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Hypochondrie

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10.10.2006
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Hypochondrie

Krebs. Er konnte fühlen, wie er in ihm wuchs.
Tischtennisballgroße Tumore hinter den Augäpfeln. Zerdrückte Nervenbahnen. Dunkelheit. Schwarze Geschwüre in ihm, an den Nieren, vielleicht in der Bauchspeicheldrüse. Mundhöhlenkrebs. Raue Flächen, wie Krepppapier im eigenen Mund. Eine abfaulende Zunge, als gehöre sie einem Fremden. Die Finger tote Stummel. Ohne Blut, nur nekrotisch.
Krebs. Er konnte fühlen, wie er in ihm wuchs.
All diese Natur um ihn herum, einfach widernatürlich. Was hatte er sich nur gedacht? Gut, sicher, die Alternative wäre auch nicht gerade krebsfrei gewesen. Wäre drauf angekommen, wo er gelandet wäre. Ärsche wischen natürlich eklig, aber immer noch besser als das hier.
In einem versifften Graben liegen mit kaltem Sack und nasser Hose und in die Dunkelheit starren. Wahrscheinlich lag er im Urin von Generationen an Wehrpflichtigen vor ihm.
Zu kalt, um aufzustehen. Posten verlassen durfte man sowieso nicht. Also in den Graben pissen.
Sowieso total witzlos das Ganze hier. In einer mondlosen Nacht, irgendwo an einem Waldrand zu hocken und auf eine Wiese zu starren, also eigentlich ins Nichts, denn die Wiese ist ja dunkel, also nichts, also Krebs - also Krebs.
Seine Atemzüge in der Dunkelheit. Leises Kärchen wie von einem Besen. Passiv-Rauchen. Feinstaub. Sickert in Lunge und setzt sich fest, verstopft sie langsam, schimmelt. Dann durch die Atmung: Wirbelnde Sporen, scharfrandig wie Kristalle, reißen Ritzen auf in dünnen Bahnen. Krebs.
Dumpfes Pochen im Hinterkopf, schon wieder. Der flehende Blick in die Dunkelheit, doch nichts, nur Krebs und grüne Körperfunktionen.
Nasenkrebs vielleicht, durch irgendwelche Pollen oder Chemikalien. Stümpfe im Gesicht, klaffende Wunden, Amputationen.
Krebszerfressene Organe. Ein Körper wie ein Schweizer Käse, doch keine Löcher darin, zwar schwarz, aber keine Löcher, sondern Substanz - sondern Krebs.
Tonnenweise Krebs. Fühlbarer, anfassbarer, imaginärer Krebs. Einfach widerlich.
Reduziert auf den eigenen Körper, ohne Sinneswahrnehmungen. Was blieb da groß? Krebs. Das war schon immer so. Wenn er etwas zu tun hatte, achtete er nicht darauf, aber in der Dunkelheit: Kopfschmerzen, im Stirnlappen von Hirntumoren. Oder dumpfes Stechen im Rückgrat von Knochenmetastasen. Von Blutkrebs wusste er zu wenig, aber bestimmt ebenfalls widerlich. Aber am schlimmsten die Augen. Das Pochen dahinter, wenn die Tumore die Augäpfel nach außen drückten. Diese pulsierenden Tumore. Alles rein mechanisch. Krebs breitet sich aus, wächst, gedeiht, braucht mehr Platz, drückt Nervenbahnen und Organe zur Seite. Sprengt Zähne weg, wenn er ins Zahnfleisch wächst, quetscht Lungen ein, drückt Blutbahnen ab.
Das Wunder der Schöpfung - alles rein fleischlich.

 

Wahrscheinlich lag er im Urin von Generationen an Wehrpflichtigen vor ihm.
Yeah :thumbsup:

Ich finde diese Geschichte, welche eine Beschreibung jenen Zustandes der Hypochondrie ist, einfach genial treffend. Ich hab selbst Erfahrungen mit Panic und hab hypochondrische Ansätze (oh, ja... ) und ich denke, besser könnte man diesen Teuefelskreis der Gedanken nicht umschreiben; den Verlust des rationalen Beurteilungsvermögens hast Du dargestellt und das ziemlich gut, genau, wie die Verlorenheit der "denkenden" Person. Great.

