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Holt mich endlich!

Seniors
Beitritt
08.01.2002
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Holt mich endlich!

Je älter sie wurde, desto mehr verhüllte sich ihr Alltag mit grauen Schleiern.
Nachts im Bett verabschiedete sie sich in das Schwarz und hoffte, nie wieder aufzuwachen. Einfach einschlafen und aus. Manchen ihrer Mitbewohner im Seniorenheim erwies das Schicksal diese Gnade. Vielleicht eines Tages auch zu den Begünstigten zu zählen, gab ihr Trost. Doch jeden Morgen wachte sie ernüchtert wieder auf. Und jeden Abend spürte sie deutlicher den Verfall ihres alten Körpers. Sie fühlte sich wie ein vermodernder Baumstumpf schutzlos der Witterung ausgesetzt. Als mit der Zeit die Zwiesprache zwischen ihr und der Hoffnung die Zwiesprache verstummte, fiel wie ein Rabe mit hackendem Schnabel Bitternis über sie her. Fortan konnte sie nur noch mühsam einschlafen.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte sie, was für ein dämlicher Spruch, und Wut brannte in ihr. Aber die hinterließ nur Kraftlosigkeit.
Selbst die Wucht ihrer Empörung verließ sie wie ein Trauergast, der sich vom Grab abwendet, nachdem er drei Schäufelchen Sand auf den Sarg geworfen hat.
So habe ich mir meine letzten Tage nicht vorgestellt, so ohne Würde. Hoffnung ist Würde. Auch Empörung ist Würde. Aber ich verfalle jeden Tag zusehends mehr und fühle mich unendlich matt.
Mein Körper ist so erstarrt als läge ich schon in Leichentüchern. Warum muss sich dann mein Geist so ruhelos hin und her bewegen? Hätte ich es vorher geahnt, ich hätte dieses bittere Leben früher beendet, dachte sie trotzig.
Ihr war als müsse sie jemanden für ihren Zustand anklagen. Ein vernichtendes Gefühl von Ungerechtigkeit drückte gegen ihre Brust. Warum liege ich noch hier, bettlägerig und ausgeliefert? Ihr Zeigefinger zuckte und in Gedanken drohte sie erbost gegen den Himmel gerichtet. „Holt mich endlich, habt ihr da oben denn kein Erbarmen?“
Sie japste nach Luft und musste röchelnd husten. Tausend Nadelstiche brannten in ihrem Brustkorb. Aber sonst geschah nichts.

„Ich bin vergessen worden", Herr Pfarrer. "Alle haben sie schon geholt, meinen Mann, alle Verwandten und meine Freunde. Nach und nach, alle gegangen. Was soll ich noch hier?“ Ratlos blickte sie den Pfarrer an, der von Zeit zu Zeit im Seniorenheim Besuche machte.
„Was hab ich bloß falsch gemacht. Hab ich den richtigen Zeitpunkt verpasst?“

"Na, na, das klingt ja so als wollten Sie sterben", tadelte er. "Versündigen Sie sich nicht an Gott! Seien Sie froh, dass Ihnen noch all diese Lebenstage geschenkt sind."
"Aber was tue ich denn Böses? Gegen welches der 10 Gebote verstoße ich, wenn ich mir wünsche, endlich tot zu sein?"
Der Pfarrer schüttelte verständnislos den Kopf. Aufbegehrende Alte waren lästig, dachte er unwirsch, und erst recht, wenn sie störrisch wurden.
„Der Herr Gott wird Sie zu sich nehmen, wenn Ihre Zeit gekommen ist. Freuen Sie sich über jeden neuen Tag.“ Bemüht lächelte er sie an, aber je länger sie ihn aus ihren wässrigblassen Augen betrachtete, desto mehr verzerrten sich seine Gesichtszüge.

