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Heute bin ich dran mit Sterben

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13.06.2002
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Heute bin ich dran mit Sterben

Ich weiß noch genau, wie der letzte Mensch starb - es war ein Mittwoch.
Es lag in ihrer Natur, daß sie sich über ihr Ende Gedanken gemacht haben. Manche von ihnen haben ihr ganzes Leben damit verbracht, sich auszudenken, wie ihre Spezies einmal aussterben würde und wie man es verhindern könnte. Theorien gab es viele: Seuchen, Kriege, Meteoriteneinschläge, globale Erwärmung, glibbrige Außerirdische. Nichts davon ist passiert.
Sie sind einfach ausgestorben. Haben sich von Generation zu Generation weniger vermehrt, bis irgendwann einfach niemand mehr übrig war. Kein großer Knall, keine Katastrophe - das Universum hat es nicht einmal mitbekommen.

Und nachdem der letzte Mensch dann an einem Mittwoch im Alter von neunzig Jahren zu Atmen aufgehört hat, hat die Welt uns gehört.

Wir waren ebenfalls viele. Doch nach dem Ende der Menschheit gab es für unsereins wenig Sinn, zu bleiben. Einige haben sich in Höhlen versteckt und auf eine neue intelligente Spezies gewartet, bis sie irgendwann vergessen wurden und ebenfalls starben. Die meisten sind verschwunden und haben sich neue Planeten gesucht. Ich weiß nicht, ob sie glücklich wurden, aber ich wünsche es ihnen.
Nur zwei von uns sind geblieben. Nur zwei. Jim und ich. Und heute bin ich dran mit Sterben.

...

Der brennende Reisebus verfehlt mich um ein paar Zentimeter. Glück gehabt, denn diesmal hat Jim mich wirklich überrascht.
"Das nennst du originell?"
"Wenn es funktioniert, geb ich einen Scheiß auf originell."
"Es hat nicht funktioniert."
"Ja... nächstes Mal muss ich wohl besser zielen." Jim grinst. Warum zum Teufel grinst er?

Die Explosion hat keine Gelegenheit, in meinem Kopf zu dröhnen, denn im selben Moment werde ich von der Druckwelle durch die Luft geschleudert, schlage mir im Vorbeiflug den Schädel an einer Straßenlaterne an und lande mit dem Gesicht auf der Bordsteinkante. Ich weiß, daß ich nicht viel Zeit habe, nach Verletzungen an meinem Körper zu suchen, stehe auf, schüttele den Schmerz aus meinem Kopf, klopfe mir den Staub von der Schulter und springe im letzten Moment zur Seite, bevor die Kuh genau dort landet, wo ich eben noch gelegen hatte.
Lektion: Steht man mit dem Rücken zu einer Tankstelle, sollte man sich nicht lange freuen, wenn man knapp von einem brennenden Bus verfehlt wird.

"Werfen wir jetzt also schon mit Tieren?"
"Du nicht, ich schon", lacht Jim und gewinnt ein wenig an Höhe. Sei es, um einen besseren Überblick zu bekommen oder um seinen überlegenen Status zu demonstrieren. "Außerdem wolltest du mich letztes Mal unter einem Wal ersticken. Also komm mir nicht so!" Ich muss zugeben, daß er damit faktisch nicht ganz daneben liegt. War ein Pottwal.
"Wale haben Stil", rechtfertige ich mich.
"In welchem Universum?"
"In jedem Universum."
"Wale sind nur große Fische, die zu dumm zum Tauchen sind."
"Lenk nicht ab. Du hast eine Kuh getötet. Das macht man nicht."
"Deine Schuld. Wär sie auf dir gelandet, hätte sie überlebt."
"Ja, bestimmt... und jetzt?"
"Geb dir drei Sekunden. Lauf!"

Was macht man mit der Ewigkeit? Was macht man als unsterblicher Gott, wenn man einen ganzen Planeten als Spielplatz hat? Wie vertreibt man sich die Zeit, wenn das einzige andere Lebewesen, mit dem man sich unterhalten kann, ebenfalls ein unsterblicher Gott ist?

Jim und ich haben gespielt.
Ergebnis: Drei Monate Yahtzee machen einen wahnsinnig, Scrabble kann durchaus für ein paar Wochen unterhalten bis man alle Worte kennt, Risiko ist ein Spiel für blöde Schummler und Monopoly der langweiligste Zeitvertreib seit Bierdeckelschnippsen. Bierdeckelschnippsen haben wir auch gespielt.
Danach sind wir für eine Weile getrennt Wege gegangen. Er nach Amerika, ich nach Europa.
Auch das ist nicht besonders abendfüllend. Zum Einen gibt es nur eine Sache, die noch langweiliger ist, als die Ewigkeit in Jims Begleitung - und das ist die Ewigkeit ohne Jims Begleitung. Und zum Anderen... nun ja, als Gott ist man darauf angewiesen, daß jemand an die eigene Existenz glaubt, ansonsten hört man einfach auf. Und wenn es nur eine Person gibt, die an einen glauben kann, dann fühlt man sich einfach besser, wenn man diese Person nicht aus den Augen verliert.
Schließlich haben wir angefangen, uns gegenseitig zu töten. Immer abwechselnd. Wer länger überlebt, gewinnt die Runde. Regel: Der Gejagte benutzt keine Götterkräfte.

Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwan...
Die Kugeln treffen auf die Straße und schlagen kleine Stückchen aus dem Asphalt. Jim hat ein Maschinengewehr. Weichei. Ich sehe keine Alternative und laufe. Geradeaus, links um die Ecke, vorbei an der verlassenen Bushaltestelle, unter der Unterführung hindurch, wieder um die Ecke, durch das Tor in den Park, vorbei am Ententeich, vorbei an den ehemaligen Liegewiesen, vorbei an einem schlafenden Schäferhund, vorbei an der alten Kirche, Richtung Friedhof, über die Mauer, in den Friedhof, mit dem Rücken an die Mauer, hinsetzen, ausruhen.
Hinter mir zerspringt die Welt, fliegen Splitter aus Baumrinden, zerbersten Fensterscheiben und platzen Enten. Jim ist kein guter Schütze, aber er hat eine Menge Munition. Ich drehe mich und werfe einen vorsichtigen Blick über die Mauer auf die Schneise der Verwüstung, die mein Jäger hinter mir in die Welt geschnitten hat. Etwas wird in hohem Bogen über die Wand geworfen, landet mit einem Klicken auf einer Grabplatte und rollt noch ein paar Meter weiter, bis es schließlich liegen bleibt und explodiert. Die Granate reisst einen Krater in den Boden, Grabsteine fliegen durch die staubgeschwängerte Luft und reissen Löcher in die Mauer hinter mir. Ich springe zur Seite, doch ein dicker Brocken trifft mich am Bein und verwandelt alles unterhalb der Kniescheibe in etwas Matschiges.
"Das ist alles?", höre ich mich schreien. "Hast du keinen Panzer oder so?"
"Einen Panzer? Werd erwachsen, wir sind mitten in der Stadt", lacht Jim. "Wo zum Geier soll ich hier einen Panzer herneh... oh warte. Bin gleich zurück."
Lektion: Bring deinen Jäger niemals auf dumme Gedanken.

Ich warte natürlich nicht. Bin verwundet, nicht dumm. Langsam robbe ich mich vorwärts, Meter um Meter. Vor mir ein Mausoleum und damit Schutz vor dem zu erwartenden Donnerschlag. Mein Bein schmerzt, meine Muskeln blockieren und meine Augen brennen vom Staub in der Luft. Ich suche mir meinen Weg durch die Trümmer der letzten Explosion und komme meinem Ziel tatsächlich langsam aber sicher näher. Zu langsam.
"Ich wusste doch, daß da hinten eine alte Militärbasis lag", beginnt Jim und lässt den Panzer fallen. Das Fahrzeug landet ein paar Zentimeter vor mir im Dreck. Jetzt spielt er also mit mir. "Nur Spaß", spottet mein Jäger. "Das wäre echt nicht besonders originell, oder? Nein, ich hab eine bessere Idee." Jim landet hinter mir, greift mein gesundes Bein und schleudert mich leichtfertig durch die Luft, genau in den Ententeich. Ich liege im Wasser, das sich langsam rot verfärbt. Doch ich habe keine Zeit, mich darauf zu konzentrieren. Muss meine ganze Kraft aufbringen, nicht unterzugehen.

Regel: Der Gejagte wird nicht unnötig gequält.
Blitze zucken herab, treffen die Wasseroberfläche, bringen den See zum Kochen. Ich mittendrin. Strom durchfließt meinen Körper, bringt meine Muskeln zum Verkrampfen. Jedes Molekül in mir verwandelt sich in ein dunkles Universum aus Schmerzen, in das ich immer tiefer hineingesogen werde. Ich kann nichts sehen, nicht atmen, nichts wahrnehmen. Fast nichts. Ich höre das Lachen meines Peinigers, auch wenn das Knistern der Blitze in meinen Ohren dröhnt.

Jim war früher einmal ein Gott der Unwetter. Er hat nichts verlernt.
Mir wird schwarz vor Augen. Ende der Runde.

...

