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Herr Fischer giert nach Welt

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Monster-WG
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10.07.2019
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Anmerkungen zum Text

Keine Kurzgeschichte, eher eine Beschreibung? Vor einiger Zeit geschrieben. Alle Personen sind frei erfunden, natürlich. Bin gespannt und neugierig auf das Feedback.
kiroly.

Herr Fischer giert nach Welt

Den Kindergarten zerstörte ein T-34-Panzer aus uralischer Produktion. Er erhob sein Röhrchen vom Stoppelfeld, zirkulierte um alte Halme und befeuerte den Kindergarten. Zu Flocken. Flocken rieseln an Panzerfurchen und Süßgräsern. Flocken haften an rostiger Schaukel. Flocken, eingeschmolzen zu stummen Granaten, lagern an Lungenbläschen.
Dem Rekruten unbekannten Ranges interessierte ein Lob des Vorgesetzten. Interessen legen sich, Interessen bleiben, Interessen schoben Panzer an das verlassene Dorf.
"Da steht ein Schild. Da steht ein Schild meines Kindergartens."
"Da war keine Wahl."
"Da kamen die Roten."
Herr Fischer habe die Wohnung vor drei Monaten zu einer ärztlichen Untersuchung verlassen. "Alles komisch! Die Busse! Wo kommen alle Busse her?"
Der Pflegedienst klickt den Einsatz ab und wünscht einen schönen Abend.

*​

Seit dem durch "Nahrungsergänzungsmittel" verursachten Tod der Ehefrau 1997: Zu viel Zimmer, zu viel Tag, zu viel Essen auf Rädern: Ein Mensch mit einer Wahrnehmung, deren Ecken rauschhafte Traurigkeit verschmiert. Die Welt wird eine Collage aus Erinnerungs-Versatz-Stücken. Der Panzer, der Bach, die Roten, die Anderen, der Garagennachbar, die Frau, Vitamin A bis Zink, Grabstein, Kochklopse und Kindergarten.
„1970 mussten wir weg. Ein halber Meter Braunkohle! Haaalber Meter!“
„Ja, so war das, aber jetzt ist es anders“, sagt der Pflegedienst und zählt die Minuten.
„Die haben jetzt gebracht: Plaste im Darm! Ich dachte, wir sterben an Atombomben, und jetzt an Plaste!“
"Morgen kommt der Medizinische Dienst der Krankenkassen, MDK, Herr Fischer. Um neun Uhr dreißig! Sei'n Sie da!"
"Ich bin seit drei Jahren da."
Der Pflegedienst notiert die diagnostizierte Depression als das "Ass im Ärmel" und klickt den Einsatz ab.

*​

Der Medizinische Dienst der Krankenkassen begutachtet Herrn Fischers Intimhygiene. Man habe...sieben Einsätze und eine kleine Zeitspanne, man wünsche schöne Vormittage und schöne Nachmittage. Man sei nett. Man habe Listen.
„Herr Fischer, tun Sie mal so, als gingen Sie auf Klo.“
Herr Fischer simuliert Toilette und führt die Hand an den Hintern, fragt, ob er das richtig mache. Seine Augen suchen etwas, das er verloren hat und nicht benennen kann. Der MDK presst Lippen zusammen und sagt zum Pflegedienst:
„Das wird eine Eins. Intimhygiene fachgerecht. Sorry.“
"Er hat eine diagnostizierte Depression."
„Wo diagnostiziert?“
„Uniklini-“
„Das bleibt eine Eins.“
„Nein, Psychiatrie Döl-“
"Dann wird's eine Zwei."
Herr Fischer erhält eine grüne Akte und ist nun Teil des Pflegeversicherungssystems der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 , Leistungsempfänger/in durch einen ambulanten Pflegedienst mit Herzen und Leidenschaften und Freuden und Lieben und vielen nie ausgebildeten Mitarbeitern.
Der Pflegedienst klickt den Einsatz ab.

