vorhaben, der Gründung eines Kunstvereins in Berlin, der Verbesserung des preußischen Bildungssystems. Er hört die Kartenspieler am Tisch gegenüber fluchen, fürchtet, dass die Zugluft einen Gichtanfall auslösen würde, befiehlt dem Kammerdiener, das Bett nach Wanzen abzusuchen. Ob mit oder ohne die lästigen Tierchen, würde er wie so oft in den letzten Wochen von Roms träumen, den Glocken der Kirchen, den Trümmerfeldern des Ewigen Reichs, den Überresten der Via Appia mit den Grabmälern am Straßenrand. Die Augen Valentinas schwirren durch Humboldts Kopf, die Biegung ihrer Brauen, das Zittern, wenn sie ihn mit Libellenfingern berührt hat. So viele Jahre sind vergangen, seit er am Stand der Limonenverkäuferinnen gestanden hat, getroffen von der Schmetterlingsleichtigkeit ihres Wesens, der Schönheit ihrer Gestalt. Jetzt erst, nach all der Zeit, ahnt er, dass die beste Zeit seines Lebens damals an ihm vorbeigerast ist. Er erinnert sich, wie sie ihm zugewunken, wie ihn der Mut, sie mitzunehmen, verlassen hat. Wäre sein Leben glücklicher verlaufen, wenn er anders gehandelt hätte? Humboldt kaut eines der getrockneten Blätter, die ihm Alexander aus Südamerika mitgebracht hat und schläft ein.

Goethe blättert unterdessen in Kupferstichmappen. Er hat sich im Bett gewälzt, wurde von Dämonen, von Wehmut durchgeschüttelt wie ein Ball mal hierhin, mal dorthin getrieben, ist schmetterlingsgleich von Blüte zu Blüte, von Schatten zu Schatten gezogen. Das Durcheinander in ihm wächst, die Schaffenskraft erlahmt, das spürt er genau. Um sich abzulenken ruft er sich die Orte ins Gedächtnis, die auf den Stichen abgebildet sind. Obwohl er sie ganz nahe an die Augen hält, verschwimmen sie. Das Straßburger Münster, der Frankfurter Römer zerfließen in Fratzen, Figuren aus einem Theaterstück, das nicht von ihm selbst stammt, an Shakespeares Komödien erinnert, Runzelhexen zeigt, krummbeinige Zwerge. Mittendrin schillern all die Mädchen, Frauen, die er geliebt hat. Als er die Augen schließt, liegen sie ihm in den Armen, jung wie er selbst, tanzen und hüpfen mit ihm, küssen ihn auf den Greisenmund. Das Geräusch eines auffliegenden Vogels, vielleicht einer Fledermaus, schreckt Goethe auf. Der Besuch Humboldts fällt ihm ein. Von einem Angebot, einer Sensation war auf dem Billett aus Leipzig die Rede. Was könnte einen Goethe noch überraschen, ihn, den ein widerlicher Schmerz im Brustkorb plagt, der die ganze Kraft aufbringen muss, um ein paar jämmerliche Zeilen, Verse, die er selbst oft genug nicht versteht, aus sich herauszupressen, als wäre er eine Maschine, die, einmal in Gang gesetzt, weiterläuft, ohne selbst das Ende bestimmen zu können?

Gestern hat er Susanne zuletzt gesehen, ihr vorgelesen, den Fliedergeruch aufgesaugt, auf ihren Atemhauch gewartet, wollte ihr Herz mit brüchiger Stimme öffnen, hoffte auf den Moment der Schwäche, der sie die Hinfälligkeit des Dichters vergessen ließe. Stattdessen hat sie ihm einen Blick zugeworfen, ihr Bedauern mühsam darin versteckt, die Augen auf die Rillen und Wulste der Finger geheftet. Er klappt schließlich die Mappe zu und schleicht sich in die Schlafkammer.

