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Keine Kurzgeschichte, eher eine Beschreibung? Vor einiger Zeit geschrieben. Alle Personen sind frei erfunden, natürlich. Bin gespannt und neugierig auf das Feedback.
kiroly.
Herr Fischer giert nach Welt
Den Kindergarten zerstörte ein T-34-Panzer aus uralischer Produktion. Er erhob sein Röhrchen vom Stoppelfeld, zirkulierte um alte Halme und befeuerte den Kindergarten. Zu Flocken. Flocken rieseln an Panzerfurchen und Süßgräsern. Flocken haften an rostiger Schaukel. Flocken, eingeschmolzen zu stummen Granaten, lagern an Lungenbläschen.
Dem Rekruten unbekannten Ranges interessierte ein Lob des Vorgesetzten. Interessen legen sich, Interessen bleiben, Interessen schoben Panzer an das verlassene Dorf.
"Da steht ein Schild. Da steht ein Schild meines Kindergartens."
"Da war keine Wahl."
"Da kamen die Roten."
Herr Fischer habe die Wohnung vor drei Monaten zu einer ärztlichen Untersuchung verlassen. "Alles komisch! Die Busse! Wo kommen alle Busse her?"
Der Pflegedienst klickt den Einsatz ab und wünscht einen schönen Abend.
Seit dem durch "Nahrungsergänzungsmittel" verursachten Tod der Ehefrau 1997: Zu viel Zimmer, zu viel Tag, zu viel Essen auf Rädern: Ein Mensch mit einer Wahrnehmung, deren Ecken rauschhafte Traurigkeit verschmiert. Die Welt wird eine Collage aus Erinnerungs-Versatz-Stücken. Der Panzer, der Bach, die Roten, die Anderen, der Garagennachbar, die Frau, Vitamin A bis Zink, Grabstein, Kochklopse und Kindergarten.
„1970 mussten wir weg. Ein halber Meter Braunkohle! Haaalber Meter!“
„Ja, so war das, aber jetzt ist es anders“, sagt der Pflegedienst und zählt die Minuten.
„Die haben jetzt gebracht: Plaste im Darm! Ich dachte, wir sterben an Atombomben, und jetzt an Plaste!“
"Morgen kommt der Medizinische Dienst der Krankenkassen, MDK, Herr Fischer. Um neun Uhr dreißig! Sei'n Sie da!"
"Ich bin seit drei Jahren da."
Der Pflegedienst notiert die diagnostizierte Depression als das "Ass im Ärmel" und klickt den Einsatz ab.
*
Der Medizinische Dienst der Krankenkassen begutachtet Herrn Fischers Intimhygiene. Man habe...sieben Einsätze und eine kleine Zeitspanne, man wünsche schöne Vormittage und schöne Nachmittage. Man sei nett. Man habe Listen.
„Herr Fischer, tun Sie mal so, als gingen Sie auf Klo.“
Herr Fischer simuliert Toilette und führt die Hand an den Hintern, fragt, ob er das richtig mache. Seine Augen suchen etwas, das er verloren hat und nicht benennen kann. Der MDK presst Lippen zusammen und sagt zum Pflegedienst:
„Das wird eine Eins. Intimhygiene fachgerecht. Sorry.“
"Er hat eine diagnostizierte Depression."
„Wo diagnostiziert?“
„Uniklini-“
„Das bleibt eine Eins.“
„Nein, Psychiatrie Döl-“
"Dann wird's eine Zwei."
Herr Fischer erhält eine grüne Akte und ist nun Teil des Pflegeversicherungssystems der Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen vom 3. Oktober 1990 , Leistungsempfänger/in durch einen ambulanten Pflegedienst mit Herzen und Leidenschaften und Freuden und Lieben und vielen nie ausgebildeten Mitarbeitern.
Der Pflegedienst klickt den Einsatz ab.
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Die Granaten schweigen. Herr Fischer benötigt einen Beinbeutel. Ein Beinbeutel - der Pflegedienst betont, das sei ein Organ, das sei etwas Inneres, nichts Äußeres - besteht aus Beutel, Gurt und Schlauch. Die speziell für Beinbeutel autorisierte Apotheke im sog. Stadtzentrum berichtet: Die Krankenkasse von Herrn Fischer müsse die Kostenübernahme faxen. Nach Weihnachts- und Silvesterpause genehmigt die Krankenkasse den Beinbeutel. Herr Fischer fragt, ob nach dem Schnee die Eiszeit beginne, der Pflegedienst verneint und spricht von kalter Luft aus Nordeuropa.
