Hier beginnt eine Geschichte
Es ist 17:34 Uhr und 26, 27, 28 Sekunden.
Ungeachtet des dichten Verkehrs in der Frankfurter Innenstadt bildet sich in knapp 1123 Metern Höhe ein 5 mm großer Regentropfen, der sofort von der Schwerkraft beeinflusst seinen Weg Richtung Boden beginnt. Während das kleine Wunder der Natur der Erde entgegen trudelt, ist es ganz alleine. Denn all die anderen Regentropfen sind diejenigen, die erst kommen, nachdem man gesagt hat, dass man gerade gemerkt hat, dass man einen Tropfen abbekommen hat. Und weil die anderen Tropfen erst etwa zehn Sekunden später auf die Erde treffen werden, spielen sie keine Rolle. Zumindest nicht in dieser Geschichte.
Während der Regentropfen sich langsam aber ziemlich sicher der Erde nähert, kommt er auch der Frankfurter Innenstadt immer näher. Bis der Tropfen zugegebenermaßen ziemlich unspektakulär auf der rechten Wange von Marie, einer jungen Frau, landet und so sein jähes Ende findet.
Und hier beginnt eine andere Geschichte.
Marie, die beschlossen hat, aus dem Taxi zu steigen, obwohl sie sich noch nicht an ihrem eigentlichen Ziel befindet, spürt den Regentropfen nur kurz auf ihrer Wange, wischt ihn mit einer nervösen Handbewegung weg und greift nach ihrem Schirm. Sie bezahlt das Taxi, das sich hoffnungslos im Stau in der Innenstadt verkeilt hat und spannt ihren Schirm auf. Als der sich öffnet trifft er die Schläfe eines ebenfalls jungen Mannes, der kurz davon war, Marie die Brieftasche zu klauen, weil das Klauen ihm diesen bestimmten Nervenkitzel bringt, es aber sein lässt, als sich Marie sehr umständlich bei ihm entschuldigt und er sich dabei in ihre Augen verliebt. Da fängt es an zu regnen, tausende Regentropfen finden ihr Ende auf dem harten Pflaster, verschwinden in Regenrinnen oder werden sterbend noch von den Menschen mit finsteren Worten bedacht.
Marie hält ihren Schirm über den jungen Mann. Der lächelt dankbar. Sie lächelt zurück. Und genau in diesem Moment vergisst Marie ihren Termin, wegen dem sie in die Frankfurter Innenstadt gekommen war. Am folgenden Tag wird sie deswegen ihren Job bei der Zeitung verlieren.
Doch zuvor wird Marie feststellen, dass der junge Mann ihren Lieblingsnamen trägt und dieselbe ungewöhnliche Musik hört. Sie wird das erste Mal in ihrem Leben in einem Pub sitzen und irisches Bier trinken. Und vor allen Dingen wird sie glücklich neben einem jungen Mann einschlafen, dessen Wohnung sich im 13. Stockwerk befindet und der ihr in zehn Jahren erzählen wird, dass er ihr einmal die Brieftasche klauen wollte.
Es ist 17:45 und 12, 13, 14 Sekunden und zwei Personen betreten dicht gedrängt unter einem Schirm den Irish Pub, der keinen Namen trägt.
Ungeachtet des dichten Verkehrs in der Frankfurter Innenstadt entsteht ein Riss in der Wolkendecke und lässt die Abendsonne durchsickern. Tausende von Regentropfen werden noch einmal, bevor sie den Boden erreichen, von der Sonne durchschienen und lassen so einen Regenbogen entstehen.
In diesem Moment beschließt Martin, Bankkaufmann von Beruf, der gestern seinen 43. Geburtstag hatte und noch immer ein wenig neben der Spur ist, ein Bild von diesem Ereignis zu machen und findet bei der Suche nach seinem Fotoapparat einen nicht eingelösten Lottoschein in seiner Tasche. Nachdem er das Foto gemacht hat, dreht er den Lottoschein nachdenklich in seiner Hand und entscheidet sich letztendlich dafür, ihn einem Bettler zu geben.
Aber hier hat schon längst wieder eine andere Geschichte begonnen…