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Herbstmärchen
„Ey Du, haste mal’n paar Cent? Mir ist scheißkalt!“ Sarah hebt erwartungsvoll die Hand, als sich ihr ein junger Mann mit dunkler Hautfarbe nähert. „Nur’n paar Cent. Für ’nen Kaffee, oder ’nen Tee.“ Nichts, keine Reaktion. Der Typ geht einfach an ihr vorbei, dreht sich nicht einmal zu ihr um. Sarah blickt ihm nach. Binnen weniger Sekunden ist er in der Menschenmasse verschwunden, die sich durch die Karl-Marx-Straße schiebt. Graues Gewusel. Mit Plastiktüten und Handtaschen geschmückt. „Alles Zombies.“, schreit sie ihm hinterher. „Auch Du bist’n scheiß Zombie!“ An ihrem Kinn hängt ein Speichelfaden, der im eisigen Herbstwind hin- und hertänzelt. Ohne Anfang, ohne Ende. Ein vollkommenes Labyrinth. „Alles scheiß Zombies, alles scheiße.“ Ihre Stimme verliert schnell an Kraft und Ausdruck. Niemand, der ihr zuhört, niemand, der sie wahrnimmt. Sarah drückt sich tiefer in den Hauseingang; die löchrige Decke über die Schultern geworfen. Mit zittriger Hand fährt sie sich durch das Haar, strähnig und schütter. Schon seit zwei Stunden sitzt sie in der Kälte, schon seit zwei Stunden hofft sie darauf, daß ihr jemand ein paar Münzen zuwirft, damit sie sich endlich etwas zu trinken besorgen kann. Doch bisher hofft sie vergeblich. Im Gegenteil, als sei dies nicht schon schlimm genug, fing sie sich vorhin auch noch Ärger mit dem Wachpersonal des Forums ein. „Zu nah am Eingangsbereich. Lächerlich!“, spottet sie. Jeden Tag sitzt sie hier, jeden Tag, manchmal auch mit ein paar Bekannten, die ebenfalls darauf warten, zu Herrn Dr. Fiedler vorgelassen zu werden. Herr Dr. Fiedler, der Schutzpatron aller Freaks. Sarahs Gedanken kreisen nur noch um das Methadon, welches sie sich später abholen wird, süßliches Methadon, kostenloses Methadon. Klar, bloß ein kümmerlicher Ersatz, aber besser als gar nichts. Während sie spürt, wie ihr zunehmend übler wird, betrachtet sie ihre abgekauten Fingernägel. Zeittropfen sammeln sich an ihnen und stürzen in die Tiefe, vermischen sich mit Kot und Erbrochenem. Schale Erinnerungen, unter Schmutz und Geröll begraben. „Brauch’ was zur Ablenkung, irgend etwas, irgend ’ne andere Scheiße.“ Übelkeit und Nervosität, zwei vortreffliche Gesellen. Sarahs Augäpfel drehen und winden sich in ihren Höhlen. „Bleib ruhig, Kleines, noch ein bißchen Geduld.“ Der Durchhalteparole zum Trotz fällt es Sarah zunehmend schwerer, ruhig zu bleiben. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und einfach davongerannt. Immer gen Süden, dorthin, wo es gleichermaßen warm und freundlich ist, dorthin, wo die Menschen keine Zombies sind. Ihre Augen schließen sich; Sternenmeere ziehen vorbei. Sie stellt sich vor, im tiefblauen Ozean zu versinken, sich im unergründlichen Naß zu verlieren. Dahinfließen, schweben, fallen. Zwecklos! Eine kreischende Krankenhaussirene, deren rotierendes Farbenspiel sich in den Schaufenstern widerspiegelt, zerschneidet die Stille. Sarahs Puls beginnt zu rasen; ihr Blut zu kochen. Vor ihrem geistigen Auge steigen purpurne Bläschen empor und zerplatzen mit einem schmatzenden Geräusch. „Was ’ne gottverdammte Scheiße! Ich muß hier weg.“ Aber wohin? Das Wohnheim in der Teupitzer Straße öffnet seine Pforten erst bei Anbruch der Dämmerung. Und um diese Uhrzeit Herrn Dr. Fiedler zu behelligen, wäre ebenfalls ziemlich unklug. Sarah faßt sich instinktiv an die Wange; sie erinnert sich. Schmerzen. „Verstehen Sie nicht? Die Ausgabe ist immer um 16:00 Uhr. Dr. Fiedler hat jetzt keine Zeit für Sie. Machen Sie also, daß Sie rauskommen.“ Doch Sarah verstand nicht. Erst als es zwei Ohrfeigen setzte, hatte sie ein Einsehen. Noch Tage später war ihre Wange geschwollen. Rot und Blau, wie die Sirene des Krankenwagens. „Dreckswichser!“ Sarah wühlt in den Taschen ihres zerschlissenen Anoraks; nach kurzer Zeit wird sie fündig. Ihre Lippen umschließen einen Zigarettenstummel, dessen Filter sich bräunlich verfärbt hat. Gierig zieht sie den Rauch in ihre Lungen ein, hält ihn dort eine Weile und hustet ihn dann in Begleitung eines rötlichen Auswurfs wieder aus. Eisatem. Mit Blut verfeinert. Sarah beobachtet, wie Rauch und Himmel langsam eins werden. Graue Wolkenfelder. Endlos. „Gibt’s denn kein scheiß Licht in dieser scheiß Stadt!?!“ Ein lauter Knall. Zwei Autos. Metallene Vereinigung. Das Ende ist nahe; sogar der amorphe Menschenstrom hält einen Augenblick inne und berauscht sich am Geschehen. Sarah blinzelt. Scheinwerfer tauchen sie in ein weißgrelles Hell. „Kann mal jemand das scheiß Licht ausmachen.“ Schützend hält sie eine Hand vor die Augen; Tränen glitzern auf ihren Wangen. Die Zeit steht still ...
... Schatten. Eine hochgewachsene Gestalt baut sich vor dem Hauseingang auf, schiebt sich zwischen Scheinwerfer und Mensch. Herrliche Dunkelheit. Sarah mustert den Fremden, dessen Gesicht hinter einem starken Bartwuchs verborgen liegt. „Was haste für’n Problem?“, giftet sie. „Noch nie ’ne Obdachlose gesehen?“ Anstatt zu antworten, greift der Fremde in seine Tasche und reicht Sarah einen Geldschein. Als sie das Geld einsteckt, scheint ihr, als umspiele ein Lächeln die wulstigen Lippen des Fremden. „Danke! Das wurde auch mal Zeit. Sitze hier schon ’ne halbe Ewigkeit.“ Abermals Sirenen. Polizisten treiben die Schaulustigen auseinander; Menschen, unter ihnen auch der Bärtige, verschmelzen wieder zu einem einzigen Körper. Gleichförmig, unförmig. Sarah kann ihr Glück kaum fassen; ohne Umwege begibt sie sich in die Spirituosenabteilung von Kaufland und tauscht das Geld gegen flüssiges Vergessen ein.