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Heute, morgen oder irgendwann
Ich vernahm die lauten Stimmen bereits, bevor ich den Hausschlüssel in das Türschloss gesteckt hatte. Wörter wie: „doofe Ziege“ und „Idiot“, drangen an mein Ohr.
Bitte nicht schon wieder, dachte ich genervt und verdrehte die Augen. Konnte es nicht einen Tag geben, an dem sich meine beiden Kinder nicht lautstark wegen irgendwelcher Kleinigkeiten stritten? Ich ergriff die Einkaufstüten, die ich neben dem Blumenkübel abgestellt hatte und öffnete die Tür.
„Wenn du ´ne Fliege verschlucken würdest, hättest du mehr Gehirn im Bauch als im Schädel“, warf mein Dreizehnjähriger gerade seiner jüngeren Schwester an den Kopf.
Ich musste unwillkürlich schmunzeln, auch wenn die Lage ernst war. Wo mein Sohn nur immer wieder diese Sprüche herhatte? Ich holte noch einmal tief Luft, bevor ich zum Gegenangriff überging.
„Was ist denn hier wieder für ein Geschrei?“ Ich stellte die Tragetaschen auf der Küchenanrichte ab und wandte mich den Streithähnen zu.
„Ich weiß genau, dass ich noch zehn Kaugummis hatte, jetzt sind nur noch acht da. Tom hat mir zwei geklaut“, ereiferte sich Katarina.
„Na und? Acht reichen doch auch“, gab der Beschuldigte zurück und setzte diesen gelangweilten Lasst-Mich-Doch-Alle-In-Ruhe-Pubertätsblick auf.
„Du hättest mich aber vorher fragen müssen.“
„Ha, als ob du mir freiwillig etwas abgeben würdest.“
„Vertragt euch und kriegt euch nicht dauernd wegen solcher Lappalien in die Wolle. Ihr seid schließlich Geschwister. Da könnt ihr euch doch gegenseitig etwas abgeben“, versuchte ich zu schlichten, wohl wissend, dass ich mit den gleichen Erfolgsaussichten versuchen konnte, Angela Merkel einen anderen Friseur aufzuschwatzen.
„Du hältst ja sowieso immer zu Tom. Ich hasse euch alle“, schrie Katarina und ließ mit einem Knall ihre Zimmertür ins Schloss fallen. Bevor ich zu einem weiteren Vortrag ansetzen konnte, verkrümelte sich Tom ebenfalls in seine vier Wände.
Seufzend ließ ich mich auf einen Küchenstuhl sinken. Als ob mein Leben nicht schon stressig genug war. Schließlich hatte ich bereits einen anstrengenden Acht-Stunden-Bürojob hinter mir. Mein gestern frisch bezogenes, bequemes Bett, das für eine Sekunde einladend vor meinem inneren Auge auftauchte, wurde sofort von solchen Bildern wie: „der vollen Spülmaschine“, „der noch volleren Waschmaschine“, und „dem überquellenden Bügelwäschekorb“ überlagert. Mechanisch begann ich die Lebensmittel auszupacken und in den entsprechenden Regalen und Schränken zu verstauen. Es war Mittwoch – Rolands Skatabend, was im Klartext bedeutete, dass ich bis in die Puppen als Kellnerin für meinen Göttergatten und seine Kumpanen fungieren musste.
Die Zukunftsaussichten waren auch nicht viel rosiger. Nächste Woche hatte sich Schwiegermutter zu ihrem dreimal pro Jahr stattfindenden, vierzehntägigen Kontrollbesuch angemeldet, bei dem sie überprüfte, ob ich das richtige Waschmittel verwendete, die Hemden ihres „Buben“ faltenfrei bügelte und ihre Enkel noch keine Schwindsuchtanzeichen aufwiesen. Frustriert räumte ich die benutzten Gläser, welche die Kinder wieder einmal „aus Versehen“ stehen gelassen hatten, in den Geschirrspüler.
Am nächsten Tag saß ich in der Mittagspause mit meiner Kollegin Birgit in der Kantine und stocherte lustlos auf meinem Teller herum. Birgit war auch gleichzeitig meine beste Freundin und hatte stets ein Gespür dafür, wenn ich mit irgendeinem Problem schwanger ging.
„Los, spuck schon aus Susi, was hast du?“, forderte sie mich auf.
„Wer ist es? Die Kinder? Roland? Deine Schwiegermutter?“
„Alle zusammen“, stöhnte ich und lächelte, weil Birgit wieder den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
„Die Kinder streiten sich immerzu und helfen mir kein Stück bei der Hausarbeit und Roland lässt sich auch nur von vorne bis hinten bedienen.“ Ich stach heftig mit der Gabel in das Schnitzel.
„Er kapiert einfach nicht, dass ich in meinem Job genau so viele Stunden abdrücke wie er, aber zusätzlich noch die gesamte Hausarbeit am Hals habe.
