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- 01.01.2015
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Himmel und Erde
Meine Daumen tippen rastlos eine Nachricht in den Wind. Wieder taste ich meine Hosentaschen und die pinke Sportjacke ab, schaue meiner Mutter böse ins Gesicht. Mit einem Schnauben atme ich die Märzluft aus, schlage die Arme um meine Schultern und wünsche, es wäre nur ein Spiel.
„Warum können wir nicht alle mit dem Auto auf die verdammte Insel fahren und warum kriege ich nicht wenigstens hier noch mein Handy?“
„Weil wir es so ausgemacht haben.“
Seit über einer Stunde wandern wir auf der Betonspur durch kurzes Gras und die Hinterlassenschaften der Schafe, die uns missmutig beobachten. Entlang des schmalen Fahrdamms, inmitten von Nichts. Es ist so platt, nichts Interessantes, bloß Wiesen, Matsch, aufgeschüttete Steine und das ewige Gekreische der Möwen. Der Wind kommt gefühlt immer von vorne, egal wie ich mich drehe.
„Wie lange noch?“
„Da hinten, siehst du die drei Häuser? Das ist die Hamburger Hallig.“ Meine Mutter reicht mir die Thermoskanne mit dem heißen Kakao. „Trink was, dann wird dir wärmer.“
Ganz weit im Dunst kann ich die Umrisse von einigen weißen Häusern erkennen, die sich ins Gras ducken, nicht viel größer als die Schafe mit ihren Lämmern, die jedes Mal davonlaufen, wenn wir uns nähern. „Mir ist nicht kalt, mir ist langweilig.“
„Vielleicht hättest du vorhin ins Ausstellungshaus mitgehen sollen?“ Dort hat uns mein Vater, nach der Autofahrt von Stuttgart, eine letzte Pause gegönnt und ist dann alleine mit dem Auto weiter. Mama bestand auf die Wanderung.
„Da waren nichts als Bilder und Texte, voll langweilig.“ Ich klopfe meine Hosentaschen ab, lasse die Hände wieder sinken. „Außerdem stinkt es hier.“
Meine Mutter atmet tief ein und aus. „Das ist das Watt, das Salz und die Nordsee – wird dir gut tun.“ Besorgt schaut sie mich an. „Ich freue mich drauf, dich braungebrannt und mit Pausbacken wieder abzuholen.“
„Braungebrannt im März? Alles klar! Sechs Wochen ohne Handy, das geht einfach nicht.“
„Das geht! Vielleicht bist du ja die erste Zwölfjährige in Deutschland, die so was Hartes übersteht.“
Meine Mutter streichelt mir über die Wange und geht mit federnden Schritten weiter. Ich schleiche ihr hinterher und bin allmählich sicher, dass sie diese dämliche Idee des Psychoheinis durchziehen wird.
Der Wind reißt an meinen Haaren. Ich lasse mich ins Gras fallen, ob da nun Schafködel liegen oder nicht. Egal! Wenn ich nicht weiterlaufe, was will sie machen? Es ist so ungerecht! Alle in meiner Klasse haben ein Handy, alle sind ständig im Netz, allein bei mir gibt es so einen Affentanz. Sie haben behauptet, ich würde online leben. Völliger Quatsch, ich bin ja noch in mein Bett gegangen und zur Schule auch, jedenfalls meistens oder manchmal.
„Komm Moni, zurück ist es doppelt so weit wie zu Tante Rosemarie.“ Meine Mutter lächelt ihr ‚Keine-Chance-Lächeln’ und zieht mich hoch.
Tante Rosemarie, Mamas Cousine, kommt gerade mit einem Korb Wäsche aus dem Garten, als wir vom Wind getrieben über den kleinen Deich stolpern. Ein Lächeln für meine Mutter, ein kurzer Blick auf mich, ein „Moin zusammen!“ und mit schnellen Schritten verschwindet sie ins Haus. Ich kann sie jetzt schon nicht leiden. Wir folgen ihr, ich passe gerade so durch die niedrige Tür. Staunend betrachte ich die niedrigen Decken und den Schaukelstuhl vor dem grünen Kachelofen. Ansonsten ist es eine ganz normale Küche.
