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Herrin im Haus
Herrin im Haus
Ich trat ein. Der durchdringend künstliche Geruch ihres Parfüms hing noch in der Luft. In der Küche hörte ich ein Klirren.
„Vater?“, fragte ich in die Dunkelheit.
Aber er war noch unterwegs. Ich musste mir das Geräusch eingebildet haben.
Als ich die Tür zum Wohnzimmer aufstieß, glaubte ich am Rande meines Blickfeldes eine huschende Bewegung wahrzunehmen. Rechts, wo ihr Sessel stand.
Schnell machte ich Licht.
Natürlich war keine Spur von ihr zu entdecken! Wie auch? Schließlich starb sie vor drei Tagen.
Ich setzte mich aufs Sofa und schlug die Zeitung auf. Gerade wollte ich anfangen zu lesen, als ich hochfuhr. Dieses leise Klacken! Wie immer, wenn sie die Brillenbügel zusammenklappte.
Ich sah zu dem kleinen Tisch neben ihrem Sessel. Die Lesebrille lag ordentlich da, so als hätte Mutter sie eben erst dort abgelegt.
Im gleichen Augenblick kam Vater nach Hause. Endlich! Zum Glück hielt er sich gut, sogar viel besser, als ich erwartet hatte. Ich wollte ihm die Identifizierung der Leiche abnehmen, aber er hatte darauf bestanden, selbst hinzugehen.
Ich lief ihm entgegen, warf meine Arme um seinen Hals und gab ihm einen Kuss.
Er ließ sich von mir zum Sofa führen. Wir setzten uns und ich schmiegte mich an ihn.
„Sie sind sich noch nicht sicher“, erzählte er.
Ich streichelte sein Gesicht.
„Die Bremsen waren jedenfalls in Ordnung.“
„Aber die Straße ist sehr kurvenreich“, warf ich ein. „Ein Augenblick der Unachtsamkeit - und schon ist es geschehen.“
Er blickte mir direkt in die Augen. „Sie haben da was gefunden, an ihrer Schläfe.“
Ein lautes Scheppern draußen ließ uns zusammenfahren. Wir rannten zur Balkontür. Auf den Fliesen lagen Scherben. Trotz der Windstille musste ein Glas Cola vom Tisch gefallen sein. In der Lache auf dem Boden klebte eine tote Wespe.
Wir schauten uns an. Vaters linke Augenbraue zuckte, wie immer, wenn er beunruhigt war.
Ich tätschelte seinen Arm. „Das haben wir gleich“, sagte ich und begann die Scherben einzusammeln.
„Vorsicht, mein Liebling“, warnte er mich, „ich möchte nicht, dass du dich verletzt.“ Der Gute! Er war immer so besorgt um mich!
Ich lächelte zu ihm hoch.
Er hockte sich neben mich. „War es eigentlich dein Glas?“
Ich wollte nicht, dass er sich quälte. Er sollte sich keine unnötigen Gedanken machen. „Sicher hat Mutter es stehen lassen“, antwortete ich.“
„Nie im Leben! Sie hat immer alles sofort aufgeräumt.“
Das stimmte. Ihr Sinn für Ordnung und Anstand war für uns sehr belastend gewesen. Ständig hatte sie uns damit in den Ohren gelegen.
„Wenn es Mutters Glas nicht war, muss es dein Glas gewesen sein“, stellte ich fest.
„Nein.“
Langsam wurde es mir zu viel. „Keine Ahnung, woher das Colaglas kommt“, fuhr ich ihn an. Gleich darauf tat es mir Leid. Er war doch mit seinen Nerven am Ende! Ich durfte nicht so barsch zu ihm sein!
Die Wahrheit war, dass ich auch nicht wusste, woher dieses Glas kam. Meins war es jedenfalls nicht. Mit Cola hatte ich zwar mehrere Wespen gefangen, die zwei Gläser dann aber abgedeckt und mitgenommen.
Als Vater und ich uns gerade wieder aufs Sofa setzen wollten, lief jemand mit festen Schritten durch den Flur. Es klang, als ob Mutter nach Hause gekommen wäre. Vater dachte offenbar dasselbe. Er wurde blass.
Ich legte den Finger auf die Lippen, nahm ihn bei der Hand und zog ihn zur Tür. Mit einem Ruck riss ich sie auf und knipste das Licht an.
Im Korridor war niemand zu sehen. Nur ein Mantel an der Garderobe schaukelte heftig, als ob ihn gerade jemand angestoßen hätte. Mein Mantel. Während wir noch darauf starrten, glitt er vom Bügel und fiel auf den Boden. Wie eine tote Hülle lag er da.
Etwas Silbernes hing aus der Tasche. Wir stürzten gleichzeitig darauf zu.
Vater war schneller. „Was ist das für ein Autoschlüssel?“
Ich zuckte die Schultern.
„Du musst es doch wissen! Schließlich war er in deiner Manteltasche.“
Ich dachte kurz nach. „Jetzt fällt es mir wieder ein“, antwortete ich. „Es ist der Zweitschlüssel zu Mutters Wagen. Ich hatte mir das Auto ausgeliehen. Aber bevor ich ihr den Schlüssel zurückgeben konnte ...“ Ich schluckte. Auf meinem Gesicht konnte ich sie förmlich spüren, die heißen Fragen, die in seinen Augen brannten.