*​

Die Granaten schweigen. Herr Fischer benötigt einen Beinbeutel. Ein Beinbeutel - der Pflegedienst betont, das sei ein Organ, das sei etwas Inneres, nichts Äußeres - besteht aus Beutel, Gurt und Schlauch. Die speziell für Beinbeutel autorisierte Apotheke im sog. Stadtzentrum berichtet: Die Krankenkasse von Herrn Fischer müsse die Kostenübernahme faxen. Nach Weihnachts- und Silvesterpause genehmigt die Krankenkasse den Beinbeutel. Herr Fischer fragt, ob nach dem Schnee die Eiszeit beginne, der Pflegedienst verneint und spricht von kalter Luft aus Nordeuropa.
Die Apotheke meldet Ende Januar ein Lieferproblem des Beinbeutels aus Łódź, nicht jedoch des Beinschlauches aus Hannover und des Gurtes aus Civitavecchia. Inzwischen hat ein neues Quartal begonnen. Die Urologiehelferin fragt mit Verweis auf Excelzellen den Pflegedienst, warum keine neuen Beutel aus dem System kämen, der Pflegedienst spricht von technischen Problemen im Großraum Łódź. Inzwischen entzündet sich Herrn Fischers Peniseichel, er erhält eine antibiotische Salbe. Mitte Februar: Die Krankenkasse habe eine Gesetzesnovelle nicht beachtet und übernehme nicht den Gurt, jedoch Schlauch und Beutel. Ende Februar: Durch geschicktes Umtaktieren der Verwaltungskräfte des Pflegedienstes und der Apothekerin erreicht ein Beinbeutel aus dem dänischen Aarhus (altdänische Schreibweise) am 27. Februar die Apotheke.
Herr Fischer wird in das Krankenhaus eingeliefert, da er roten Urin pinkelt und Hustenanfälle erleidet. Der Pflegedienst notiert Husten und RTW-Einsatz, der RTW fragt nach den Beinbeuteln. Der läge in der Apotheke und sei per Expresskurier aus Aarhus gekommen.
"Schöne Stadt, schöne Frauen", sagt der Sanitäter.
"Dänemark ist einfach schön."
Der Pflegedienst klickt den Einsatz ab.

*​

Herr Fischer erreicht per Pflegedienst seine Umsiedler-Wohnung. "Da haben die die Prostata abgehobelt! Wie ein Bagger!"
Anfang März hält ein Kältehoch die Siedlung in scharfem Frost."Ich weiß nicht, wie das weitergeht...", sagt er, der Pflegedienst notiert seine Worte.
Herr Fischer.
Seine Augen ruhen nie still. Er marschiert im Wackelgang (Sturzprophylaxe) durch Gänge breiiger Luft. Das Essen schmeckt selten. Brocken von Kartoffeln wandern zerstückelt durch die Speiseröhre in einen Magen. Die Luft klumpt von Heizung und Fischer. Als der Pflegedienst den Einsatz abklicken will, bittet Herr Fischer, zu bleiben. Seine Augen suchen Kontraste in der Abendschwärze. Man erahnt einen alten Laubbaum; man erahnt einen Neumond, man erahnt die neuen Wälder hinter den alten Fresskanten der Förderbrücke F-45. Herr Fischer? Herr Fischer?, fragt der Pflegedienst.
"Ich glaube, der Kindergarten, den haben sie zerstört. Dann hat sich meine Mutter umgebracht. Einfach so. Und ich habe im Kraftwerk gearbeitet, auf dem Kran. Ich habe das Eis weggehackt, damit die Kohle laufe."
Der Pflegedienst schiebt sich eine Pause in den Dienst. "Möchten Sie einen Tee? Oder ein Glas Wasser?"
"Schmeckt alles gleich."
Der Pflegedienst klickt den Einsatz ab.

*​

Herr Fischer verlässt die Umsiedler-Wohnung. Er humpelt zur einzigen Bushaltestelle "Straße der Freundschaft" und wartet. Die Mitte des März überrascht niemanden mit neuer feuchtwarmer, atlantischer Luft. Sie spiegelt etwas wider, das er zu begreifen versuchte. Es bleibt eine Enttäuschung. Die Hauptstraße leerte sich vor Nacht und die Busse hatten kein Interesse. Im Pflegedienst schliefen die MitarbeiterInnen satt und beruhigt vor dem nächsten Frühdienst.
Herr Fischer setzt sich auf die Bushaltestellen-Bank und wartet. Hinter den neuen Wäldern lag der Kindergarten. Lag er. Lag er im Gras, ehe die Interessen seine Schaukel absprengten. Er habe von einer Armeeübung gehört. Fahnen flatterten im Wind, Orden klimperten an Brüsten und Flohmärkten.
Egal.
Die Granaten schweigen.
Herr Fischer öffnet den Mund, lässt März um März in sich hinein. Die Granaten entzünden sich: Ein Rucken, ein straff gewordener Blick, ein Impuls, der das Erinnerte verschluckt.
Herr Fischer kippt um.
Der Pflegedienst kann den Abendeinsatz nicht abklicken.