Zu welchem Zeitpunkt hätte ich es wohl getan, grübelte sie nachts. Damals, als ihr Mann Thomas starb? Als ihr so elend war, dass sie ihm am liebsten gefolgt wäre? Nein, das Leben danach ging ja weiter. Es war anders ohne ihn, stiller, aber es ging.
Ihre Erinnerungen flogen durch die Zeit, einzelne Bilder boten sich feil. Sie fühlte sich fiebrig. Wie ein Goldgräber, der mit starrem Blick seine Sandpfanne schwenkt, gierte sie nach einem blinkenden Hinweis. Ungeduldig kratzten ihre Fingernägel über das Bettlaken. Weiter, weiter, was gab es noch in meinem Leben an Stationen?, drängelte sie sich. Nichts schien zu passen und sie fühlte sich von ihren Erinnerungen belästigt wie von einem Rosenverkäufer, der hartnäckig seine Ware anbietet. „Weg, weg, was soll ich damit?“, brummelte sie.
Sie gab erschöpft auf. Zwecklos in der Vergangenheit nach Versäumten zu suchen, und ihre Rastlosigkeit wich für ein paar Minuten. Aber die Ruhe war trügerisch.

Früher hatte sie immer vollmundig verkündet, dass die einzige Freiheit des Menschen seine Freiheit wäre, sich das Leben zu nehmen. Aber schon damals hatte sie geahnt, dass dazu ein beweglicher Körper erforderlich ist. Einer, der losgehen kann, um sich von der Brücke zu stürzen, einer, der wenigstens den Fahrstuhl hinauf in die letzte Hochhausetage schafft.
Ihre Hand ballte sich zu einer knochigen ungelenken Faust und ihr Herz schlug schneller, während sie Anklage erhob. Die da oben haben mich vergessen. Ich muss es allein hinbekommen.
Wie immer im Leben, muss ich mich um alles selbst kümmern.
Hätte sie sich doch nur beizeiten eine ausreichende Dosis Gift besorgt, die hätte sie jetzt geschluckt. Wie einfach es wäre. Eine Pille einwerfen, sie mit ein paar Schlucken Wasser unwiderruflich in den Körper versenken und sterben. Ihre Gedanken ruhten wohlig in dieser Vorstellung und sie fühlte sich wie früher, wenn sie in ihren Tagträumen im Lotto gewann und minutenlang schwelgend überlegte, was sie mit all dem Geld tun würde.

„Könnten Sie mir nicht… etwas verschreiben, Frau Doktor?" schob sie zwischen ihr Ein- und Ausatmen, während die Ärztin ihre Lunge abhorchte.
"Auch, wenn draußen die Sonne scheint und ich hier gut versorgt werde. Das ist es nicht. Ich mag nicht mehr, Frau Doktor."
„Ihre Lungenfunktion gefällt mir gar nicht, ich fürchte Ihre Atembeschwerden könnten von einer verschleppten Bronchitis stammen. Ich verschreibe Ihnen ein Antibiotikum, das Sie bitte zehn Tage lang einnehmen und dann sehen wir weiter, ob es geholfen hat.“

Ob wohl Irina mit dem russischen Akzent ihr ein paar Packungen Schlaftabletten besorgen würde? Sie war mit Abstand eine der hilfsbereitesten Altenpflegerinnen. Aber was würde mit Irina danach passieren, wenn es herauskäme? Schwerseufzend verwarf sie die Idee.
Ich könnte mir für die Nächte Schlaftabletten geben lassen und sie dann heimlich beiseite legen. Der Gedanke gefiel ihr und triumphierend als hätte sie ein schweres Rätsel gelöst, wartete sie bis zum Abend, um die Tabletten einzufordern.
„Ich bringe Ihnen gleich ein Schlafmittel“, sagte die Nachtschwester, „wir haben seit neuestem gut wirkende Tropfen, die werden sehr gut vertragen.“

Ihr war als befände sie sich auf einem sinkenden Schiff, das sich anschickte mit dem Bug voran in das eiskalte Nass zu tauchen. Und sie durchlebte die grausige Einsamkeit eines letzten Passagiers, die Augen auf das in der Ferne davon treibende Rettungsboot gerichtet.