Hufklappern dringt durch die Nacht, der Schlittenführer singt ein Lied, das nach Wirtshausbesuchen und Rosenwangenfrauen klingt. Sie erreichen den Ettersberg und fahren an Eichen vorbei, deren Baumkronen wie Pilze emporragen, die Jahre erwarten, die für sie noch anbrechen werden. Der Kerl in der Poststation hat Recht behalten. Sie erreichen Weimar in der Abenddämmerung. Humboldt bittet den Kutscher, gleich zu Goethes Haus zu fahren. Der Kies knirscht unter der Schneeschicht, als sie vorfahren. Im Erdgeschoss brennen Lämpchen, aus einem geöffneten Fenster wölkt Dampf nach draußen. Humboldt nimmt den Hut, zupft sich den Rock zurecht, läßt sich vom Kutscher das Köfferchen geben und schickt den Kammerdiener in den Elefanten, um Quartier zu beziehen. Eine Frau mit weißer Haube winkt Humboldt zu, verschwindet wieder hinter den Vorhängen. Dann öffnet sich die Tür. Goethe erscheint ohne Perücke. Die Schneehaare hängen an den Wangen herab, auf der Glatze verteilen sich Altersflecken, der Gehrock schimmert samtgrün. Er stützt sich auf einen Stock mit Elfenbeingriff und wartet darauf, dass der Besucher zu ihm empor schreitet.

„Humboldt! Schön, Sie hier zu sehen.“
„Guten Abend, Goethe. Sehr erfreut, alter Freund!“
„Hatten Sie eine angenehme Reise?“
„Wie eben Winterreisen so sind, reden wir nicht davon.“
„Schnell rein mit Ihnen, ist ja eisig draußen. Ich habe eine Kleinigkeit für uns vorbereitet.“
„Sehr freundlich, Herr Geheimrat.“
„Geheimrat, mm, ach, wie zierlich Sie das sagen, den Titel habe ich beinahe vergessen. Was haben Sie da für ein Köfferchen bei sich?“, sagt Goethe kichernd.
„Eine Überraschung!“
„Na ja, werden wir ja sehen. Aber jetzt essen und trinken wir was. Mögen Sie heißen Wein?“

Der Hausdiener nimmt Humboldt den Hutkoffer ab. Im Haus duftet es nach Braten. Wärme und Behaglichkeit beleben den Gast, Stimmen flüstern durch die Räume, füllen sie. Er verbrennt sich die Lippen, als er von dem Wein probiert, dennoch fallen die Reisebeschwerden von ihm ab, Leichtigkeit ergreift ihn. Der Hausherr hat Gäste geladen, die ihn erfreut begrüßen, während sie essen und trinken, was das Haus hergibt. Humboldt schüttelt Hände, freut sich über den Respekt, die Ehrfurcht, die sie ihm entgegenbringen. Ein Arzt mit herabhängenden Wangen, der sich darauf konzentriert, die zurechtgeschnittenen Fleischstücke und Kartoffelteilchen aufzuspießen, möglichst viel in den Mund zu stecken, wird sein Sitznachbar. Goethe thront ihm gegenüber neben Eckermann, lässt die Blicke hin und her irren, die Konversation an sich abperlen, antwortet automatisch, formelhaft. Humboldt bemerkt, dass Goethe sich am liebsten an Susanne wendet, einem Mädchen, das sich den Dichterworten mit kerzengerader Haltung entgegenstreckt. Der Arzt fragt Humboldt nach den Zuständen in Preußen. Susannes Gesicht errötet, als sie sich an Humboldt wendet, ihn bittet, von den Reisen des Bruders zu erzählen.
„Lesen Sie Alexander von Humboldt, dann erfahren Sie, wie es wirklich im Dschungel zugeht, nicht wahr?“, fragt Goethe und schaut Humboldt an.
„Mücken und unerträgliche Hitze. Formenvielfalt, Töne, Pflanzen und Tiere, die wir nicht kennen. Vögel, so klein wie Bienchen. Blumen in allen Farben. Waldmenschen, die nackt Geister beschwören, den Tod mit Gesängen besiegen, die Sonne vom Himmel holen. Ein Paradies mit Schrecken, mehr kann ich nicht sagen, verehrte Frau Susanne. Mein Bruder will im Frühjahr nach Weimar kommen. Vielleicht treffen Sie ihn.“
Susanne öffnet den Mund, als wolle sie sich die Bilder der Indios vor Augen halten. Danach konzentriert sich Humboldt auf das gezimtete Apfelkompott und den süßen Wein.