 
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Hallo @kiroly

standesgemäß erstmal willkommen im Forum. :)

Ich bin richtig hin- und hergerissen mit deinem Text. Auf der einen Seite gefallen mir manche sprachlichen Bilder extreeeeeem gut. Auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, die Sprache steht eigentlich nur im Weg rum, ich habe nämlich wohl nur ungefähr ein drittel der Geschichte verstanden. Der Rest geht unter im Diffusen. :(

Herr Fischer giert nach Welt

Okay, toller Titel!

Flocken rieseln an Panzerfurchen und Süßgräsern. Flocken haften an rostiger Schaukel. Flocken, eingeschmolzen zu stummen Granaten, lagern an Lungenbläschen.

Ich liebe die verwendeten Worte und die Kontraste. Panzerfurchen und Süßgras ... das hat was. Auch so tolle Alliterationen wie »... lagern an Lungenbläschen.« sind natürlich großartig. ;) Allerdings wird es mir hier auch schon fast zu poetisch. Ich finde, dein Text löst sich schon fast teilweise in ein Gedicht auf, so konstruiert und bedeutungsschwanger kommt das Ganze daher.

Seit dem durch "Nahrungsergänzungsmittel" verursachten Tod der Ehefrau 1997: Zu viel Zimmer, zu viel Tag, zu viel Essen auf Rädern: Ein Mensch mit einer Wahrnehmung, deren Ecken rauschhafte Traurigkeit verschmiert.

Hier finde ich den gefetteten Satz richtig toll, denn der holt mich ab in die Geschichte. Alles nach dem Doppelpunkt ist allerdings wieder sehr überinterpretiert und kann meiner Meinung nach gelöscht werden. Da ist mir viel zu viel Autor drin. ;) Außerdem ist hier ein doppelter Doppelpunkt drin, das ist nicht so schön.

Herr Fischer fragt, ob nach dem Schnee die Eiszeit beginne, der Pflegedienst verneint und spricht von kalter Luft aus Nordeuropa.
Die Apotheke meldet Ende Januar ein Lieferproblem des Beinbeutels aus Łódź , nicht jedoch des Beinschlauches aus Hannover und des Gurtes aus Civitavecchia. Inzwischen hat ein neues Quartal begonnen. Die Urologiehelferin fragt mit Verweis auf Excelzellen den Pflegedienst, warum keine neuen Beutel aus dem System kämen, der Pflegedienst spricht von technischen Problem im Großraum Łódź .

Hier hab ich mich dann gefragt, was das überhaupt zur Sache tut. Ist doch wurschd, woher der Beinbeutel kommt und wie der Ort heißt und was für Exceltabellen wer ausfüllt ... wo ist das Wesentliche?

entzündet sich Herrn Fischers Peniseichel,

Ich glaube einfach nur »Eichel« reicht auch. ;)

Er marschiert im Wackelgang (Sturzprophylaxe) durch Gänge breiiger Luft.

Das ist alles zu voll gepackt. Zu viele Ideen, die alle in einen Satz gepresst werden. Da stolpere ich unentwegt, jedes zweite Wort lässt einen hängen. Ich kann mich nicht in die Geschichte fallen lassen, sondern muss unentwegt scharf nachdenken. Wieso Sturzprophylaxe? Wieso Wackelgang? Breiige Luft?

Brocken von Kartoffeln wandern zerstückelt durch die Speiseröhre in einen Magen.

Ich glaube, dein Stilmittel war es, alles auszuschreiben und überzuformulieren, aber ich finde nicht, dass es dem Text viel bringt, wenn du zum Beispiel »essen« so dramatisch ausformulierst, wie hier. ;) Das ist schon sehr auf Wirkung aus, aber verfehlt meiner Meinung nach leider seinen Effekt, weil jeder weiß, wie man isst, das muss man nicht irgendwie mystifizieren. :)

Die Luft klumpt von Heizung und Fischer.

S.U.P.E.R! :bounce:

Die Mitte des März überrascht niemanden mit neuer feuchtwarmer, atlantischer Luft. Sie spiegelt etwas wider, das er zu begreifen versuchte. Es bleibt eine Enttäuschung.