Die Apotheke meldet Ende Januar ein Lieferproblem des Beinbeutels aus Łódź, nicht jedoch des Beinschlauches aus Hannover und des Gurtes aus Civitavecchia. Inzwischen hat ein neues Quartal begonnen. Die Urologiehelferin fragt mit Verweis auf Excelzellen den Pflegedienst, warum keine neuen Beutel aus dem System kämen, der Pflegedienst spricht von technischen Problemen im Großraum Łódź. Inzwischen entzündet sich Herrn Fischers Peniseichel, er erhält eine antibiotische Salbe. Mitte Februar: Die Krankenkasse habe eine Gesetzesnovelle nicht beachtet und übernehme nicht den Gurt, jedoch Schlauch und Beutel. Ende Februar: Durch geschicktes Umtaktieren der Verwaltungskräfte des Pflegedienstes und der Apothekerin erreicht ein Beinbeutel aus dem dänischen Aarhus (altdänische Schreibweise) am 27. Februar die Apotheke.
Herr Fischer wird in das Krankenhaus eingeliefert, da er roten Urin pinkelt und Hustenanfälle erleidet. Der Pflegedienst notiert Husten und RTW-Einsatz, der RTW fragt nach den Beinbeuteln. Der läge in der Apotheke und sei per Expresskurier aus Aarhus gekommen.
"Schöne Stadt, schöne Frauen", sagt der Sanitäter.
"Dänemark ist einfach schön."
Der Pflegedienst klickt den Einsatz ab.
Herr Fischer erreicht per Pflegedienst seine Umsiedler-Wohnung. "Da haben die die Prostata abgehobelt! Wie ein Bagger!"
Anfang März hält ein Kältehoch die Siedlung in scharfem Frost."Ich weiß nicht, wie das weitergeht...", sagt er, der Pflegedienst notiert seine Worte.
Herr Fischer.
Seine Augen ruhen nie still. Er marschiert im Wackelgang (Sturzprophylaxe) durch Gänge breiiger Luft. Das Essen schmeckt selten. Brocken von Kartoffeln wandern zerstückelt durch die Speiseröhre in einen Magen. Die Luft klumpt von Heizung und Fischer. Als der Pflegedienst den Einsatz abklicken will, bittet Herr Fischer, zu bleiben. Seine Augen suchen Kontraste in der Abendschwärze. Man erahnt einen alten Laubbaum; man erahnt einen Neumond, man erahnt die neuen Wälder hinter den alten Fresskanten der Förderbrücke F-45. Herr Fischer? Herr Fischer?, fragt der Pflegedienst.
"Ich glaube, der Kindergarten, den haben sie zerstört. Dann hat sich meine Mutter umgebracht. Einfach so. Und ich habe im Kraftwerk gearbeitet, auf dem Kran. Ich habe das Eis weggehackt, damit die Kohle laufe."
Der Pflegedienst schiebt sich eine Pause in den Dienst. "Möchten Sie einen Tee? Oder ein Glas Wasser?"
"Schmeckt alles gleich."
Der Pflegedienst klickt den Einsatz ab.
*
Herr Fischer verlässt die Umsiedler-Wohnung. Er humpelt zur einzigen Bushaltestelle "Straße der Freundschaft" und wartet. Die Mitte des März überrascht niemanden mit neuer feuchtwarmer, atlantischer Luft. Sie spiegelt etwas wider, das er zu begreifen versuchte. Es bleibt eine Enttäuschung. Die Hauptstraße leerte sich vor Nacht und die Busse hatten kein Interesse. Im Pflegedienst schliefen die MitarbeiterInnen satt und beruhigt vor dem nächsten Frühdienst.
Herr Fischer setzt sich auf die Bushaltestellen-Bank und wartet. Hinter den neuen Wäldern lag der Kindergarten. Lag er. Lag er im Gras, ehe die Interessen seine Schaukel absprengten. Er habe von einer Armeeübung gehört. Fahnen flatterten im Wind, Orden klimperten an Brüsten und Flohmärkten.
Egal.
Die Granaten schweigen.
Herr Fischer öffnet den Mund, lässt März um März in sich hinein. Die Granaten entzünden sich: Ein Rucken, ein straff gewordener Blick, ein Impuls, der das Erinnerte verschluckt.
Herr Fischer kippt um.
Der Pflegedienst kann den Abendeinsatz nicht abklicken.