In dieser Nacht wälzte ich mich schlaflos in meinem Bett hin und her. Ich sah Mutter vor mir, wich im Geiste vor ihrer hageren Gestalt zurück, duckte mich unter ihrer herrischen Stimme. Wie hatten wir darunter gelitten, dass sie dem Geheimnis auf die Spur gekommen war!
Und dann hatte ich diese Idee! Ich legte mich auf den Rücken. Mein Plan erfüllte mich immer noch mit Stolz. Es hatte alles geklappt wie am Schnürchen. Als uns die Nachricht von ihrem Tod erreichte, hätte ich jubeln können.
Wieder fiel mir das zerbrochene Glas ein und der Mantel auf dem Flur.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und das Licht flammte auf. Vater stand im Türrahmen, die Augen weit aufgerissen. Er stammelte etwas, das ich nicht verstehen konnte.
Ich setzte mich im Bett auf und streckte ihm die Arme entgegen. Er taumelte auf mich zu, ich zog ihn zu mir herunter, küsste und streichelte ihn. Er keuchte. Dann beruhigte er sich.
„Ich habe Mutter gesehen“, wisperte er.
„Du hast geträumt.“
Er richtete sich auf. „Das war kein Traum. Sie sah merkwürdig fremd aus, und trotzdem habe ich sie sofort erkannt.“ Er stockte. „Sie wollte mir etwas zeigen. Sie deutete immerzu auf ihre Schläfe.“
„Und?“
Vater sah mich an. Seine Finger spielten unruhig mit dem Bezug der Bettdecke.
„Da war eine rote Stelle“, flüsterte er. „Ein Fleck, verstehst du?“
„Nein.“ Aber das stimmte nicht. Ich verstand genau.
Vaters Worte waren kaum zu verstehen. „Auch der Pathologe hat es erwähnt.“
„Was?“
„Den Insektenstich und dass sie allergisch gewesen sein muss.“
„Na und?“, fragte ich.
Vater holte tief Luft, ehe er weitersprach. „Dir ist klar, was das bedeutet. Und mir auch.“
Ich schwieg. Was sollte ich dazu sagen? Natürlich wusste ich genauso gut wie er, dass der Pathologe Recht hatte. Mutter hatte hysterische Angst vor Wespen gehabt, weil sie allergisch gegen ihr Gift war. Hochallergisch sogar.
„Mit Cola lockt man Wespen an.“ Vater sprach fast wie in Trance. „Und mit einem Zweitschlüssel öffnet man Autotüren.“
Er war also dahinter gekommen: dass ich die Wespen in ihr Auto geschmuggelt hatte. Mindestens sechs oder sieben. Und dann war es sogar noch besser gelaufen, als ich gehofft hatte: Die Viecher erschreckten sie auf der schmalen, steilen Straße, die von unserem Haus in den Ort hinunterführte, zu Tode. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie stürzte in den Abgrund und starb – ob an dem Wespenstich oder an ihren Verletzungen, das war letztendlich nicht wichtig.
Ich starrte vor mich hin. Vater schwieg ebenfalls. Dann riss ich mich zusammen. „Komm mit!“ Ich stand auf und zog ihn hoch. Hand in Hand gingen wir in sein Schlafzimmer. Vor der Tür blieb er unschlüssig stehen. Mit einem Ruck zog ich sie auf.
Der Raum war so stickig, dass mir die Luft wegblieb. Wir standen dicht aneinander gedrängt in der dumpfen Stille und sahen uns um.
Aus einer Zimmerecke fuhr plötzlich ein dunkler Schatten auf uns zu und trieb uns auseinander wie eine heimtückische Sturmbö.
Vater schrie auf.
Ein böses Knurren erfüllte den Raum.
Er griff nach meiner Hand. Ich erschrak, denn seine Finger waren so kalt wie die eines Toten.
Ein Kopf trieb auf uns zu mit dem strengen Gesicht meiner Mutter. Ich erkannte die harten Linien, die sich von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln zogen. Deutlich sah ich auch den flammendroten Fleck auf ihrer rechten Schläfe. Dicht vor unseren Augen verzerrte sich das Gesicht zu einer zornigen Fratze und verschwamm.
Vater schrie erneut.
Ich legte meinen Arm um ihn und drückte ihn fest an mich.
Wie ein kalter Schatten fiel etwas von der Decke auf uns herab. Ein Sausen umgab uns.
Ich erhob meine Stimme. „Vater hat verstanden, was du ihm zeigen wolltest. Er weiß, wie du gestorben bist.“
Das Brausen schwoll an.
Ich küsste ihn auf den Mund. „Doch er wird mich schützen“, schrie ich, um das Jaulen zu übertönen, das unseren Kuss begleitete. „Keiner wird unser Familiengeheimnis je erfahren.“
„Im Leben konnte sie uns nicht trennen“, flüsterte Vater mir ins Ohr, „und auch im Tode wird es ihr nicht gelingen.“
„Hast du gehört, was er gesagt hat?“ Meine Stimme überschlug sich. „Nichts wird sich ändern.“
Das Geräusch verebbte. Schließlich war nur noch ein leises Zischen zu vernehmen. Der schwarze Schatten wurde hauchfein und durchsichtig.
Ich fasste Vater da an, wo er es gern hatte. Das gab ihm Kraft.
„Verschwinde!“, rief er mit heiserer Stimme.
Die rauchige Wolke zerplatzte. Graue Dunstfetzen schwebten durchs Zimmer und lösten sich nach und nach auf.
Vater öffnete das Fenster und kühle Luft strömte zu uns herein.
In dieser Nacht teilten wir ungestört das Ehebett. Zum ersten Mal.