„Kommt rein! Ist heute zwar nicht windig, aber für euch ...“
Wir werden in eine Stube mit blau-weiß gefliesten Wänden geschoben. Der Tisch vor dem Fenster ist mit einer weißen Tischdecke und Kerzen eingedeckt. Sieht richtig vornehm aus, wie an einem großen Geburtstag. Alles im Raum ist alt, alles schimmert im durch das Fenster brechenden Sonnenlicht und es ist total unheimlich. Hier leben garantiert Spinnen und diese ekligen Staubmilben und wer weiß, was noch. Und von WLAN ist nur zu träumen. Neben der Zimmertür, vom Tisch aus gut zu sehen, steht eine riesige Uhr. Sie ist so groß wie mein Papa, der jetzt mit geneigtem Kopf durch die Tür tritt. Eine große, goldfarbene Scheibe schwingt hin und her, meine Augen folgen ihr wie der Schlange Ka im Dschungelbuch. Ein dreifacher, tiefer Glockenton lässt mich zusammenzucken. Gerne würde ich die Uhrzeit mit meinem Handy abgleichen, aber das hat Papa in der Hand.
„Hier, Rose, zur sicheren Verwahrung.“ Ein warnender Blick in meine Richtung, als ich aufspringe.
„Abgemacht ist abgemacht!“, sagt Papa.
„Aber ...“
„Nein, mein Schatz. Drei Wochen ganz ohne, du hast es versprochen.“
Ich sacke wieder auf die Couch, die Tränen wollen kullern, aber nicht hier. Mittlerweile sitzen Rosemaries Schwiegervater Karl und ein großer, blonder Junge am Tisch. Das ist dann wohl mein Cousin Eugen. Die hingehaltene Hand habe ich übersehen, das Grinsen des blonden auch. Ich nicke nur, doch von der Tür kommt Mutters hartes ‚Monika’. Also murmle ich „Guten Tag“ und verstecke mich hinter meinen Haaren. Eugen sagt sehr langsam: „Man seggt Moin!“, und schaut beifallhaschend zu seinem Opa.
Tante Rosemarie lässt mein Handy in die Kitteltasche rutschen und zieht meine Mutter hinter sich her. „Ich hol die Torte, du kannst den Kaffee bringen.“
Ich höre noch die Worte Internet und Suchtverhalten. Jetzt reden sie also über mich, als sei ich krank. Denen werde ich es zeigen, die paar Wochen schaffe ich irgendwie. Hoffe ich. Mein Blick irrt durch den fremden Raum.
An der Wand hängt noch eine Uhr, wozu braucht man denn zwei? Das alte Holzgehäuse ist geschnitzt, wie ein Blick in den Wald – Äste, Zapfen, Eicheln, sogar ein Eichhörnchen kann ich entdecken. Das Ziffernblatt ist bunt bemalt und unten hängen zwei Ketten heraus. Das muss die Kuckucksuhr aus Muttis Kindheit sein, gespannt beobachte ich die kleine Klappe im Giebel. Um Viertel nach drei öffnet sich das Türchen, nichts geschieht. „Verarschung!“ Bevor ich Ärger bekommen kann, erscheinen Tante Rosemarie und meine Mutter in der Tür. Ich steure wie magnetisch angezogen auf die Torte zu, setze mich ohne weiteren Kommentar, die Augen nicht von dem zehn Zentimeter hohen Zuckerberg lassend, an den Tisch.
„Na, meine Friesentorte à la Rosi scheint dir zu gefallen, wenn du magst, backen wir mal eine gemeinsam.“ Tante Rosemarie legt mir ein Riesenstück auf den blauweiß gemusterten Teller, der aus so dünnem Porzellan ist, dass ich ihn bestimmt mit der Gabel zersteche. Warum gibt es hier keine Keramikteller von Ikea?