Das ist auch wieder so kompliziert. Warum? Was passiert hier? Ich kann diesen Gedankenbögen einfach nicht folgen.

Herr Fischer öffnet den Mund, lässt März um März in sich hinein.

Wenn dein Text relativ nüchtern und verständlich und pragmatisch geschrieben wäre ... und sich dann hier und da solche Sätze darin befinden, wäre ich dein größer Fan. So aber bleibt eben nur eine Geschichte, in der alles echt cool und kunstvoll klang ... aber ich habe eben nicht viel davon verstanden. Nur etwas über eine art Kriegsveteran der mit angesehen hat, wie sein/ein Kindergarten weggebombt wurde und nun als im sterben liegender Greis sich irgendwie daran zurückerinnert. Weiter bin ich leider nicht gekommen, tut mir leid.

Aber du hast definitiv Talent und wahnsinnig tolle Ideen für Sprache und Stil! Nur die Dosis wäre noch irgendwie auszubalancieren. ;)

Danke dir und viele liebe Grüße, PP

+++++
Nachtrag:

Okay, nachdem Jimmy so lobt, hab ich die Story nochmal schön langsam gelesen und tatsächlich sind mir beim zweiten Mal jetzt auch einige Dinge klargeworden. Zum Beispiel die Sache mit den sich entzündenden Granaten und den Lungenbläschen. Ich finde das richtig gut, aber ich will mich jetzt auch nicht rausreden, ich hatte trotzdem so meine Schwierigkeiten, große Parts der Story richtig einzuordnen.

Aber das kann gut an mir und meiner miesen Auffassungsgabe liegen. :) Wie gesagt, ich bin definitiv auch auf der Pro-Seite und finde die Sprache extrem gut! Lieber zu kryptisch, als zu banal, aber ich glaube, dass die Story trotzdem stärker wäre, wenn man sie ein klein wenig entzerren würde.

 

„Die haben jetzt gebracht: Plaste im Darm! Ich dachte, wir sterben an Atombomben, und jetzt an Plaste!“

Das hier ist der beste Debütantentext seit sehr langer Zeit.

Mein Großvater ist in Lemberg geboren worden, dann über die DDR abgehauen, der sprach auch so ein verqueres Deutsch, unsortiert irgendwie, wie dein Herr Fischer.


Herr Fischer benötigt einen Beinbeutel. Ein Beinbeutel - der Pflegedienst betont, das sei ein Organ, das sei etwas Inneres nichts Äußeres - besteht aus Beutel, Gurt und Schlauch. Die speziell für Beinbeutel autorisierte Apotheke im sog. Stadtzentrum berichtet: Die Krankenkasse von Herrn Fischer müsse die Kostenübernahme faxen.

Das ist grausam, grausam und komisch. Deine Sprache ist idiosynkratisch, eigenwillig, und wenn ich dir einen Rat geben darf: Bitte nicht abschleifen! Genauso mäandern lassen, so rhizom-artig.

Herr Fischer öffnet den Mund, lässt März um März in sich hinein. Die Granaten entzünden sich: Ein Rucken, ein straff gewordener Blick, ein Impuls, der das Erinnerte verschluckt.
Herr Fischer kippt um.

Tja, manche schaffen es, ein ganzes Leben in einen Absatz zu packen. Chapeau. Ich bin sehr gespannt auf weitere Texte von dir.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @kiroly

da haste ja eine fette Granate ins Forum geknallt. Das ist ein Text, der fordert. Aber auch wenn mir einige Stellen mehrmals durch die Synapsen kullern, bevor sie ein deutliches Bild erzeugen, sind diese Bilder durchaus stimmig. Hier wird verlangt, Leerstellen zu füllen, Ungesagtes mitzudenken. Und das gefällt mir außerordentlich gut.
Ich hoffe, Du beteiligst Dich ein bisschen im Forum, damit ich und andere von Deinem Talent lernen können.

Grüße!
Kellerkind

 

Ich schließe mich mal dem Applausrauschen an.
Ein sehr, sehr eigenwilliger, krasser Text mit einer rhythmischen, poetischen Sprache, die mit sehr vielen unterschiedlichen Sprachebenen arbeitet.
Die Kontraste, die das Leben des alten Herrn Fischer bestimmen, sind grausam. Herr Fischer giert nach dem Leben und was geschieht? Er wird gelebt. Zwänge, bürokratische Abläufe und Spitzfindigkeiten, politische, ökonomische Interessen und Gewalt bestimmen alles.