Und nächste Woche kommt auch noch Ilse zu Besuch, die hat mir gerade noch gefehlt.“
„Vielleicht solltest du deine Familie mal spüren lassen, wie es wäre, ohne dich auszukommen“, schlug Birgit vor. Begeistert von ihrer eigenen Idee ging sie gleich aufs Ganze.
„Warum fährst du nicht in mein Ferienhaus nach Spanien und erholst dich von dem ganzen Stress? Sonne – Meer – himmlische Ruhe, vielleicht ein kleiner Flirt und keiner, der dich von der Seite anquakt.“
Nachdenklich wickelte ich eine Haarsträhne um den Finger. „Wie soll das gehen? Die Kinder können doch nicht alleine ...“
„Klar können sie“, unterbrach mich Birgit. „Hast du nicht gerade gesagt, dass deine Schwiegermutter kommt? Das ist doch prima, dann kann die sich doch um alles kümmern, macht sie doch eh so gerne.“
Langsam begann ich, mich mit dem Gedanken anzufreunden.
Ich müsste nur bei meiner Firma Urlaub einreichen und einen Flug buchen. Und dann: España – ich komme!
„Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir unseren Zielflughafen Alicante”, ertönte die Stimme der Stewardess. Lächelnd schaute ich aus dem Fenster des Flugzeuges und konnte weit unten auf dem Meer bereits die Schaumkronen der Wellen erkennen.
Ich hatte es tatsächlich getan, hatte meinen seit gestern heimlich unter dem Bett verstauten Koffer geschnappt und war mit einem Taxi zum Flughafen gefahren. Die Nachricht, die ich geschrieben hatte, würden Roland und die Kinder spätestens heute Abend finden. Und morgen kam ja bereits Schwiegermutter und würde das Zepter an sich reißen.
Ich packte das Buch, in dem ich während des Fluges gelesen hatte, in meine Tasche und schnallte mich wieder an. Einer von Birgits spanischen Freunden, sollte mich vom Flughafen abholen und zu ihrer Finca bringen, die circa zehn Kilometer vom Meer entfernt lag.
Der angekündigte Einheimische wartete am Ausgang des Terminals mit einem Namensschild in der Hand. Er wirkte sehr sympathisch und sah unverschämt gut aus.
„Hola, ich bin Gonzalo“, stellte er sich vor und entblößte eine Reihe schneeweißer Zähne. „Und du musst Susanne sein.“
Ehe ich mich versah, hatte er mich rechts und links auf die Wangen geküsst. „Ist bei uns in Spanien so üblich“, erklärte er mit einem spitzbübischen Lachen.
„Woher sprichst du so gut deutsch?“, fragte ich ihn. Sein Akzent war wirklich kaum herauszuhören.
„Ich habe in Deutschland studiert und war ein paar Jahre mit einer Deutschen verheiratet“, antwortete Gonzalo, während wir über den Parkplatz zu seinem Auto gingen.
Kurze Zeit später fuhren wir in Richtung Norden. Vom Flugzeug aus hatte die Landschaft kahl ausgesehen. Dies änderte sich jedoch, je weiter wir uns von Alicante entfernten. Links von der Straße erstreckten sich sanft ansteigende, grüne Hügel, nur hier und da von dem strahlenden Weiß einzelner Ferienvillen unterbrochen und rechts lag das Mittelmeer, wie ein riesiges blaues Seidentuch, auf dem ein Kind seine Spielzeugsegelboote verteilt hatte. Nach ungefähr einer dreiviertel Stunde bog Gonzalo von der Autobahn ab.
Ob meine Familie mich schon vermisste? Ob sie auch ohne mich zurechtkämen? Bestimmt hatten sie den Zettel bereits gefunden. Ich hatte geschrieben, dass ich etwas Abstand benötigte und mich im Laufe der Woche bei ihnen melden würde. Und jetzt Schluss mit der Grübelei, ermahnte ich mich. Schließlich war ich hier, um abzuschalten und mich zu erholen. Unauffällig schaute ich nach links und konnte nicht verhindern, dass bei dem Anblick von Gonzalos markanten Zügen ein kleiner Adrenalinstoß durch meinen Körper fuhr.
Birgits Finca war wunderschön. Sie lag eingebettet zwischen Mandel- und Olivenbäumen und bot einen fantastischen Blick über ein Tal mit Weinreben auf ein zerklüftetes Bergmassiv. Die Sonne war gerade hinter dem Gebirge verschwunden und hatte auf dem Himmel ein Gemälde in feurigen Rot- und Orangetönen hinterlassen. Die Finca selbst war von zwei Seiten mit Naturstein verkleidet und vor der überdachten Terrasse lockte ein Swimmingpool zum Sprung ins kühle Nass. Hier würde ich mich wunderbar erholen können. Ich hörte Schranktüren klappern und bald darauf kam Gonzalo mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein auf die Terrasse.