„Humboldt, lassen Sie uns in meinem Arbeitszimmer einen Mokka trinken.“
Die anderen Gäste tupfen sich die Gesichter ab. Im Salon warten Tee, Kaffee, Konfekt. Stühle und Bänkchen stehen bereit.
Die Tür fällt ins Schloss. Kerzenlicht flackert, im Ofen brennt Holz, schlägt Funken, knackt, wärmt den Raum. Humboldts Hutkoffer liegt auf dem Tisch vor dem Fenster. Goethe öffnet einen Schrank und hält eine Flasche Schnaps in der Hand.
„Was gibt es Schöneres im Leben! Lassen Sie uns auf Liebe und Freundschaft anstoßen, Humboldt!“

Die Gläser klirren. Die Frau mit der weißen Haube, die Humboldt zugewunken hat, als er aus der Kutsche gestiegen war, klopft an, verbeugt sich, bringt Mokka und eine Flasche Wein. Die beiden setzen sich. Humboldt betrachtet die Altersflecken auf Goethes Stirn, fragt sich, ob sie bei ihm genauso ausgeprägt, die Augen ebenso tief in der Höhle verschwunden waren. Er wischt sich übers Gesicht.

„Sie haben eine beschwerliche Reise auf sich genommen, um mich zu besuchen.“
„Ich habe etwas gehört, das mich interessiert.“
„Aha. Über mich wird ne Menge Zeugs erzählt. Das meiste vergesse ich so schnell wir möglich und an manches will ich mich nicht erinnern.“
„Es geht nicht um Sie. Ich bin Schillers wegen hier.“
„Ach, das. Ich wollte den lieben Freund nicht auf ewig zwischen Unbekannten verrotten lassen. Also habe ich mir die Genehmigung besorgt, das Grab zu öffnen, um den Schädel zu suchen.“
„Und? Haben Sie ihn gefunden?“
„Ja, eindeutig! Die Männer haben das Grab durchkämmt, alle in Frage kommenden Schädel mitgenommen und rausgesucht.“
„Sicher?“
„Ja, ohne Zweifel.“
„Und wo ist er jetzt begraben?“
„Er ist nicht begraben.“
„Wo ist er dann?“
„Bei mir.“
„Bei Ihnen?“
„Ja, da hinten im Schrank.“
„Ist das nicht beklemmend?“
„Nein. Auf dieses Weise hab ich ihn ganz in der Nähe. Wo er hingehört. Mein Freund Schiller ist zurückgekehrt. Das ist wunderbar. Wenn ich den edlen Schädel betrachte, rührt’s mich. Man sah ihm ja immer schon das Genie an. Sie sind gekommen, um ihn zu sehen, stimmt’s?“
„Gewissermaßen.“
„Ich zeige ihn nicht jedem, Humboldt, können Sie mir glauben.“

Er zieht einen Schlüssel aus der Rocktasche, öffnet den Schrank, neben dem sie Platz genommen haben. Zum Vorschein kommt ein silbern eingefasster Glassturz, ähnlich einer Käseglocke, der mit einem Seidentuch bedeckt ist und auf einem blausamtenen Träger ruht. Ein Gegenstand schimmert hervor. Er streicht über das Glas, streichelt, betastet, tippt darauf wie ein Klavierspieler. Goethe wirft den Kopf in den Nacken, die Stirn glänzt, wölbt sich. Er hebt den Glassturz an. Zum Vorschein kommt ein Schädel. Obwohl die Oberfläche des Knochengebildes schmutzig aussieht, gelbbraune Farbe angenommen hat, wirkt er, als wäre er poliert worden, glänzt im Kerzenlicht. Die Proportionen entsprechen der Idealform, der Vorstellung von Harmonie, Perfektion, Männlichkeit. Humboldt rückt näher, aus Goethes Mund löst sich Speichel, rinnt die Unterlippe herab, während er auf die Reaktion des Gastes achtet, der den Anblick aufsaugt, tief ein- und ausatmet, sodass die Luft als Nebelhauch gegen den Schädel prallt. Humboldt zweifelt keinen Augenblick daran, dass es sich um Schiller handelt, weiß, dass der Schädel keinem Namenlosen gehören kann, Großes geborgen haben muss, Ideen, Energie, Mut. Einige Zähne fehlen, die Verbliebenen stecken schief auf dem Kieferknochen, aber die Form, die Form, drückt Schönheit aus, bricht sich von innen nach außen Bahn, strahlt nach allen Seiten.