Nachdem meine Eltern sich verabschiedet haben, winkt Tante Rosi mich hinter sich her und wir steigen eine steile Treppe ins Dachgeschoss hinauf.
„Dort schlafen wir, dahinten ist Eugens Zimmer und hier kannst du dich einrichten.“ Sie öffnet eine niedrige Tür, schiebt mich ins Zimmer und ich stürze regelrecht auf das halbrunde Fenster zu, durch das ich endlich die Nordsee sehen kann.
„Ja, auf dieser Seite ist auch bei Ebbe immer Wasser, der Priel ist gleichzeitig Fahrrinne, ziemliche Strömung, das kann dir Eugen alles zeigen.“
Erst jetzt drehe ich mich langsam in den kleinen Raum. Das Bett steht an einer Wand, fast hinter zwei Türen verborgen. In der Ecke eine Kommode mit funkelnden Griffen und darauf eine altmodische Waschschale und ein Wasserkrug. Mit einem Zucken nehme ich darunter einen Emailletopf wahr. Ich bin mir sicher, das ist ein richtiges Töpfchen. Tante Rosi hat mein Erschauern gesehen und schüttelt den Kopf.
„Nee, der Pisspot ist Deko, dein Bad ist dort hinter der Tür.“
Ich traue mich nicht nachzuschauen, nicke vorsichtig.
„Richte dich ruhig ein, ich rufe zum Abendbrot.“ Sie schiebt mir meinen Koffer zu und schließt die Tür hinter sich.
„Ach!“ Rosis Kopf schaut noch einmal durch den Türspalt. „In der Ecke ist ne olle Seemannskiste, da kannst du ruhig beigehen, falls du magst.“
Ich packe meine Sachen in den Schrank, liebe es, wenn alles ordentlich übereinander liegt und überlege die ganze Zeit, was ich hier machen soll. Sechs Wochen ohne Internet, ohne Chats, ohne meine Welt – ich sterbe. Ich habe mir ganz fest vorgenommen nicht zu heulen, jetzt wische ich mir dennoch wütend die feuchten Spuren von den Wangen.
Meine Hände tasten wieder nach dem Handy. Nachdem der Psychofritze mir das in einem Video gezeigt hat, erwische ich mich oft selbst dabei. Ist ziemlich blöd, den eigenen Körper nicht richtig im Griff zu haben. Das mit dem Essen vergessen und nicht alles mitkriegen, finde ich nicht so schlimm, aber wer will schon ‚zwanghaft‘ sein?
Tief durchatmend bücke ich mich nach der Seemannskiste. Ich nehme jedenfalls an, dass die graue Holzkiste mit den Metallkanten gemeint ist, ein richtig cooles Teil. Unter einigen Kuscheltieren liegen ein Aquarellblock und ein Metallkasten mit Buntstiften. Nicht so ein kleiner, für Schulkinder. Ne, mein absoluter Traum-Wunsch-Haben-Müssen-Kasten, der 120er Polychromos, den ich mir vor Jahren gewünscht habe, als ich noch kein Handy hatte. Vorsichtig streiche ich mit der Hand über das zerkratzte Metall, klappe ihn argwöhnisch auf und staune. Die Stifte sind benutzt, aber sorgfältig angespitzt. Neugierig blättere ich durch den Block und sehe Schafe, Wellen und Segelschiffe. Ob ich auch so gut zeichnen kann? Lange ist es her. Ich lege die Zeichensachen achtsam auf den kleinen Flickenteppich vorm Bett und schaue nochmal in die Kiste. Auf dem Boden liegt ein dicker Rahmen aus Holz, doch anstelle eines Bildes enthält er eine Collage aus lauter Fundstücken, die nach Meer riechen. Verschiedene Muscheln, Glasscherben, Holzstücke, schwarzes Gestrüpp und Sand rieseln mir entgegen, als ich das Gebilde aus der Kiste fische. Der Rahmen zerfällt in meiner Hand in zwei Hälften und bestürzt schaue ich auf den kleinen Strand vor meinem Bett. Ob ich den Teppich darüber legen kann? An der Rahmenleiste ist ein Band befestigt, daran ein aus Papier gefaltetes Ding. Als ich vorsichtig meine Finger hineinstecke, öffnet es sich mal rot, mal blau. Witziges Teil, aber wozu?