„Ein kleiner Willkommensgruß, bevor ich dich mit den Eulen, Fledermäusen und Füchsen alleine lasse“, scherzte er. Er füllte die Gläser und wir prosteten uns zu. Der Blick seiner dunklen Augen jagte mir erneut einen Schauer durch den Körper. Wir setzten uns hin und während das Farbenspiel des Himmels langsam verblasste und die ersten Sterne zu sehen waren, unterhielten wir uns über unsere Beziehungen. Gonzalo erzählte mir von seiner Exfrau und ihrer Scheidung, die erst ein paar Monate zurücklag und ich redete über die Probleme mit meiner Familie. Es tat gut mit einem Außenstehenden darüber zu sprechen und Gonzalo war ein aufmerksamer Zuhörer.
„So, jetzt hab ich dich lange genug aufgehalten, du bist bestimmt müde von der Reise“, sagte er schließlich, nachdem wir die Flasche Wein geleert hatten und ich bereits zweimal in kürzester Zeit gegähnt hatte. „Hier hast du meine Handynummer.“ Er reichte mir ein Kärtchen.
„Falls du irgendetwas brauchst, ruf einfach an. Ich schaue morgen Abend wieder vorbei. Adios Susana, hasta mañana.“ Er stellt sein Glas ab und strich mir über die Wange, bevor er ging. Ich blieb noch eine Weile sitzen und genoss die himmlische Ruhe, die nur ab und zu von dem Gezirpe der Grillen oder dem Ruf eines Käuzchens unterbrochen wurde.
Jetzt war ich gerade mal einen halben Tag von zu Hause weg und der erstbeste Mann, der mir über den Weg lief, verursachte mir bereits Herzklopfen.
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Ich sonnte mich am Pool, las oder erkundete die Gegend mit Birgits Jeep. Ab und zu kam Gonzalo vorbei und wir waren auch schon einmal abends essen gegangen. Am zweiten Tag hatte ich zuhause angerufen. Ich hatte erwartet, dass Roland mir Vorhaltungen machen würde, aber er war erstaunlicherweise ruhig geblieben. Er hatte sich auch seitdem nicht gemeldet. Ich kannte meinen Mann, dazu war er zu stolz.
So genoss ich also meine Alltagsflucht in vollen Zügen und verspürte noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei.
Am nächsten Abend holte Gonzalo mich ab und wir fuhren auf eine Fiesta im Nachbarort. Als wir ankamen, begann gerade der Festumzug.
„Wow“, rief ich, „was für tolle Kostüme!“ Die langen bestickten Kleider der Frauen leuchteten in bunten Farben und an ihren hochgesteckten schwarzen Haaren waren kunstvoll verzierte Kämme und lange Spitzenschleier befestigt, die so genannten „Mantillas“, wie Gonzalo mir erklärte. Die Männer hatten schwarze Anzüge an und bunte Schärpen um die Taille gebunden. Am Ende der Prozession wurde eine über und über mit Blumen geschmückte Marienstatue getragen. Zwei Musikkapellen begleiteten ebenfalls den Zug. Als ich das rhythmische „Padapam Padapam“ der Paukenschläge hörte, bekam ich eine Gänsehaut.
„Ist das schön“, sagte ich bewundernd und drückte Gonzalos Hand. „Was feiern die hier eigentlich?“
„Das Fest der ‚Virgen de los desamperados’, der Schutzheiligen der Fischer“, erklärte er mir. „Es findet jedes Jahr zur gleichen Zeit statt, um die Jungfrau zu ehren. Jeder Ort hat einen eigenen Heiligen und feiert einmal im Jahr eine Fiesta.“
Als die Prozession zu Ende war, wurde am Strand ein riesiges Feuerwerk gezündet und danach spielte eine Kapelle auf der Plaza. Es schienen wirklich sämtliche Dorfbewohner dort versammelt zu sein. Alt und Jung bewegten sich zu den Klängen der Musik und auch wir schwangen das Tanzbein.
Ein paar Kinder sprangen lachend um uns herum. Eines der Mädchen sah aus wie Katharina und plötzlich bekam ich unbändiges Heimweh nach meinen zwei Streithähnen.
„Was hast du? Du guckst so traurig?“, fragte Gonzalo.
„Ich musste nur gerade an meine Kinder denken. Ob sie mich vermissen?“
„Mach dir keine Sorgen“, tröstete er mich, „bestimmt genießen sie die ‚Mama-freie’ Zeit.“
Die Band begann einen langsamen Pasodoble zu spielen und Gonzalo zog mich an sich. Er schaute mir in die Augen und dann küsste er mich.
„Denk nicht an Deutschland, Susanita, das ist weit weg“, flüsterte er. „Jetzt bist du in España, hier bei mir.“ Ich legte meinen Kopf auf seine Schultern und seufzte.
Ja, dachte ich, und was würde nächste Woche sein? Würde ich weiter auf der Flucht sein oder zurückkehren und ernsthaft mit meiner Familie reden? Ich würde mich entscheiden müssen, ... heute, morgen oder irgendwann.
Und während die Gesichter von Roland und den Kindern vor meinem inneren Auge erschienen, spürte ich die Wärme von Gonzalos Umarmung.