Im Traume begegnete sie Thomas. „Was machst du dir bloß so viele Gedanken?“ tadelte er mit sanfter Stimme. „Mein Problemchen. Dabei hast du es doch so gut.“
„Nein, schau doch genau hin!“, entrüstete sie sich, „ich bin ans Bett gefesselt und mit dem Fluch der Gebrechlichkeit belegt.“
Er schmunzelte kopfschüttelnd. „Du bist immer noch die Weltmeisterin im Übertreiben. Hast du denn in den letzten Jahren vergessen, wie schön das Leben ist?“
Sie fühlte sich wie ein Schulmädchen gerüffelt und begehrte auf. „Ich habe stets versucht aus allem den positiven Kern herauszuschälen, aber jetzt ist wahrhaftig nichts mehr zu finden.“ Wieder lachte er und schloss sie herzlich in seine Arme. „Mein Dummerchen, du bist so reich. Jeder deiner Tage könnte königlich sein.“
„So?“, erwiderte sie aufgebracht, „was für Schätze soll ich denn deiner Meinung nach besitzen?“
„All deine Erinnerungen.“ sagte er lächelnd.

Am Morgen verlangte sie von Irina, dass diese ihr all ihre Fotoalben ans Bett bringen solle.
Bedächtig betrachtete sie Foto um Foto und ab und zu huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.

 

Hallo und Salü lakita,

bevor Du den Kopf wieder frei hast und (wieder) ans überarbeiten gehst, will ich mich auch noch einmischen.

Dies vorweg: Das Thema beschäftigt mich ungemein! Deine Sprache gefällt mir und der Text berührt mich sehr.

Ich möchte nun nicht alle Kommentare lesen. Ich denke, Du hast viel daran gearbeitet. Da gehe ich also ganz von meinem heutigen Eindruck aus:

Ich bringe Ihnen gleich ein Schlafmittel“, sagte die Nachtschwester, „wir haben seit neuestem gut wirkende Tropfen, die werden sehr gut vertragen.“

Ihr war als befände sie sich auf einem sinkenden Schiff, das sich anschickte mit dem Bug voran in das eiskalte Nass zu tauchen. Und sie durchlebte die grausige Einsamkeit eines letzten Passagiers, die Augen auf das in der Ferne davon treibende Rettungsboot gerichtet.
Bittere Tränen begleiteten sie in den Schlaf.


Diese Stelle hat mir auch die Tränen in die Augen getrieben. Sie ist ungeheuer dicht und schmerzvoll.

Was vielleicht für Dich noch von Interesse sein könnte:

Ich bin vergessen worden. Alle haben sie schon geholt, meinen Mann, alle Verwandten und meine Freunde.

Ab hier (zweiter Absatz) hat es mich gepackt. Davor war mir irgendwie der Text zu lastig - ich suche nach Worten - oder zu gequält, zu sehr im Kreis herum, zu sehr Aufzählung? Obwohl Du die Gedanken und die Situation der Frau durchaus gut und treffend beschreibst - es zieht mich nicht in den Bann.

Wäre toll, wenn Du Zeit fändest und weiter daran arbeiten könntest. Es ist ein so wichtiges Thema!

Herzliche Grüsse,
Gisanne

 

Lakita,
deine geschichte ist echt wunderschön :-) Vor allem der Anfang hat mich zum dahinschmelzen gebracht. Dein Stil ist toll und deine Wortwahl auch.
Gruß
Prinzessin

 

Hallo Gisanne, hallo Prinzessin,

euch beiden herzlichen Dank für eure Kommentare zu meiner Geschichte.

Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich so spät antworte. Erst wollte ich euch damit danken, indem ich die völlige Überarbeitung der Geschichte ankündige, dann hatte ich dafür doch noch keine Zeit. Kommt aber noch.

Ganz besonders, dir Gisanne, danke ich dafür, dass du so deutlich darauf hinweist, dass dich bis zu einem bestimmten Punkt die Geschichte nicht fesseln konnte. Gerade bezüglich dieses Teiles haben ja schon einige andere auch kritische Anmerkungen gemacht und gerade dort werde ich versuchen, etwas mehr Lebendigkeit hinein zu bekommen. Dein Hinweis fällt auf fruchtbaren Boden.

Liebe Grüße

lakita

 

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