Herzlich Willkommen, kiroly, hoffentlich haben dich unsere Lobeshymnen nicht verstummen lassen. Sollen wir vielleicht doch lieber ein bisschen schimpfen? :D
Viele Grüße und viel Spaß im Forum
Novak

 

Hallo zusammen!
Ui, über das Lob war ich sehr überrascht, vielen Dank!
Das Dorf, das im Text beschrieben wird, gab es tatsächlich. Es handelt sich um den Ort Cröbern bei Leipzig, der für einen Braunkohlebau weichen musste. An der Stelle des Kindergartens steht heute eine Gedenktafel für alle weggebaggerten Orte im Mitteldeutschen Revier.

Ich bin auf einer kleinen Reise in Breslau, daher konnte ich mich erst jetzt melden.

Danke, das motiviert sehr!,
kiroly

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey kiroly,

und Willkommen im Forum! Ich sage es gleich vorab, ich bin ein wahnsinniger Fan der Geschichte. Stilistisch, thematisch - ich finde das wirklich richtig, richtig gut. Ich schreib auch gleich noch eine Empfehlung für den Text. Herr Fischer und sein Schicksal, vom Krieg über den Tagebau zum Verwaltungsakt, man möchte fast meinen bis zur bürokratischen Willkür, und fast jeder Satz ein Treffer, ja, man möchte wirklich kein Herr Fischer sein. Ich könnt fast den ganzen Text als Lieblingssätze zitieren, wäre jetzt aber auch doof, ich versuch mal, meine Perlen auf ein erträgliches Maß zu minimieren.

Den Kindergarten zerstörte ein T-34-Panzer aus uralischer Produktion.
Fängt gleich böse an und es wird nicht besser ...

Zu Flocken. Flocken rieseln an Panzerfurchen und Süßgräsern. Flocken haften an rostiger Schaukel. Flocken, eingeschmolzen zu stummen Granaten, lagern an Lungenbläschen.
Bis sie dann die Lunge sprengen. Dabei sind "Flocken" so herrlich positiv besetzt eigentlich (als Wort jetzt) - sehr schöner Kontrast/Bruch - sprachlich.

Dem Rekruten unbekannten Ranges interessierte ein Lob des Vorgesetzten. Interessen legen sich, Interessen bleiben, Interessen schoben Panzer an das verlassene Dorf.
So funktioniert die Gesellschaft. Leider.

Der Pflegedienst klickt den Einsatz ab und wünscht einen schönen Abend.
Feiner, kleiner, roter Faden.

Zu viel Zimmer, zu viel Tag, zu viel Essen auf Rädern:
Nice. Also nicht nice, aber doch nice.

Der Panzer, der Bach, die Roten, die Anderen, der Garagennachbar, die Frau, Vitamin A bis Zink, Grabstein, Kochklopse und Kindergarten.
Ein Leben.

„Ja, so war das, aber jetzt ist es anders(.)“, sagt der Pflegedienst und zählt die Minuten.
Punkt weg.

"Ich bin seit drei Jahren da."
Aua.

Der Medizinische Dienst der Krankenkassen begutachtet Herrn Fischers Intimhygiene.
...
„Herr Fischer, tun Sie mal so, als gehen Sie auf Klo.“
Gibt null Intimsphäre mehr, wenn man in Spalten und Zahlen erfasst werden muss.

„Uniklini-“
„Das bleibt eine Eins.“
„Nein, Psychiatrie Döl-“
"Dann wird's eine Zwei."
So absurd und doch so real.

Herr Fischer erhält eine grüne Akte und ist nun Teil des Pflegeversicherungssystems der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 , Leistungsempfänger/in durch einen ambulanten Pflegedienst
Herrliches Bürokratendeutsch! Und passend dazu:

mit Herzen und Leidenschaften und Freuden und Lieben und vielen nie ausgebildeten Mitarbeitern.
Ist wirklich toll, wie Du auch stilistisch mit den Brüchen arbeitest. Und dann eben diese bösen, allseits bekannten Missstände, und trotzdem tut weh, weil eben vorher von Liebe und Leidenschaft und so gesprochen wird. Ich sag ja immer: Kontraste und Brüche sind gute Dingerchen.

