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Herbsttag
Es ist 17:12 Uhr, die Sonne scheint noch warm in mein Arbeitszimmer, doch der Herbst hält hartnäckig Einzug, ich sehe Nonnengänse unter den Wolken, auf dem Weg in den Süden. Eine dicke Kreuzspinne hat ihr Netz vor meinem Fenster gesponnen und fasziniert betrachte ich den Todeskampf einer schillernden Libelle, hole meine Digitalkamera und linse durch den Sucher. Das Kreuz auf dem dicken Leib tritt deutlich hervor.
Es ist 22:46 Uhr. Die Schreibtischlampe ist ein Relikt aus den Siebzigern und ein Wackelkontakt am Schalter verweigert der sechzig Watt Glühbirne die nötige Stromzufuhr, damit sie leuchten kann. Mein Zeigefinger drückt wiederholt und ungeduldig den weißen Anschaltknopf, doch die Lampe will nicht, bis ich schließlich den Schalter gedrückt halte und warte.
Warte, dass Licht die Dunkelheit erhellt.
Es ist 23:26 Uhr, mein PC ist hochgefahren und ich kopiere die digitalen Bilder vom Speicherchip des Fotoapparates. Die Spinne, die Libelle, die Nonnengänse und die herbstliche Blutbuche, aufgenommen am 12.09.2009.
Auch ältere Aufnahmen werden übertragen. Schnappschüsse, wie aus einer anderen Zeit. Einschulung, Sommerurlaub, Hochzeitstag, Weihnachten. Timo mit Hannah, strahlende Kinderaugen, fest auf die Kamera gerichtet. Aber kein Bild von mir.
Es ist 02:02 Uhr. Der Fernseher läuft, treibt die Stille aus dem Haus. Zwanzig Filme sind auf der Festplatte des Decoders gespeichert, die Headtitles sind nach Aufnahmedatum gelistet. Der cursor zeigt Titel auf Titel, mit der kleinen gelben Taste der Fernbedienung lösche ich Vergangenes aus.
Es ist 07:15 Uhr. Ich muss eingeschlafen sein. Steif erhebe ich mich vom Sofa. Nebel hat Spinnenweben zu Seidentüchern werden lassen.
Es ist 09:15. Die Tachonadel steigt. Die Sonne durchbricht den Schleier. Blendet. Mein Herz rast mit mir um die Wette.
Es ist 09:18 Uhr. Endlich der verbrannte Geruch von Gummi.
Ich vermisse Euch.