"Guten Morgen, Sonnenschein."
"Halts Maul."
"Wenn ichs nicht besser wüsste, würde ich fast sagen, daß da aber einer ganz schlecht geschlafen hat."
"Ich habe gar nicht geschlafen."
"Ich weiß. Bin auch ein Gott. Schon vergessen?" Jim klopft mir auf die Schulter. Ich setze mich auf und untersuche meinen Körper. Alles noch da. Wieder da, besser gesagt. Ein wichtiger Teil, ein unsterblicher Gott zu sein, besteht darin, unsterblich zu sein. Mein Kopf schmerzt, aber ich ignoriere es.
"Du hast übrigens verloren", sagt Jim und gießt sich einen Kaffee ein. "Ich hab dich in fünf Stunden gekriegt, du hast davor nen ganzen Tag gebraucht."
"Du hast die Regeln verletzt."
"Wie meinen?" Er bietet mir eine Tasse an, ich lehne ab.
"Du hast die Regeln verletzt. War es nötig, mich so lange zu brutzeln? Der Panzer hätte gereicht."
"Nötig nicht, aber verdammt lustig."
"Weißt du was? Ich glaube, ich nehm doch einen Kaffee. Man muss das Leben genießen, solange man es hat." Ich genieße die Wirkung des Koffeins und die Wärme in meinem Hals. Gleich wird die nächste Runde starten. Und ich weiß schon genau, was ich diesmal machen werde.
"Können wir dann?", fragt Jim. "Ich bin dran mit sterben."
"Ja, bist du." Ich ringe mir ein süffisantes Grinsen ab. "Ich geb dir eine Minute."

Ich erinnere mich an die Qualen vom Vortag, das Zucken meines Körpers, die unzähligen Explosionen jedes einzelnen Muskels. Er hat gegen die Regel gespielt. Zeit für mich, das Spiel zu beenden, ein für alle Mal.
Während Jim die Beine in die Hand nimmt und offenbar aus Angst vor meiner Rache schneller rennt, als ich ihn je habe rennen sehen, lehne ich mich zurück. Es gibt nur einen Weg, einen Gott zu töten.
Ich schließe die Augen und konzentriere mich. Und dann vergesse ich ihn.

 
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Hi gnoebel,

die Geschichte gefällt mir sehr. Abgesehen von der guten Schreibe und dem feinen Humor, finde ich sie irgendwie faszinierend.

Dabei finde ich gerade diese göttliche Banalität spannend, die sich in einem sinnlosen Actionspektakel artikuliert.
Hier haben wir es mit erschreckend gleichgültigen Göttern zu tun, die das Ableben der Menschheit weder groß betrauern, noch bedauern. Damit ihrer Sinngebung entledigt, flüchten sie sich in ihre "Spiele" (und dabei finde ich die Steigerung vom profanen Brettspiel hin zum absurd ausgeprägten Egoshooter sehr gelungen), nur um sich nicht zu Tode zu langweilen, bis sie schließlich ihrer Existenz selbst überdrüssig geworden sind. Und das finde ich ehrlich gesagt ziemlich pfiffig und nicht wirklich platt.

Genauso stark finde ich den Gedanken, dass nach dem Ende der Menschheit, sich die Götter (wenigstens die letzten beiden) anfangs noch so an ihr Sein klammern, dass sie einfach gegenseitig an sich glauben.

Eine Kleinigkeit noch.

Der Gejagte benutzt keine Götterkräfte.
Eine Kuh auf jemanden zu werfen, dürfte die menschlichen Kraftreserven doch wenigstend ein bisschen übersteigen ;).

Lg fvg.

 

Hi kawitt und fvg,


Danke euch beiden fürs Kommentieren und Lesen (bzw andersrum: erst lesen, dann... naja, ihr wisst schon ;))

@kawitt:
Ich glaube, der Schäferhund war Atheist, konnte aber, wie alle Atheisten (oder Schäferhunde), sehr schnell rennen.


@fvg:

Dabei finde ich gerade diese göttliche Banalität spannend, die sich in einem sinnlosen Actionspektakel artikuliert.
Ja, das ging mir beim Schreiben ganz ähnlich. Wie du richtig sagtest, nachdem der letzte Mensch gestorben war, hatten sie einfach nichts mehr zu tun und irgendwie muss man den Tag ja rumkriegen. Den Gedanken fand ich interessant.
Eine tiefere Aussage oder so hat dieser Text vermutlich nicht, aber es ist natürlich schön (und auch nicht unbeabsichtigt), wenn er dennoch zum Nachdenken anregen kann.
Eine Kuh auf jemanden zu werfen, dürfte die menschlichen Kraftreserven doch wenigstend ein bisschen übersteigen
Du hast mich noch nie mit Kühen jonglieren sehen ;)
Nee, du hast natürlich Recht - aber mein Erzähler (der Gejagte) wirft hier eigentlich nichts. Als er damals den Wal geschmissen hat, war er der Jäger.

 

Hi gnoebel,

geile Geschichte, hat mir richtig gut gefallen.
Tja, so ist das mit den Göttern. Glaubt niemand an sie, sind sie auch nicht da.

Jedenfalls ist das ne tolle Idee, sich vorzustellen, was wohl nach uns Menschen auf der Erde los ist.
Das Ende finde ich sehr passend, göttlich eben.

Habe nix zu meckern, nur gerne gelesen.

Liebe Grüße und schönen Sonntag
Giraffe :)

 

Ich finde diese Geschichte einfach nur Gut, Besser am Besten!
LG, Lenni

 

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