Was ist neu

Herbstmärchen

Mitglied
Beitritt
24.10.2006
Beiträge
3
Zuletzt bearbeitet:

Herbstmärchen

„Ey Du, haste mal’n paar Cent? Mir ist scheißkalt!“ Sarah hebt erwartungsvoll die Hand, als sich ihr ein junger Mann mit dunkler Hautfarbe nähert. „Nur’n paar Cent. Für ’nen Kaffee, oder ’nen Tee.“ Nichts, keine Reaktion. Der Typ geht einfach an ihr vorbei, dreht sich nicht einmal zu ihr um. Sarah blickt ihm nach. Binnen weniger Sekunden ist er in der Menschenmasse verschwunden, die sich durch die Karl-Marx-Straße schiebt. Graues Gewusel. Mit Plastiktüten und Handtaschen geschmückt. „Alles Zombies.“, schreit sie ihm hinterher. „Auch Du bist’n scheiß Zombie!“ An ihrem Kinn hängt ein Speichelfaden, der im eisigen Herbstwind hin- und hertänzelt. Ohne Anfang, ohne Ende. Ein vollkommenes Labyrinth. „Alles scheiß Zombies, alles scheiße.“ Ihre Stimme verliert schnell an Kraft und Ausdruck. Niemand, der ihr zuhört, niemand, der sie wahrnimmt. Sarah drückt sich tiefer in den Hauseingang; die löchrige Decke über die Schultern geworfen. Mit zittriger Hand fährt sie sich durch das Haar, strähnig und schütter. Schon seit zwei Stunden sitzt sie in der Kälte, schon seit zwei Stunden hofft sie darauf, daß ihr jemand ein paar Münzen zuwirft, damit sie sich endlich etwas zu trinken besorgen kann. Doch bisher hofft sie vergeblich. Im Gegenteil, als sei dies nicht schon schlimm genug, fing sie sich vorhin auch noch Ärger mit dem Wachpersonal des Forums ein. „Zu nah am Eingangsbereich. Lächerlich!“, spottet sie. Jeden Tag sitzt sie hier, jeden Tag, manchmal auch mit ein paar Bekannten, die ebenfalls darauf warten, zu Herrn Dr. Fiedler vorgelassen zu werden. Herr Dr. Fiedler, der Schutzpatron aller Freaks. Sarahs Gedanken kreisen nur noch um das Methadon, welches sie sich später abholen wird, süßliches Methadon, kostenloses Methadon. Klar, bloß ein kümmerlicher Ersatz, aber besser als gar nichts. Während sie spürt, wie ihr zunehmend übler wird, betrachtet sie ihre abgekauten Fingernägel. Zeittropfen sammeln sich an ihnen und stürzen in die Tiefe, vermischen sich mit Kot und Erbrochenem. Schale Erinnerungen, unter Schmutz und Geröll begraben. „Brauch’ was zur Ablenkung, irgend etwas, irgend ’ne andere Scheiße.“ Übelkeit und Nervosität, zwei vortreffliche Gesellen. Sarahs Augäpfel drehen und winden sich in ihren Höhlen. „Bleib ruhig, Kleines, noch ein bißchen Geduld.“ Der Durchhalteparole zum Trotz fällt es Sarah zunehmend schwerer, ruhig zu bleiben. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und einfach davongerannt. Immer gen Süden, dorthin, wo es gleichermaßen warm und freundlich ist, dorthin, wo die Menschen keine Zombies sind. Ihre Augen schließen sich; Sternenmeere ziehen vorbei. Sie stellt sich vor, im tiefblauen Ozean zu versinken, sich im unergründlichen Naß zu verlieren. Dahinfließen, schweben, fallen. Zwecklos! Eine kreischende Krankenhaussirene, deren rotierendes Farbenspiel sich in den Schaufenstern widerspiegelt, zerschneidet die Stille. Sarahs Puls beginnt zu rasen; ihr Blut zu kochen. Vor ihrem geistigen Auge steigen purpurne Bläschen empor und zerplatzen mit einem schmatzenden Geräusch. „Was ’ne gottverdammte Scheiße! Ich muß hier weg.“ Aber wohin? Das Wohnheim in der Teupitzer Straße öffnet seine Pforten erst bei Anbruch der Dämmerung. Und um diese Uhrzeit Herrn Dr. Fiedler zu behelligen, wäre ebenfalls ziemlich unklug. Sarah faßt sich instinktiv an die Wange; sie erinnert sich. Schmerzen. „Verstehen Sie nicht? Die Ausgabe ist immer um 16:00 Uhr. Dr. Fiedler hat jetzt keine Zeit für Sie. Machen Sie also, daß Sie rauskommen.“ Doch Sarah verstand nicht. Erst als es zwei Ohrfeigen setzte, hatte sie ein Einsehen. Noch Tage später war ihre Wange geschwollen. Rot und Blau, wie die Sirene des Krankenwagens. „Dreckswichser!“ Sarah wühlt in den Taschen ihres zerschlissenen Anoraks; nach kurzer Zeit wird sie fündig. Ihre Lippen umschließen einen Zigarettenstummel, dessen Filter sich bräunlich verfärbt hat. Gierig zieht sie den Rauch in ihre Lungen ein, hält ihn dort eine Weile und hustet ihn dann in Begleitung eines rötlichen Auswurfs wieder aus. Eisatem. Mit Blut verfeinert. Sarah beobachtet, wie Rauch und Himmel langsam eins werden. Graue Wolkenfelder. Endlos. „Gibt’s denn kein scheiß Licht in dieser scheiß Stadt!?!“ Ein lauter Knall. Zwei Autos. Metallene Vereinigung. Das Ende ist nahe; sogar der amorphe Menschenstrom hält einen Augenblick inne und berauscht sich am Geschehen. Sarah blinzelt. Scheinwerfer tauchen sie in ein weißgrelles Hell. „Kann mal jemand das scheiß Licht ausmachen.“ Schützend hält sie eine Hand vor die Augen; Tränen glitzern auf ihren Wangen. Die Zeit steht still ...