„Was sagen Sie, Humboldt? Was für eine Aura!“
„Schiller, zweifellos, spürt man sofort.“
„Geistnatur eben.“
„Deshalb bewahren Sie ihn hier im Zimmer auf, richtig, Goethe?“
„Ich brauche Kraft für das, was ich noch vorhabe.“
„So?“
„Manchmal spricht er mit mir, flüstert. Ich muss genau hinhören, dann verstehe ich ihn, ist aber mühsam mit dem Fritz.“
„Hilft er Ihnen beim Schreiben?“
„Gewissermaßen.“
„Großartig.“
„Wir bräuchten die Jugend zurück, nicht wahr, Goethe?“
„Die Jugend!“ Goethe kichert, schenkt Schnaps nach.
„Ich hab was mitgebracht.“
„Ein Pülverchen?“
„Nein, nein, viel besser!“

Humboldt zeigt zum Koffer. Sternenlicht erhellt den Tisch neben dem Fenster. Er löst Lederverschlüsse, entnimmt einen Gegenstand, der in Tücher eingewickelt, an den Enden verschnürt ist, müht sich mit den Knoten, entwirrt sie. Locken kommen zum Vorschein, verknotete Zöpfe, eine Maske, ein Schrumpfkopf, kaum größer als eine Faust, aus dem Kinderaugen lugen, von denen ein Leuchten ausgeht, als wären sie lebendig.

„Was ist das?“
„Der konservierte Kopf einer Zauberin aus dem Dschungel. Schauen Sie ihr in die Augen!“
„Warum?“, fragt Goethe.
„Werden Sie schon herausfinden!“

Goethe wendet sich zunächst ab, streicht über das Gesicht, reibt die Wangen, um sich zu konzentrieren, nähert sich dann den Augen, streichelt über die Haarsträhnen, fängt an zu zittern, als würden ihn Blitze erschüttern. Er taucht ein.

Humboldt beobachtet den Dichterkönig. Er kennt die Wirkung, hat es selbst probiert, weiß, dass es eine Weile dauert, bis man sich vom Zauber lösen kann, schüttet sich Wein in ein Glas, trinkt, schenkt nach. Der Wein perlt in der Kehle, schmeckt nach Freudentagen am Rhein. Er geht zum Fenster, die Schritte quietschen über das Parkett, betrachtet den Nachthimmel, sucht nach dem Stern, den er Valentina schenken könnte.

Goethe seufzt, murmelt, Worte treiben durch den Raum, hören sich kindlich an, so zart und leise klingen sie, werden lauter, schwellen an, bis er sich von der Zauberin löst, zurückprallt. Tränen laufen ihm übers Gesicht. Humboldt bedeckt den Schrumpfkopf, während Goethe sich sammelt, den Körper strafft, spannt, aufrichtet, während sich die Augen mit Lebenslust füllen. Er lächelt still, als müsse er die Stimmen in sich bändigen.