Diese ganze Beinschlauchgeschichte ist einfach nur herrlich. Also im schlimmen Sinne.

Herr Fischer wird in das Krankenhaus eingeliefert, da er roten Urin pinkelt und Hustenanfälle erleidet. Der Pflegedienst notiert Husten und RTW-Einsatz, der RTW fragt nach den Beinbeuteln. Der läge in der Apotheke und sei per Expresskurier aus Aarhus gekommen.
"Schöne Stadt, schöne Frauen.", sagt der Sanitäter.
"Dänemark ist einfach schön."
Ja, so fühlt sich das wirklich an in der Realität.

Herr Fischer setzt sich auf die Bushaltestellen-Bank und wartet. Hinter den neuen Wäldern lag der Kindergarten. Lag er. Lag er im Gras, ehe die Interessen seine Schaukel absprengten. Er habe von einer Armeeübung gehört. Fahnen flatterten im Wind, Orden klimperten an Brüsten und Flohmärkten.
Ich mag es einfach.

Herr Fischer öffnet den Mund, lässt März um März in sich hinein. Die Granaten entzünden sich: Ein Rucken, ein straff gewordener Blick, ein Impuls, der das Erinnerte verschluckt.
Tja ...

Beste Grüße, Fliege

 

Moin,

der Text hat mir sehr gut gefallen. Tolle Sprache. Dass die Handlung so minimalistisch ausfällt, tut diesen Momentaufnahmen der Depression und Ruhe auch gut.

Ein paar kleinere Anmerkungen:

Dem Rekruten unbekannten Ranges interessierte ein Lob des Vorgesetzten.

Den Rekruten

Die Welt wird eine Collage aus Erinnerungs-Versatz-Stücken.

Diese Reflexion über das, was im Text stattfindet, ist überflüssig. Kleiner Schönheitfehler.

Man haben sieben Einsätze und eine kleine Zeitspanne

habe

Anfang März hält ein Kältehoch die Siedlung in scharfem Frost.

Gefällt mir besonders gut. Präzise Worten ohne dick aufzutragen.

Fahnen flatterten im Wind, Orden klimperten an Brüsten und Flohmärkten.

Auf Flohmärkten ... Da musste ich lachen.


Gute Arbeit!


MfG
P. Enis

 
Zuletzt bearbeitet:

„Ein weiches Vlies auf der Beinseite sorgt
für höheren Tragekomfort. Schweißbildung,
Hautreizungen und ein klebriges Gefühl am
Bein werden wirkungsvoll vermieden.“
aus der „conveen security“-Werbung​

Lapidarer kann man gar nicht auf die schicksalhafte Verknüpfung des Herrn F. oder allgemeiner eines und einer jeden (um politisch korrekt zu bleiben) mit dem umfallenden Reissack in China hinweisen, selbst wenn der Reissack verschwiegen bleibt. Da tut es auch mal an seiner Stelle ein Bein- oder Fußgängerbeutel, ½ l oder 800 ml oder … im Spannungsfeld der Konkurrenz von polnischen und dänischen Lieferanten - nicht zu vergessen, die potenziell heimischen Produktionsstätten – oder lässt man dort bereits in Bangladesh arbeiten … wer weiß das schon so genau,

bester @kiroly weit und breit und
herzlich willkommen hierorts!

Ja, das ist mal ein Einstand samt der verdienten Empfehlung, gleichwohl sollte noch ein bisschen Fliegenschiss korrigiert werden, wie etwa

Um [n]eun Uhr dreißig! Sei'n Sie da!"
Man habe[...] sieben Einsätze und eine kleine Zeitspanne, man wünsche …

„Herr Fischer, tun Sie mal so, als gehen Sie auf Klo.“
Pflegedienst + vor allem MDK-Leute können i. d. R. nhd, also besser „als gingen Sie aufs Klo.“ Oder sollten sie sich über Herrn F. lustig machen?

Ein Beinbeutel - der Pflegedienst betont, das sei ein Organ, das sei etwas Inneres[,] nichts Äußeres -
..., der Pflegedienst spricht von technischen Problem[n] im Großraum Łódź .
Punkt eine Stelle zurück!

"Schöne Stadt, schöne Frauen[...]", sagt der Sanitäter.
Punkt weg, wie auch hier
"Ich weiß nicht, wie das weitergeht[...]", sagt er, der Pflegedienst notiert seine Worte.
was keineswegs Satire ist, wenn der Wegfall eines mickrigen Punktes durch drei Punkte symbolisiert wird ...