... Schatten. Eine hochgewachsene Gestalt baut sich vor dem Hauseingang auf, schiebt sich zwischen Scheinwerfer und Mensch. Herrliche Dunkelheit. Sarah mustert den Fremden, dessen Gesicht hinter einem starken Bartwuchs verborgen liegt. „Was haste für’n Problem?“, giftet sie. „Noch nie ’ne Obdachlose gesehen?“ Anstatt zu antworten, greift der Fremde in seine Tasche und reicht Sarah einen Geldschein. Als sie das Geld einsteckt, scheint ihr, als umspiele ein Lächeln die wulstigen Lippen des Fremden. „Danke! Das wurde auch mal Zeit. Sitze hier schon ’ne halbe Ewigkeit.“ Abermals Sirenen. Polizisten treiben die Schaulustigen auseinander; Menschen, unter ihnen auch der Bärtige, verschmelzen wieder zu einem einzigen Körper. Gleichförmig, unförmig. Sarah kann ihr Glück kaum fassen; ohne Umwege begibt sie sich in die Spirituosenabteilung von Kaufland und tauscht das Geld gegen flüssiges Vergessen ein.

 

Wunderschön.^^
Eher bewegend...

Aber so scheints wohl zu sein...

Allerdings finde ich, dass bis zur Hälfte des Textes viele Wiederholungen sind...bestimmt sehr absichtlich gesetzt und sehr gewollt...aber ich bin sowieso kein Fan von Wiederholungen, nimms nicht übel...

Achso: Jetzt darf ich auch mal Herzlich Willkommen sagen (bin auch erst paar Tage hier)...

Weiter: Manchmal irritiert mich der normale Stil, der unterbrochen von komplizierten Metaphora wird. Aber ich finds jetzt nicht mal mehr im Text(ist auch schon spät)...also wohl doch gut...

Abschließend: Sehr schöne Beschreibungen, ich konnte mich sehr gut denken, wie das da aussieht und wirkt und alles...

Super Geschichte!

 

Hallo Bataille,

das Herzlich Willkommen hast du ja schon Nachtegen bekommen ... frage mich gerade, was dein Kürzel zu bedeuten hat.

Nun man muss sagen, für ein Erstlingswerk nicht schlecht. Da ist Potential vorhanden, auf jeden Fall. Was du wahrscheinlich nicht wissen kannst, ist allerdings, dass du einen Typ von Geschichte abgeliefert hast, der hier recht häufig aufschlägt: Die Beschreibung einer fertigen Protagonistin (oder das männliche Pendant). Ich frage mich ob dies ein Modethema ist oder Ausdruck unserer Zeit, aber auf jeden Fall gibt es das selbe Thema hier schon in unzähligen Varianten.