„Was sagen Sie jetzt, Goethe?“
„Mm, der Zauber hat gewirkt. Es war, als wäre ich auf Sommergras, auf Eis und Steinbergen gewandert. Ich saugte Bergluft ein, erfrischte den Geist, tauchte die Augen in grünstes Grün und weißestes Weiß, roch Blütensüße, sah Rosen, Lavendel und Blumen, die ich nicht kannte, berauschte mich an Mädchen, die mir Fleischstückchen in den Mund schoben. Sie waren barfuß, die meisten nackt, einige mit Seide bekleidet, lachten mit mir, flüsterten mir Worte ins Ohr, kitzelten und neckten mich. Wenn ich an mir herabsah, staunte ich über den Körper eines Zwanzigjährigen. Ich hätte ewig dort bleiben können, aber irgendwann schaute ich zum Himmel und bemerkte dort die Augen dieses merkwürdigen Dings. Sie starrten mich an. Da wusste ich, dass ich mich lösen, aufwachen muss. So war das, Humboldt.“
„Das war erst der Anfang, Goethe!“
„Wirklich?“
„Ja.“
„Pure Magie, das Ding, bemerkenswert.“
„Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen, Goethe.“
„Was?“
„Ich gebe Ihnen die Augen und Sie überlassen mir Schiller. Was halten Sie davon?“

Goethe starrt auf den Schrank, wackelt mit dem Kopf. Dann öffnet er den Mund, die Furchen des Greisengesichts bewegen sich im Takt des Gelächters, so laut, dass er sich die Augen reiben, die Tränen abwischen muss. Er schüttelt den Kopf, zeigt auf Humboldt, als sei er die Ursache eines waghalsigen Witzes, brüllt vor Vergnügen, bis sich Gazellenschritte nähern. Goethe verstummt, als er das Klopfen an der Tür hört. Susanne stürzt herein. Goethe grinst.
„Habe ich etwas zu laut gelacht, meine Liebe? Gehen Sie ruhig wieder zu den anderen, wir kommen gleich nach.“
Er schließt die Tür.
„Humboldt, Humboldt, Sie sind ein Schalk. Für das Zauberding habe ich keine Verwendung. Aber den Schädel können sie haben. Wissen Sie nämlich was? Glauben Sie etwa, das wäre der einzige Schillerkopf, den ich habe? Drei habe ich davon, drei!“
Goethe öffnet den Schrank, weitere Behälter kommen zum Vorschein. Er deckt sie ab, zeigt darauf:
„Suchen Sie sich einen aus, Humboldt! Wissen Sie, das Glück ist eine Verräterin. Die Zeit verrinnt erbarmungslos und vergräbt die Schätze der Vergangenheit. Erinnerungen bleiben als Tränen zurück.“
„Sie können sich‘s mit der Zauberin überlegen, Goethe. Ich bleibe bis Neujahr in Weimar.“
„Da gibt es nichts zu überlegen.“
„Wie Sie wünschen!“
„Humboldt! Was wollen Sie mit Schillers Schädel anfangen?“
„Ach. Ich dachte mir, er wäre ein ideales Exponat für die Ausstellungen des Berliner Kunstvereins oder auf einem Heldenfriedhof.“
„Ein Heldenfriedhof?“
„Ja!“
„Ich lass mich in Weimar vergraben.“
„Den Sie mir zuerst gezeigt haben, den würde ich gern mitnehmen.“
„Einverstanden.“

Goethe packt die verbleibenden Schädel weg, während Humboldt Schiller und den Schrumpfkopf einpackt, den Koffer verschließt.

Am Silvesterabend tanzt Goethe mit Susanne ins kommende Jahr. Humboldt feiert beim Fürstenpaar. Am 2. Januar 1827 besteigt er den Schlitten, hievt den Hutkoffer auf den Verschlag und zerrt die Gurte fest. Die Wintersonne erhellt den Abfahrtstag, mildert die bittere Kälte. Zum Abschied trägt Goethe Perücke, steht dichterfürstenlächelnd auf der Treppe, winkt Humboldt zu, schaut ihm nach, bis er am Horizont verschwindet. Der Koffer kommt nie in Berlin an, die Zauberin verflüchtigt sich ebenso wie der Schädel Schillers, vielleicht haben sich die Zauberaugen zu weit geöffnet, kamen den Sternen zu nahe.