Als der Pflegedienst den Einsatz abklicken will, bittet Herr Fischer[,] zu bleiben.

Gern gelesen vom

Friedel

 

Hallo kiroly,

du hast hier nicht nur das Leben des Herrn Fischer prima resümmiert, sondern auch die ganze Weltgeschichte gleich mit. Und das, obwohl es "nur" um einen Mann geht, der nur noch ein abzuklickender Fall für den Pflegedienst ist, und die Welt nur noch in Erinnerungsfetzen Revue passieren lässt.

Hätte nur noch gefehlt, dass der Protagonist nicht Herr Fischer, sondern irgendein Namenloser wäre - dann wärst du für mich endgültig in den Literatenolymp aufgestiegen ;-)

Zugegeben, diese Geschichte beschäftigt mich schon seit einigen Tagen, darum muss ich einfach meine Gedanken dazu loswerden.

"Her Fischer giert nach Welt" - Die Wahl dieses Titels kann ich nicht so recht nachvollziehen. Er beklagt sich zwar

"Ich bin seit drei Jahren da."
aber ansonsten scheint er mit der Welt da draußen nicht klarzukommen:
Die Busse! Wo kommen alle Busse her?
Immerhin kam die ganze Welt bereits zu ihm: der Panzer aus dem Ural, kalte Luft aus Nordeuropa, der Beinbeutel aus Lodz, der Beinschlauch aus Hannover, der Gurt aus Civitavecchia,
und letztlich ein Beinbeutel aus dem dänischen Aarhus...
Und die Welt brachte ihm nicht Gutes; diese "Globalisierung" ist nur ein Zeugnis der stückweise Demontage seines Lebens und seiner Menschenwürde (Zerstörung des Kindergartens mit entsprechenden Folgen für die Gesundheit, Prüfung der Intimhygiene, Eichelentzündung...)

Während Herr Fischer so vor sich hin vegetiert, lebt der Rest der Welt da draußen unberührt weiter: es dreht sich um Interessen, das Lob des Vorgesetzten, Weihnachts- und Silvesterpause...
Doch auch all das ist nicht vor Dauer:

Orden klimperten an Brüsten und Flohmärkten.
Besser kann man die Vergänglichkeit nicht beschreiben!! Einfach genial, wie hier ein Orden von einer Auszeichnung zu billigem Tand verkommt.

All die Interessen, die auf Kosten des Einzelnen durchgesetzt wurden, waren es wohl doch nicht wert.

So habe ich jedenfalls die Geschichte verstanden.
Nochmal großes Lob!
Gruß
diAngelo

 

Hallo @kiroly ,

und nachträgliches Willkommen. Du hast ja schon ordentlich kommentiert. Hoffe das hält an und du bleibst uns erhalten. Dein Text hat mich auf jeden Fall beeindruckt. Sowas hab ich hier vorher noch nicht gelesen. Ist ja auch speziell. Aber so gut gemacht. Muss ich wirklich sagen :gelb: Fast jeder Satz trifft. Ich mag da überhaupt nicht an Kleinheiten rummeckern. Aber mal nebenbei, was ist mit den zahlreichen Anregungen zu deiner Geschichte. Möchtest du davon gar nichts umsetzen? (Einfach auf "bearbeiten" (ab-)klicken).

Den Kindergarten zerstörte ein T-34-Panzer aus uralischer Produktion

dieser erste Satz hat einfach so viel Power. Da steckt so viel Kontrast drin. Das erzeugt sofort Spannung. Dazu kommen die Details Panzername, Produktionsland. Tut was für die Rolle, aus der das hier erzählt wird. Jemand der Bezug hat zu alldem.

Er erhob sein Röhrchen vom Stoppelfeld, zirkulierte um alte Halme und befeuerte den Kindergarten

Das ist auch super! Wie bitter verharmlosend dieses "Röhrchen", wie glasklar die "alten Halme" und wie brutal, was da passiert.

Flocken haften an rostiger Schaukel.

Diese verkürzte Grammatik funktioniert. Das ist so ein abgehacktes, gestutztes Deutsch, es klingt alles vertraut. Die Bilder, die du (zusätzlich) noch erzeugst, sind einfach wuchtig, ohne dass du dich überhebst. Du kannst das und das merkt, glaube ich, jeder, der das hier liest.