Den Rucksack voller Bücher von Mama lasse ich gleich hinter der Tür stehen, lesen mag ich seit langem nicht mehr. Es dauert zu lange, in der Zwischenzeit passiert online so viel. Mein Blick fällt auf den Zeichenblock, ich setze mich an den kleinen Tisch und skizziere die Umrisse eines Handys. Wie von selbst entsteht mein derzeitiges Hintergrundbild, eine Eule mit dicken Brillengläsern. Meine Hand streicht über das Display, tippt automatisch auf die Touchscreenfelder. Neben der Handyskizze ist genügend Platz für kleine Quadrate in Sprechblasenform. Erst eine Nachricht an Maria, meine beste Freundin ‚Du fehlst! Saualtmodisch hier, nur Schafe, auch zweibeinige.‘ Als Status zeichne ich ein strohgedecktes Haus und viele Schafe unter Wasser. Ich fülle das Blatt mit Bildern von Spielen, meinem Lieblingschat, doofen Fragen von Kumpeln und noch dooferen Antworten. Den Ruf meiner Tante ignoriere ich, Familie interessiert mich nicht.
Als der Lichtkreis auf meinem Tisch immer schummriger wird, schaue ich in den dunkler werdenden Himmel und merke, wie müde ich bin. Ich nehme meine Waschtasche, öffne vorsichtig die kleine Tür, hinter der sich laut Tante Rosi mein Bad befinden soll. In Gedanken sehe ich ein Plumpsklo und fette Spinnen vor mir. Meine Hand tastet nach dem Lichtschalter und staunend schaue ich in den kleinen Raum. hellblau-weiße Kacheln, altes Holz, eine freistehende Badewanne vor einem riesigen Spiegel und, ich setze mich grinsend auf die Fliesen – eine Fußbodenheizung. Dieses Bad ist der absolute Luxus, toller als zu Hause. Oh, wie gerne würde ich Maria ein Bild schicken. Das Lächeln in meinem Gesicht begleitet mich bis in das seltsame Schrankbett. Ich kuschle mich in die schwere, flauschige Bettdecke und schlafe wohl schon, bevor ich über die Änderung meines Status nachdenken kann.
Am nächsten Morgen werde ich früh vom Knurren meines Magens geweckt. Ich ziehe mich an und schleiche die steile Treppe hinab. Ein ungewohnter Duft zieht durchs Haus und mich magisch an. Von der Küchentür aus beobachte ich, wie Onkel Karl, mit der linken Hand schwer auf den Stock gestützt, sich am Herd zu schaffen macht. Der alte Mann schwenkt eine Pfanne, in der es brutzelt. Neben ihm ein tiefer Teller mit einem hellen Mus. Das muss es sein, was hier so fruchtig duftet. Bevor ich richtig darüber nachgedacht habe, stehe ich neben Onkel Karl und frage: „Was wird das?“
Er guckt mich prüfend an. „Moin! Ausgelassener Speck.“
Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Irgendwo in meinem Kopf höre ich Mamas Stimme ‚Speck ist ungesund’ sagen.
„Wofür?“
„Himmel und Erde. Willst du?“
Ich nicke ohne ein Wort. Was auch immer es ist, es riecht unglaublich lecker.
Der alte Mann zeigt auf ein Regal an der Wand, in dem Teller und Schälchen stehen, einige mit blau-weißem Muster, einige mit Blümchen und ein Schälchen mit rosa Punkten.
Schweigend löffeln wir unser Frühstück, waschen gemeinsam das Geschirr ab. Mit einem Nicken verschwindet Onkel Karl.
Am zweiten Morgen steht auf dem Küchentisch die rosagepunktete Schale mit einer großen Portion Himmel und Erde und viel knusprigem Speck. Der alte Fischer ist noch schweigsamer als ich, spuckt oft braunen Priem in ein kleines Töpfchen, dass er fast ständig in seiner rechten Hand verborgen hält. Wir nicken uns kurz zu, seine Mundwinkel zucken und seine Augen blitzen, als er mich sieht. Tante Rosi erklärt mir, dass für mein neues Leibgericht Kartoffeln und Äpfel gemeinsam gekocht werden und der Speck die Würze und das Salz mitbringt. Eigentlich ist es ein Mittagessen, aber ich könne ein wenig mehr auf den Rippen vertragen.
„Ach, Moni, hab ich gestern vergessen!“ Tante Rosi dreht sich noch einmal zu mir um. „Mach die Zimmertür nachts ordentlich zu, der Hund ist auf dem Hof, aber die Katzen schleichen sich gerne mal ins Bett.“ Von da an lasse ich die Tür immer einen Spalt auf und nachts schnurren mich mindestens zwei Katzen in den Schlaf.
Alles ist ungewohnt. Ich soll viel draußen sein, daher nimmt Tante Rosi mich bei gutem Wetter mit in den Garten, ich helfe beim Aufräumen und Säen. Wenn es zu kalt dafür ist, gehen wir in den Gastraum des Restaurants und polieren Gläser, falten Servietten oder sehen Geschirr durch. Und mindesten einmal am Tag sagt sie zu Eugen: „Geht mal beide das Ufer ab, vielleicht findet sich was.“
Den ersten Tag bin ich einfach planlos hinterher gelaufen. Als Eugen anfing, im trockengefallenen Watt Muscheln, Holzstücke, aber auch Puppenarme, Anglerposen und Korken aufzusammeln, wurde ich neugierig. Jetzt ist es ein tägliches Ritual. Wir sammeln einträchtig miteinander alles in einen Stoffbeutel. Danach werden unsere Schätze im Garten auf dem ollen Blechtisch ausgebreitet, gewaschen und sortiert. Ich habe Eugen den kaputten Rahmen aus der Seemanskiste gezeigt. Am nächsten Tag hielt er mir stolz einen Rahmen mit Hintergrund hin, bestimmt einen Quadratmeter groß. Mit den Händen ist Eugen richtig gut, aber bei Wörtern und Zahlen braucht er viel Zeit. Wir kleben täglich die besten Funde als Collage hinein. Tante Rosi meint, es wird ein echtes Kunstwerk.
Eugen lässt mich selten aus den Augen. Manchmal liegt irgendwo ein Handy herum, doch bevor ich es erreiche, steckt er es in die Hosentasche. Als ich die offene Tür zu Tante Rosemaries Büro entdecke, kann ich nicht widerstehen. Der Computer zieht mich unwiderstehlich an. Aber er lässt sich nicht hochfahren und Eugen deutet mit einem Grinsen auf die fehlenden Kabel. Ich habe ihn um sein Handy gebeten, nur für ganz kurz. Er jedoch hat den Kopf geschüttelt und etwas von „Brauch nicht“ und „Sollst nicht“ gebrummelt. Ich glaube, er hat tatsächlich gar keines. Während ich mit Tante Rosi Radieschen aussäe, Salat in den Frühbeetkasten pflanze und immer wieder meinen Lieblingsplatz auf dem Dach der Gartenlaube besteige, vergeht die Zeit. Wenn es ganz schlimm ist, zeichne ich immer noch ein Handy und streiche über die Tasten, lasse imaginäre Chats entstehen und beantworte die ausgedachten Fragen meiner Freunde. Dann zerreiße ich die Blätter und werfe sie in den Wind.
An einem erstaunlich milden Tag ist Tante Rosi vorm Frühstück im Garten. Ich habe gleich beim Betreten der Küche ihr Handy im Regal über dem Spülbecken entdeckt. Es erfordert meine ganze Konzentration, nicht auffällig darauf zu starren. Zum Glück ist Onkel Karl an unser schweigsames Frühstück gewöhnt.
„Willst mit?“
Ich gucke ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Festland“, antwortet er.
„Länger?“ Das letzte Mal sind wir rüber gefahren, haben einmal an der Sparkasse angehalten und anschließend ging es zurück auf die Hallig.
„Ne.“
„Dann nicht.“
Onkel Karl nickt und steht auf. Ich lausche, schleiche zur Abwäsche und greife hastig nach dem Handy. Ein leichtes Zittern durchläuft mich, ich halte den Atem an und streiche über das Display – nicht gesperrt. Tief ausatmend setze ich mich an den Tisch und gehe online in mein Lieblingsforum. Schnell checke ich, wer online ist und meine Daumen hämmern auf die Tastatur ein.
Eine große Hand legt sich über das Display, zieht das Handy ohne Anstrengung aus meiner Reichweite und ich höre Eugen brummeln: „Sollst nicht!“
„Gib es wieder her, nur ganz kurz.“ Meine Stimme überschlägt sich vor Aufregung.
Eugen schüttelt den Kopf.
Ich versuche, es ihm abzuringen, greife in seinen Pullover, kneife in seinen Arm. Er dreht sich einfach weg. „Sollst nicht!“
Mir laufen die Tränen über die Wangen, ich bettle und schlage gleichzeitig mit Fäusten nach ihm. Erst da fällt mein Blick auf die Tür, in der Tante Rosi mit einem Wäschekorb steht und uns beobachtet. Eugen legt das Handy in den Korb und sagt nochmal: „Soll nicht.“
Ich rede drei Tage kein Wort mit ihm.
Heute Morgen hat Tante Rosi mir mein Handy hingehalten. „Möchtest du mit deiner Mutter telefonieren?“ Sind die drei Wochen tatsächlich vorbei? Unsicher greife ich nach meiner Nabelschnur zur Welt, streiche darüber, gebe meinen Code ein. Ich sehe meine Startseite, die vielen roten Zahlen zu Nachrichten und Anrufen. Meine Daumen schweben über dem Touchscreen.
Tante Rosi fasst mich leicht am Ellenbogen. „Du hast einen Anruf zu Hause und eine Nachricht frei, so ist die Absprache.“
„Aber …“
Sie hält ihre Hand auf und fragt: „Soll ich es wegstecken?“
Meine Hand versteckt das Handy ruckartig hinter dem Rücken, dennoch, ich bleibe stehen und schaue Tante Rosi in die Augen.
„Darf ich alleine telefonieren?“
„Wenn ich mich auf dich verlassen kann.“
Ich nicke, gehe in den Garten und klettere auf das Laubendach. Hier oben liegen harte Holzschindeln und es ist immer windig, aber ich liebe die Aussicht – endlos, nie gleich. Zwei Fähren begegnen sich in Höhe Langeneß, die Schafe sind noch auf der Südseite unserer Hallig und Eugen scheint etwas in der Werkstatt zu bauen. Andächtig drücke ich die Kurzwahltaste für das Handy meiner Mutter. Sie ist sofort dran, als hätte sie auf meinen Anruf gewartet. Nach einigen Sekunden gegenseitigem Schweigen, um der anderen den Vorrang zu lassen, plappern wir beide durcheinander. Es ist so schön, ihre Stimme zu hören, sie scheint stolz auf mich zu sein, will alles wissen, was wir so machen. Nur das Wort Internet umschiffen wir beide, aber das fällt mir erst später auf. Sie werden mich in drei Wochen, wie versprochen, abholen. Diesmal ohne Wanderung. Und ich darf einmal die Woche anrufen, obwohl ich mir sicher bin, dass wir schon heute alle Silben verbraucht haben.
Ich öffne WhatsApp, ignoriere alle Nachrichten außer Marias. Schnell überfliege ich die Texte der letzten Wochen. Wie es aussieht, hat sie jeden Tag ein paar Zeilen hinterlassen. Anscheinend habe ich außer Unmengen von Hausaufgaben nicht viel verpasst. Ich tippe ihr eine kurze Nachricht, mache ein Foto mit Halligküste, Nordsee und Sonnenschein und weiß nicht, was ich noch schreiben soll. Es fühlt sich seltsam an, als wäre ich auf einem ganz anderen Planeten, den man nicht beschreiben kann. Ihr geht es wohl nicht anders, denn außer dem Hinweis, dass ich es toll hätte, so lange ohne Schule, fällt ihr nichts Neues ein. Dafür werde ich die Klasse wahrscheinlich wiederholen müssen, meine Noten reichten auch vor der Zwangspause nicht für die Versetzung. Ich habe bereits ein neues Foto gemacht und will gerade meinen Status ändern, als mein Blick auf Tante Rosi in der Gartentür fällt. Ich beiße die Zähne zusammen, klettere vom Dach und gehe Richtung Haus. Im Vorbeigehen lege ich das Handy in den Klammerkorb, den sie unter dem Arm trägt. Nein, ich werde nicht weinen.
Jeden Montag liegt jetzt das Handy neben meinem Frühstücksschälchen. Über Fische räuchern, Netz flicken, Fliegenfänger wechseln und Schafe zeichnen, merke ich gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht.
Heute backen Tante Rosi und ich endlich die Baisertorte. Als erstes muss ich einen Biskuitteig anrühren, streng nach Rezept. Dann soll ich die Baisermasse zubereiten, während meine Tante Pflaumenmus aus der Vorratskammer holt. Beim ersten Versuch scheint irgendetwas nicht zu klappen, die Masse wird nicht steif. Skeptisch stochere ich in der Schale herum, versuche es mit einer anderen Geschwindigkeit des Mixers. Tante Rosi blickt in die Rührschüssel, runzelt die Stirn und schaut auf die Zutaten.
„Wann hast du den Zucker reingetan?“, fragt sie.
Ich antworte: „Gleich nach dem Eiweiß.“
„Erst das Eiweiß steif schlagen, danach den Zucker einrieseln, sonst waat dat nichts.“
„Dann löst sich der Zucker nicht auf.“
„Doch, musst du länger rühren.“
Also das Ganze nochmal. Dafür wird der Eischnee jetzt richtig fest und glänzt seidig. Ich tauche meine Finger hinein und lecke sie genussvoll ab.
Wir backen zwei Böden, erst kommt die Hälfte des Biskuits in die Form, darauf die Hälfte der Baisermasse. Ich darf die Backformen in den heißen Ofen schieben, dann bleibt nur der Blick durch die Glastür. Tante Rosi schiebt mir die Teigreste zu.
„Die müssen jetzt erst mal abkühlen. Da könnt ihr euren Rundgang machen, die Collage hat bestimmt noch ein paar Löcher, oder?“
Eugen hat schon dreimal nach mir gerufen, ich gehe ihn suchen. Zu zwei Dritteln ist der Rahmen gefüllt, ein Puppenkopf als Mittelpunkt, drei Arme winken aus den Muschelflächen, Tang und ganz viele abgeschliffene Glasscherben haben wir gefunden. Am liebsten mag ich das vom Wasser geformte, rundgeschliffen Holz. Manchmal hat es dicke Löcher und ich will mir die Würmer dazu nicht vorstellen, aber es riecht nach Salz und ganz tiefem Luftholen. Heute finden wir bloß einen dicken, abgeschliffenen Flaschenboden in Knallblau, der passt perfekt in eine obere Ecke. Ich schaue sehnsüchtig übers Watt, genieße die Weite.
Onkel Karl hält mir ein Tablet hin. Ich bin so verwirrt, das ich ihn mit offenem Mund anschaue.
„Kannst du damit?“, fragt er mich.
Ich nicke.
„Zeigst du mir, wie?“
Wir sitzen nun seit einer Stunde im Windschatten der Küchenterrasse und Onkel Karl und Eugen schauen mich mit leicht glasigen Augen an. Irgendwie scheinen sie nicht mehr zuzuhören, dabei habe ich erst die Hälfte aller Chats, Fotogalerien, Spiele und Apps gezeigt, die mir so spontan eingefallen sind. Ich schließe meinen trockenen Mund und schaue fragend zu Onkel Karl. Der schüttelt sich und legt das Tablet mit einem angewiderten Blick hin.
„Das will ich nich!“
„Was willst du dann?“ frage ich.
Er holt tief Luft, überlegt und kaut anscheinend auf der Antwort noch einmal herum.
„Ich will lesen und schauen, was mein Freund Paul in Norwegen macht. Er sagt, das geht.“
„Hat er ein Smartphone?“
„Sowas“, sagt Onkel Karl und zeigt auf das Tablet.
Also richte ich ihm WhatsApp ein, installiere eine Nachrichtenapp und die Seite von Nordfriesland. Eugen hat uns neugierig zugeschaut und fragt, was er davon hat. Ich zeige ihm den Fotoapparat und wie man die Bilder verschickt.
„Kannst du auch noch Dinge mit mir sammeln, wenn du weg bist?“
Ich nicke nur, denn mein Hals ist wie zugeschnürt. Eilig gehe ich in die Küche zu Tante Rosi. Sie schaut mir kurz ins Gesicht, schiebt mir das Pflaumenmus zu und nickt zu dem ersten Tortenboden hin. Erst streiche ich eine dicke Schicht Pflaumenmus auf den unteren Boden, dann steifgeschlagene Sahne und als Deckel setzen wir den zweiten Biskuit-Baiser obendrauf. Ein gut zehn Zentimeter hoher Zuckerschock, der mir tröstlich das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt.
Tante Rosmarie ruft zu Kaffee und Kuchen und die Männer zeigen ihr stolz das Neugelernte. Ich rufe Instagram und hunderte von tollen Tortenbildern für meine Tante auf.
Es fällt mir gar nicht schwer, das Tablet aus der Hand zu legen, denn jetzt müssen wir uns warm anziehen, heute ist Nachtangeln weit draußen angesetzt. Es ist toll auf dem Meer, so ruhig und doch so ungestüm. Ich höre nur Wind und Wellen, spüre die Kraft, die alles bedrängt, an dem Kutter saugt und zerrt. Der Kapitän überlässt Eugen und mir das Steuerrad, Peilung ist der Leuchtturm von Pellworm. Nicht so einfach, aber gemeinsam schaffen wir es. Hier draußen ist es so eindeutig, was wichtig ist. Ich komme gar nicht dazu, mein Handy zu vermissen, habe alle Hände voll mit Angelködern, Fischschuppen und Gischt aus dem Gesicht wischen.
Auf ein Mal sind die sechs Wochen um. Obwohl der Wind an meinen Haaren zerrt, empfinde ich ihn eher als laue Brise. Tausende Spiegelungen lassen die Nordsee blenden und meine Augen in den blauen Himmel flüchten. Tante Rosie steckt mir mein Handy in die Rucksacktasche und nimmt mich nach kurzem Zögern in den Arm. „Schickst du mir eine Nachricht, wenn ihr zu Hause seid?“
Ich nehme mein Handy in die Hand, meine Finger huschen über das Display. Mit einem Blick in die Runde verharre ich und stecke das Handy dann wieder ein.
„Wenn noch etwas von meiner einen Stunde Internet übrig ist.“ Ich grinse sie an, schiebe die Katze, die um meine Beine streicht, vorsichtig beiseite.
Onkel Karl hält mir das rosagepunktete Schälchen hin.
„Passt auch Müsli rein.“ Er dreht sich um und brummelt im Weggehen: „Du schaffst das!“
Eugen bringt mich zum Auto, in dem meine Eltern warten. Ich muss mir die Rückbank mit dem riesigen Rahmen unserer Collage teilen, im Fußraum liegt bereits ein Häufchen Sand und eine dicke Muschel.
„Vielleicht passt das ja noch irgendwo mit rauf“, ruft Eugen und wirft mir das gefaltete Papierding aus der Seemannskiste in den Schoss.