Epilog

Abweichend vom Text befand sich Humboldt seit dem 24.September 1826 zu Besuch in Goethes Haus.

In einem Brief an seine Frau berichtet Humboldt: „Heute Nachmittag habe ich bei Goethe Schillers Schädel gesehen. Goethe und ich – Riemer war noch dabei – haben lange davorgesessen, und der Anblick bewegt einen gar wunderlich. Was man liebend so groß, so teilnehmend, so in Gedanken und Empfindungen vor sich gesehen hat, das liegt nun so starr und tot wie ein steinernes Bild da. Goethe hat den Kopf in seiner Verwahrung, er zeigt ihn niemand. Ich bin der einzige, der ihn bisher gesehen hat, und er hat mich sehr gebeten, es hier nicht zu erzählen …“

Goethe vollendete den zweiten Teil des Faust und starb wenige Jahre später am 22. März 1832. Er hatte zwei Särge zimmern lassen. In einem befanden sich die Überreste Schillers, der Schädel nebst den Knochen, die auf Geheiß Goethes nachträglich aus dem Massengrab exhumiert worden waren. Die beiden Dichter-Särge schmückten die Weimarer Fürstengruft.

Humboldt wurde 68 Jahre alt und starb am 8.April 1835. Sein Grabmal befindet sich im Park des Tegeler Schlosses neben dem seines Bruders Alexander.

1911 ließ der Anatom August von Tronep zu Studienzwecken das Gräberfeld, aus dem Schillers Knochen stammten, erneut untersuchen. Geborgen wurden 63 Totenköpfe. Eine Gutachterkommission erklärte einen davon zum wahren Schädel Schillers. Daraufhin gesellte sich ein weiterer Sarg zu den beiden anderen in die Weimarer Fürstengruft.

Im Jahr 2008 ergab eine DNA-Analyse, dass in keinem der Särge Schiller liegen könne. Zur Überprüfung wurden aus Gräbern seiner Nachfahren Proben entnommen.

 

Lieber Friedel,

was mags am Karnevalsfreitag besseres geben als verspätete Antworten auf funkelmariechende Hilfestellungen, wie sie vom Meister schillernder Sageninterpretationen gezeitigt werden können.

ich schon wieder, hab ja auch einen Narren an dem Schelmenstück gefressen. Weißtu ja. Und es lassen sich tatsächlich einige Flusen finden, denn selbst für eine Lesung empfiehlt sich Korrektheit oder doch deren höchstmögliche Annäherung in der Schriftform.
ein Schelmenstück, oha, so denkst du also über die Herren Humboldt und Goethe, wesgleich mein Stückchen doch bloss versucht, die Sachlage faktisch aufzuarbeiten.
Aber die Flusenbeseitigung, die habe ich mit aller Kraft vollzogen. Und wenn's denn zur Lesung kommt, bin ich bestens vorbereitet. Vielen Dank!

Jede Wette, die beiden kannten den Genitiv, „Schillers wegen“ oder, da bin ich über Duden.de verblüfft, einfach „wegen Schiller“ (ohne Genitiv-s). Eine uralte Form wäre sogar "wegen Schllern", aber da bin ich mir nicht so sicher, ob es zu Zeiten Grimmelshausen schon seltener wurde ... Schiller hätte man da fragen können (nicht nur wegen der Geschichte des 30jährigen Krieges und des Aufstandes der Niederlande).
altertümelnde Formen, ja, finde ich einerseits reizvoll, aber dann doch eher leserabschreckend, den Text falsch einordnend, als ob's man ihn in die Gemütlichkeit vergangener Jahrhunderte einordnen dürfte.

Traustu dich denn nu, Rheinhessisch (ein fränkischer (!) Dialekt, die Chatten, von denen die Hessen ihren Namen haben, waren Rheinfranken und Goethe schämte sich nicht seines Dialektes. Sollte überhaupt niemand tun,
mm, ja, aber ich beherrsch des hessisch ned gut genuch, da bräucht's fünf Bembel und die Hilfe von @Novak :D

viele Faschingsbembelgrüße
Isegrims

 

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