Für JuJu, Nachtschatten und all die anderen, die sich wünschen, dass in der Geschichte etwas passiert:
Heute Abend jogge ich nicht wie sonst durch den Wald. Gewiss, meine Füße finden leicht ihren Rhythmus, sie brauchen mich nicht und lassen meinen Gedanken die Freiheit, den langen schneckengleichen Weg aus dem Alltag bis tief hinein in meine Mitte zu fließen; doch heute Abend ist es anders, ist es mehr, denn ich laufe nicht nur in mich hinein, ich bin auch auf der Suche.
Ich suche nach dem, den mir die Wissenden für die späte Abenddämmerung des 18. August vorausgesagt haben. Noch ist es zu früh, ihn zu finden, noch hat der Himmel sein gläsernes Blau nicht verschattet, nur im Wald hat die Dämmerung schon kleine Nester in das Unterholz gebaut.
Als ich die abgeernteten Felder erreiche, blicke ich erwartungsvoll hinauf, kann ihn jedoch nirgends entdecken. Zu früh, sage ich zu mir, du hast dich in der Zeit geirrt. Nichts ist schlimmer als der falsche Zeitpunkt. Zu früh, zu spät, und alles ist vergebens.
Zwei Frauen in Sportkleidung, auf dem Nachhauseweg mit ihrem Hund, reißen mich aus meinen Gedanken. Ihre Stimmen lassen die Kuppel aus Stille zersplittern, die sich über dem Zirpen der Grillen gewölbt hatte. Ich bleibe abrupt stehen, drehe mich rasch zu ihnen um.
Und genau in diesem Augenblick sehe ich ihn – doch ist das wirklich Jupiter? Er sieht nicht aus, wie ich ihn aus den Büchern kenne. Da wäre er nur ein Lichtpunkt am Abendhimmel gewesen, und jeder, der nicht gezielt nach ihm suchte, hätte ihn für einen beliebigen Stern halten können. Ich jedoch sehe ein mittelgroßes, in Regenbogenfarben schillerndes Himmelsobjekt, viskos, fast wie eine Seifenblase. Es blickt mich an. Natürlich kann ich keine Gesichtszüge erkennen, trotzdem ist mir klar, dass er mir direkt in die Augen schaut, und ich fühle genau: er lächelt mir zu. Während ich noch versuche, meine verwirrten Gedankengänge zumindest rudimentär zu ordnen, schwirren drei Lichtblitze in meine unmittelbare Umgebung, und die abendliche Stille der friedlich daliegenden Kornfelder ist wieder hergestellt. Drei kleine Aschehäufchen werden von einem scharfen Luftzug ins Feld geblasen. Der arme Hund, denke ich noch kurz, er hat doch überhaupt nichts gesagt; wende meinen Blick jedoch sofort wieder zu Jupiter hinauf. Er zwinkert mir zu.
„Was war denn das jetzt??“, denke ich sprachlich relativ wenig elaboriert, was auf Grund der Situation jedoch verzeihlich sein möge. Warum lebe ich noch? Warum liege ich nicht ebenfalls als Ascheflöckchen auf der Wiese, wie die beiden Spaziergängerinnen und der Hund? Warum hat er mich verschont, und vor allem: warum hat er mir zugezwinkert? Wenn die Gefühle versagen, sollte man die Logik zuschalten. Wusste er etwa, dass mir banale menschliche Äußerungen auf meinen stillen abendlichen Streifzügen missfallen? Reagierte er darauf auf seine für unsere Moralbegriffe vielleicht etwas unkonventionelle Weise? Wollte er mir am Ende gar einen Gefallen tun?
Ich beschließe, ihn zu testen, betrachte sinnend einen alten Apfelbaum am Wegesrand und denke dabei an stille Winterabende mit Apfelmus und Brennholz. Nichts geschieht. Ich warte eine Weile, schaue dann wieder nach oben, aber das einzige, was ich feststellen kann, ist eine leicht erhobene Augenbraue. Er scheint noch näher gekommen zu sein, und ich sehe, wie die schillernde Oberfläche der Seifenblase sich kräuselt. Lacht er mich etwa aus?
Er ist ziemlich groß geworden inzwischen, füllt schon fast die Hälfte des Himmels. Vom Tal herauf höre ich Schreie und lautes Hupen. Eine Sirene heult. Irgendetwas scheint passiert zu sein in meinem sonst so stillen Heimatdorf. Vielleicht brennt es irgendwo, denke ich, aber das darf mich jetzt nicht interessieren, ich bin hier mit Jupiter auf dem Hügel und möchte diese ungewöhnliche Begegnung gerne weiter auskosten. Morgen könnte der Himmel wieder bewölkt sein, und dann? Astronomische Beobachtungen darf man niemals aufschieben. Ganz gleich, was geschieht, man darf sich nicht ablenken lassen. Diszipliniert geht mein Blick zum Himmel zurück. Was wird Jupiter wohl als nächstes tun? Zügig scheint er näher zu kommen.
Im Dorf muss doch etwas anderes passiert sein, denn ich höre Autos starten, hupen, und aus dem Augenwinkel sehe ich Autos, Fahrräder und Fußgänger auf dem Weg Richtung Stadt. Die Szenerie erinnert mich an die Staus am Morgen, die ich gerne meide, lieber etwas früher oder etwas später losfahre. Doch heute Abend ist es anders. Die Fahrzeugreihe wirkt ungeordnet, und manche scheinen die Verkehrsregeln nicht einhalten zu wollen. Menschen ohne eigenes Fahrzeug warten nicht wie sonst gelassen auf den Bus, dessen Verspätungen sie gewohnt sind, sondern machen sich zu Fuß auf. Einige tragen Haushaltsgegenstände bei sich. Das Ganze wirkt eher wie eine panische Flucht, eine, die man nie in der Realität, jedoch relativ häufig im Fernsehen sieht.
"Wo wollen sie nur alle hin", überlege ich und bin recht froh, hier auf dem stillen, friedlichen Hügel zu sein, denn zu lärmenden Menschenmassen fühle ich mich in aller Regel nicht hingezogen. Mein Jupiter füllt inzwischen schon den gesamten Himmel aus, schillernd, regenbogenfarbig, schön. Er bewegt sich stetig auf die Erde zu, wirkt dabei völlig gelassen, ausgeglichen, so, als wisse er genau, was er tue. Ruhig schaue ich zu ihm hinauf und warte.
Der Lärm, die Menschen, alles bleibt weit unter uns zurück. Es ist still. Am Himmel gibt es nur noch Jupiter, auf der Erde nur noch mich. Glücklich lächle ich zu ihm hinauf.
Er ist da. Das letzte, was ich noch mit meinen Augen sehe, ist das Zentrum des Great Red Spot.
;-)))
enigma