Dem Rekruten unbekannten Ranges interessierte ein Lob des Vorgesetzten.

Das ist einfach grandios zusammengefasst.

Interessen legen sich, Interessen bleiben, Interessen schoben Panzer an das verlassene Dorf.

Und das hier. Richtiger Gänsehaut-Satz.

klickt den Einsatz ab

kannst du mir erklären, was das bedeutet? :gelb: Habe das auch nach Recherche nicht gefunden, auch wenn ich eine ungefähre Ahnung habe.

Seit dem durch "Nahrungsergänzungsmittel" verursachten Tod der Ehefrau 1997

auch einfach krass ...

jetzt ist es anders.“, sagt der

Dieser Punkt gehört da nicht hin, wenn du mit Komma nach der wörtlichen Rede weitermachst. Das gilt für alle anderen Stellen auch. Das könntest du zum Beispiel mal raus-bearbeiten. Oder steckt da irgendein Stil-Trick hinter, den ich nur nicht begreife?

Sei'n Sie da!"
"Ich bin seit drei Jahren da."

Dialog auf den Punkt gebracht.

die diagnostizierte Depression als das "Ass im Ärmel"

Die Absurditäten, die du hier ganz beiläufig streust – und dein Text ist voll davon –, sind einfach nur 'fettes Kino'.

Man haben sieben Einsätze

Das ist Absicht mit dem Plural, oder? Egal, ob ja oder nein. Ich finds im Plural gut. Das ist Stil vom feinsten.

man wünsche schöne Vormittage und schöne Nachmittage. Man sei nett. Man habe Listen.
des Beinbeutels aus Łódź , nicht jedoch des Beinschlauches aus Hannover und des Gurtes aus Civitavecchia
„Das wird eine Eins. Intimhygiene fachgerecht. Sorry.“

Das ist sehr unangenehm zu lesen und darin handwerklich super gemacht. Das alles hat etwas so Formular-gerechtes, ist völlig entmenschlicht. Und darin authentisch. Ich glaube dir sofort, dass das so "abgeklickt" wird.

Jedenfalls läuft bei jedem dieser Sätze ein Film bei mir ab.

Herr Fischer simuliert Toilette

Wieder diese gestutzte Grammatik. Mega gut gemacht.

"Dänemark ist einfach schön."

ja, hach, so schön dort. Hier konterkarierst du wunderbar die Brutalität mit einem Tröpchen Kitsch.

Er marschiert im Wackelgang (Sturzprophylaxe) durch Gänge breiiger Luft

Man, du traust dich richtig was. Super, bin wirklich beeindruckt!

Also, Kiroly, du merkst, ich bin ähnlich in Fan-Laune wie meiner Vorredner. Die Empfehlung ist meiner Meinung nach völlig gerechtfertigt.

Gruß
Carlo

 

Hallo @Friedrichard,

ich habe deine Anmerkungen bezüglich der Interpunktion eingearbeitet, danke dafür!

Hallo @Carlo Zwei,
nochmals vielen Dank für deinen Kommentar.

klickt den Einsatz ab
kannst du mir erklären, was das bedeutet? :gelb: Habe das auch nach Recherche nicht gefunden, auch wenn ich eine ungefähre Ahnung habe.

Manche Pflegedienste benutzen ein Dienst-Smartphone, auf dem die Einsätze aufgelistet ist, man muss diese einzeln abklicken. Sehr, sehr profaner Grund^^.

Die Geschichte ist fiktiv. Ich habe etwas Erfahrung als ungelernte Hilfskraft in der Pflege und habe verschiedenes zusammengesetzt, die Überforderung, die Bürokratisierung, die Absurdität der Hilfsmittelgenehmigung. Trotz des fiktiven Charakters halte ich die Geschichte für "möglich".

Ich muss dennoch sagen, dass mich das ganze Lob ziemlich umgehauen hat, immer noch. Inzwischen bin ich mehr im Forum aktiv, und ich erkenne die hohe Qualität vieler Kommentare an. Irgendwie, nein, klingt jetzt seltsam, aber irgendwie hat mir dieses Applausrauschen einen Knoten im Kopf gezaubert, da half mir die schlechte Kritik von "Viga" sehr, wieder ins profane Schreiben zurückzukehren.

Danke und lg aus Leipzig,
kiroly

 

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