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Herbst
Ich sitze im Café am Markt, trinke Tee und lese meine Zeitung. Vertieft in einen interessanten Artikel, merke ich erst gar nicht, was um mich herum geschieht. Ich höre nur jemanden husten und herumschimpfen, aber nur mit einem Ohr. Im Herbst hört man oft Leute husten und schimpfen hört man die Leute sowieso. Als ich mich endlich doch umdrehe, sehe ich, dass es eine alte Frau ist, die hustet und schimpft.
Ich erinnere mich, sie schon öfter in der Innenstadt gesehen zu haben, sie läuft immer herum mit einer großen Tasche, stets eine Zigarette im Mund, schwarz gekleidet.
Ich bemerke, dass alle im Raum zu mir und der Frau herüberstarren. Sie hustet wieder und schimpft und jetzt verstehe ich auch, was sie sagt.
„Unverschämtheit. Schalten Sie das Gerät aus, Sie unverschämter Kerl. Sofort“, sagt sie. Ich sehe mich um, ich sehe niemanden mit einem Gerät.
„Sie, Sie meine ich. Schalten Sie es aus. Frechheit“, sagt sie. Sie meint mich.
Ich sehe sie verständnislos an. Sie hustet wieder. Es ist ein böser Husten, ein Mischung aus Erkältungshusten und Raucherhusten.
„Sie sollen das Gerät ausmachen, unverschämter Kerl“, ruft sie wieder.
„Was für ein Gerät denn?“, sage ich.
„Tun Sie doch nicht so. Schalten Sie sofort das Gerät aus“, sagt sie und sieht aufgebracht zu mir herüber.
„Ich habe kein Gerät“, sage ich.
„Schalten Sie das Gerät aus, sofort“, sagt sie. „Er hat ein Gerät in seiner Tasche, das meinen Husten auslöst. Es ist eine Unverschämtheit.“, sagt sie zu den anderen Gästen, die teils belustigt, teils peinlich berührt aus den Augenwinkeln herübersehen. Ich fange den Blick der Kellnerin auf, die an der Theke steht, sie zuckt die Achseln und lächelt gezwungen. Sie ist jung, höchstens 19, traut sich nicht, einzugreifen.
Ich falte die Zeitung zusammen und stehe auf. Mein Mantel hängt über dem Stuhl, ich ziehe ihn an. Den Rest meines Tees trinke ich schnell im Stehen aus.
„Ja, ja, gehen Sie nur, Sie unverschämter Kerl“, ruft die Frau.
Ich gehe zu der Kellnerin hinüber, gebe ihr einen Schein und wehre ab, als sie mir herausgeben will. Sie dankt mir.
„Denken Sie sich nichts. Die kennen wir schon, die spinnt“, sagt sie.
„Ist schon gut“, sage ich und gehe. Als ich mich auf der Straße noch mal umdrehe und durch die Glasscheiben ins Café sehe, treffen mich die Blicke der Gäste, die mir nachglotzen, und ich fühle mich wie ein Freak, den die Leute anstarren. Ich ziehe den Mantel enger, denn es ist kalt geworden.