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Hypochondrie
Krebs. Er konnte fühlen, wie er in ihm wuchs.
Tischtennisballgroße Tumore hinter den Augäpfeln. Zerdrückte Nervenbahnen. Dunkelheit. Schwarze Geschwüre in ihm, an den Nieren, vielleicht in der Bauchspeicheldrüse. Mundhöhlenkrebs. Raue Flächen, wie Krepppapier im eigenen Mund. Eine abfaulende Zunge, als gehöre sie einem Fremden. Die Finger tote Stummel. Ohne Blut, nur nekrotisch.
Krebs. Er konnte fühlen, wie er in ihm wuchs.
All diese Natur um ihn herum, einfach widernatürlich. Was hatte er sich nur gedacht? Gut, sicher, die Alternative wäre auch nicht gerade krebsfrei gewesen. Wäre drauf angekommen, wo er gelandet wäre. Ärsche wischen natürlich eklig, aber immer noch besser als das hier.
In einem versifften Graben liegen mit kaltem Sack und nasser Hose und in die Dunkelheit starren. Wahrscheinlich lag er im Urin von Generationen an Wehrpflichtigen vor ihm.
Zu kalt, um aufzustehen. Posten verlassen durfte man sowieso nicht. Also in den Graben pissen.
Sowieso total witzlos das Ganze hier. In einer mondlosen Nacht, irgendwo an einem Waldrand zu hocken und auf eine Wiese zu starren, also eigentlich ins Nichts, denn die Wiese ist ja dunkel, also nichts, also Krebs - also Krebs.
Seine Atemzüge in der Dunkelheit. Leises Kärchen wie von einem Besen. Passiv-Rauchen. Feinstaub. Sickert in Lunge und setzt sich fest, verstopft sie langsam, schimmelt. Dann durch die Atmung: Wirbelnde Sporen, scharfrandig wie Kristalle, reißen Ritzen auf in dünnen Bahnen. Krebs.
Dumpfes Pochen im Hinterkopf, schon wieder. Der flehende Blick in die Dunkelheit, doch nichts, nur Krebs und grüne Körperfunktionen.
Nasenkrebs vielleicht, durch irgendwelche Pollen oder Chemikalien. Stümpfe im Gesicht, klaffende Wunden, Amputationen.
Krebszerfressene Organe. Ein Körper wie ein Schweizer Käse, doch keine Löcher darin, zwar schwarz, aber keine Löcher, sondern Substanz - sondern Krebs.
Tonnenweise Krebs. Fühlbarer, anfassbarer, imaginärer Krebs. Einfach widerlich.
Reduziert auf den eigenen Körper, ohne Sinneswahrnehmungen. Was blieb da groß? Krebs. Das war schon immer so. Wenn er etwas zu tun hatte, achtete er nicht darauf, aber in der Dunkelheit: Kopfschmerzen, im Stirnlappen von Hirntumoren. Oder dumpfes Stechen im Rückgrat von Knochenmetastasen. Von Blutkrebs wusste er zu wenig, aber bestimmt ebenfalls widerlich. Aber am schlimmsten die Augen. Das Pochen dahinter, wenn die Tumore die Augäpfel nach außen drückten. Diese pulsierenden Tumore. Alles rein mechanisch. Krebs breitet sich aus, wächst, gedeiht, braucht mehr Platz, drückt Nervenbahnen und Organe zur Seite. Sprengt Zähne weg, wenn er ins Zahnfleisch wächst, quetscht Lungen ein, drückt Blutbahnen ab.
Das Wunder der Schöpfung - alles rein fleischlich.