Deine Umsetzung ist vergleichsweise geschmackvoll und sprachlich schön. Von der äußeren From her besteht die Geschichte aus einem einzigen riesigen Block der Beschreibung ohne Absätze. Das ist ein Kritikpunkt, an welchem ich ansetzen möchte. Das ist, was Nachtregen Wiederholungen genannt hat. Man kann es auch Länge nennen oder boshaft formuliert, die Geschichte zieht sich wie ein Kaugummi.

Auf jeden Fall würde ich zu einer optischen Gliederung raten.

Gegen Ende hin passiert dann etwas mehr, der Unfall, allerdings habe ich nicht ganz begriffen, was er mit dem Rest zu tun hat. Sind das unabhängige Geschehnisse oder hat die Protagonistin etwas mit dem Crash zu tun?

Ansonsten unbedingt weitermachen,

LG,

N

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo,

vielen Dank für die freundlichen Worte! :-)

Eure Kritikpunkte haben sicherlich Hand und Fuß. Meine Absicht war es jedoch, den quälenden Alltag der Protagonistin auch "quälend" zu gestalten bzw. umzusetzen. Im besten Falle spürt das der Leser auf physische Weise. Ob mir das gelungen ist, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Würde ich allerdings mehr Synonyme einsetzen oder das Schriftbild auflockern, bestünde die Gefahr, von meiner eigentlichen Intention abzuweichen. Ich hoffe, ihr versteht, was ich meine.

Daß solch düstere "Alltagsprosa" in unterschiedlichen Variationen bereits existiert, konnte ich tatsächlich nicht wissen. Allerdings überrascht es mich auch nicht sonderlich, sind doch die Straßen - gerade hier in Neukölln - voll von Menschen wie Sarah und Dr. Fiedler. (Ich bin mir nicht ganz sicher, Nicole, was Du mit der Beschreibung eines "fertigen Protagonisten" meinst. Vielleicht kannst Du das ja ein bißchen ausführen.)

Der Unfall passiert einfach. Und Sarah befindet sich zufällig in der Nähe. (Das erscheint vielleicht etwas konstruiert, ist aber auch eher als ein Bild zu verstehen.)

(Georges) Bataille gehört zu meinen favorisierten Autoren. Es zeugt jedoch meinerseits nicht sonderlich von Originalität, mich in einem Literaturforum nach einem Schriftsteller zu benennen. ;-)

Ich wünsche noch einen schönen Tag!

 

Na Bataille,

weils du bist, noch ein kleiner Nachtrag, leicht überspitzt:

Der fertige Protagonist:

-beschreibt seitenweise, was in ihm passiert, wenn er sich etwas eingeworfen hat

-breitet in kleinsten Details den Inhalt seines Seelenlebens aus

-kann kilobyteweise Text produzieren, nur um zu beschreiben, wie dreckig es ihm geht

-ist ein kaputtes Element unserer Gesllschaft, das aus eigener Kraft nicht aus seinem Loch mehr herauskommt

-lebt in einer Traumwelt/Phantsiewelt oder Wahnvorstellungen.


Die Liste ließe sich fortsetzen. Was ich eigentlich sagen wollte, es gibt so einen Prototyp von Geschichte hier, der sich aus den oben genannten Punkten bedient. Die Schilderung kann in der ersten oder dritten Person erfolgen. Wenn du das absolute Negativbeispiel (zum Glück ganz kurz) lesen willst, empfehle ich dir Poppen. Lesenswert sind vor allem auch die Kritiken.

Was ich eigentlich sagen wollte, bei derartig stark verbreiteten Themen kommt es extrem auf die sprachlichen Qualitäten einer Geschichte an, eine Gratwanderung.

LG,

N

 

Oha, jetzt verstehe ich: "Fertiger Protagonist"! Ich dachte zunächst, Du meinst einen Charakter, dessen Entwicklungsspielraum stark begrenzt bzw. gar nicht vorhanden ist - im Sinne von "abgeschlossen". Dank' Dir jedenfalls für Deine Erläuterungen ... :-)

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom