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Hitzewelle
"Hallo, ich bin wieder zu Hause!", rufe ich, während ich meine Schlüssel an das Schlüsselbrett hänge. Keine Reaktion. Natürlich hat er wieder seine Kopfhörer auf den Ohren. In der Küche packe ich die Einkäufe aus und räume sie ein.
Gerade dann kommt Tim aus seinem Arbeitszimmer und fragt: "Hast du eingekauft?"
"Ja", sage ich und schaue ihn verständnislos an, als er fragt: "Was denn?"
"Wie meinst du?"
"Na, du hast doch eingekauft, oder? Was hast du denn eingekauft?"
Ich fange an zu lachen.
"Weißt du, was ich verstanden hatte? Dass du mich gefragt hast, ob ich einen Kaffee mag!" Wir lachen nun beide und Tim schaltet die Kaffeemaschine ein.
"Wie war Gymnastik?", fragt er.
"Heftig! Wir hatten heute Pilates und meine Hörgeräte wurden so nass vom Schweiß, dass ich sie abnehmen musste. Ich konnte nur beobachten und nachmachen, was Tina und die anderen machten."
"Ja, der Schweiß läuft mir auch über den Rücken", gibt Tim zu.
"Aber wer geht schon bei dieser Hitze zur Gymnastik", neckt er mich.
"Ich", erwidere ich provozierend und nehme meine Tasse Kaffee.
"Dann bist du auch selber schuld", ruft Tim, als er zurück in sein Arbeitszimmer geht.
Wir haben Hochsommer im Juni. Bereits seit einer Woche herrscht eine Hitzewelle. Ein Ende ist nicht in Sicht.
"Wenn das so weitergeht, werden meine Hörgeräte streiken und ich kann wieder zum Akustiker gehen", denke ich, während ich meinen Computer einschalte. Das Gerät fängt an zu brummen. Noch mehr Hitze, aber ja, ich muss meine E-Mails beantworten, mein neuer Blogbeitrag wartet und der Abgabetermin für die Kolumne ist übermorgen. Ich trinke erst einmal meinen Kaffee und schaue mir die Wettervorhersage an. Die ganze Woche über 30 Grad. In den Nachrichten wird ausführlich über schwere Waldbrände auf der ganzen Welt berichtet.
"Ich habe schon mal den Koalas in Australien einen Baum gespendet, reicht das nicht?", denke ich. Weil mir bei dieser Art von Nachrichten noch wärmer wird, öffne ich meine Mailbox.
Endlich eine Antwort von dem Verlag, an den ich vor einem Monat mein Manuskript geschickt habe. Nasse Finger gleiten von meiner Tastatur. Mit klopfendem Herzen öffne ich die Mail und lese.
"Sehr geehrte Frau H., vielen Dank für die Zusendung Ihres Manuskriptes. Wir haben dies mit Interesse gelesen, müssen Ihnen aber leider mitteilen, dass Ihr Manuskript nicht in das Konzept unseres Verlages passt. Wir bedanken uns dennoch für Ihr Interesse an unserem Verlag und wünschen Ihnen viel Erfolg beim weiteren Schreiben und Veröffentlichung. Mit freundlichen Grüßen." Kalte Dusche.
Ich gehe in die Küche und mache noch eine Tasse Kaffee für mich und Tim.
"Was ist?", fragt Tim, als er mein bedrücktes Gesicht sieht, wenn ich ihm seinen Kaffee bringe.
"Ach, der Verlag hat geantwortet. Sie wollen mein Manuskript nicht."
"Was hättest du denn sonst erwartet?" Tim winkt mit seiner Hand ab.
"Dass sie sagen, dieses Manuskript ist toll und wir heißen Sie ganz herzlich willkommen", sage ich sarkastisch.
"Na, dann kannst du ja lange warten", murmelt Tim leise.
"Was hast du gesagt? Ich habe dich nicht verstanden", frage ich, obwohl ich seine Worte kaum erraten muss.
"Nichts, vergiss es."
Tim wendet sich seinem Bildschirm zu, auf dem ein paar Statistiken und Grafiken zu sehen sind.
"Du magst also auch nicht, was ich schreibe, obwohl du nichts davon gelesen hast?", schnauze ich ihn an.
"Das habe ich nicht gesagt, das sind deine Worte!"
Die Falte über Tims Augen vertieft sich und seine Augen werden dunkel.
"Ich sehe es dir doch an!" Meine Stimme wird lauter und schriller.
"Was du nicht alles siehst und hörst", spottet Tim.
"Willst du mich wenigstens anschauen, wenn du mit mir redest? Du weißt, dass ich dich sonst nicht verstehen kann." Jetzt schaut er mich an.
"Glaubst du, ich würde nicht gerne nur noch Animationsfilme machen, anstatt immer auf diese ewigen Zahlen und Grafiken zu schauen? Aber das kann ich mir nicht leisten, denn irgendjemand muss hier ja das Geld verdienen!"
"Oh, und ich bin also schuld daran, dass du nicht tun kannst, was du willst?"
Meine Stimme überschlägt sich fast.
"Da haben wir es wieder ... wie ich schon sagte: deine Worte!"
Tim wendet sich mit versteinerter Miene wieder seinem blinkenden Bildschirm zu, schnappt sich seine Kopfhörer und setzt sie auf.
Ohne ein Wort zu sagen, stapfe ich aus seinem Arbeitszimmer und knalle die Tür hinter mir zu.
Erhitzt schalte ich meine Hörgeräte aus. Meine äußere Welt wird still, in meiner inneren Welt quietscht, brummt und säuselt es. Stress ist ein Verstärker für Tinnitus, habe ich irgendwo mal gelesen. Aber ist nicht ausgerechnet das Leben die Stressquelle pur? Dann sollte streng genommen das Leben den Tinnitus verstärken. Wie auch immer, für einem Moment hasse ich das Leben.
Meditieren ist nicht so mein Ding und heute ist es viel zu heiß, um draußen zu laufen oder im Haus zu putzen. Ich schaue mich um und suche nach Abkühlung. Mein Blick fällt auf ein Buch, das verloren auf dem Wohnzimmertisch liegt.
"DU hast es geschafft", schießt es mir durch den Kopf, als ich den Namen des Autors lese. Ich blättere durch das Buch, beginne Passagen zu lesen und werde in den Bann gezogen. Ich setze mich mit Buch auf der Couch und spüre, wie ich langsam aus dieser Welt verschwinde.