Shree

 

Hallo Quinn,

wow, auf diesem Geschichtchen wurde ja viel rumgehackt.

Also bei mir hat dein Text vollauf funktioniert. In meiner Wahrnehmung hast du die introvertierten panischen Gedankenspiralen deines Prots derart heftig gewunden, dass ich gar nicht anders konnte, als atemlos deren Lauf zu folgen. Die Gedanken erscheinen selbst wie der gefürchtete Krebs, fressen sich in den Charakter hinein und ziehen ihn selbst in die Löcher, um darin nur noch mehr Schauderliches zu finden... Eine großartige Sezierung des Titels.
Unweigerlich kommt die Assoziation zur self-fulfilling-prophecy auf. So plastisch wie sich der Dienstleistende seinen Wahn vorstellt, ist er wohl nur noch eine Windung von der Realisierung dessen entfernt. Wenn überhaupt.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo ihr beiden,

freut mich, dass bei euch die Geschichte so ankam wie ich sie mir damals überlegt habe. Wobei die Kritik von damals schon noch stimmt, denke ich. Hypochondrie ist halt ein "nebulöses Thema" und der Text ist dann auch relativ gegenstandslos ... na jo, aber schön, dass er euch gefallen hat.

Danke euch für die Rückmeldung
Quinn

 

Hey Pfuhler,
jau, die Geschichte macht einige arge Gedankensprüge, ist halt so gedacht, dass er frei "kreist", aber immer wieder zu diesem Thema zurückkommt und dahin gezogen wird. Ist alles ziemlich assoziativ und so, aber na jo, wenn du's cool findest, ist es ja auch okay. :)

Danke dir für deinen Kommentar
Quinn

 

Hey Quinn

Kurz und schmerzlos:
Das ist wie diese "Die Hölle ist in mir"-Geschichte. Du hast eine super Idee, du erreichst den Leser auch mit deinen Bildern, aber du machst nichts daraus, weil du es nicht willst (behauptest du jedenfalls :D)

Mir hat der Ansatz gefallen - der Stil ist passend (wobei ich das Auslassen der Verben schon als sehr gewagt empfinde) der Horror hat mich empfangen, aber ... ich will mehr. :)

JoBlack

 

Hey Jo,
ja, klar. So ein Thema könnte man richtig groß anlegen und abhandeln, die Nummer hier wie auch die mit der Hölle, die ja ewig viel später kam, sind dann eher so Bilder-Geschichten, Bild, Bild, Bild, Schluß. Hier sind es die aneinandergereihten Ängste, in der anderen Geschichten die Leiden der Verdammten.

Das stimmt schon, na ja ... "mehr" ... mal gucken. :) Die langen Dinge, die ich in Horror poste, sind ja sowieso nie richtiger Horror, sondern Popcorn-Kram dann. :)
Danke dir für deine Kritik
Quinn

 

Hallo Quinn,
das gute vorne weg:
Mir hat dein Schreibstil sehr gut gefallen, auch konnte ich mich gut in den Protagonisten hineinversetzen. Auch die Idee an sich find ich gut.

Nicht so gut finde ich:

Tischtennisballgroße Tumore hinter den Augäpfeln. Zerdrückte Nervenbahnen. Dunkelheit. Schwarze Geschwüre in ihm, an den Nieren, vielleicht in der Bauchspeicheldrüse. Mundhöhlenkrebs. Raue Flächen, wie Krepppapier im eigenen Mund. Eine abfaulende Zunge, als gehöre sie einem Fremden. Die Finger tote Stummel. Ohne Blut, nur nekrotisch.

das "tischtennisballgroße" finde ich zu übertrieben, bei der Größe würde er wahrscheinlich sehr starke Sehbehinderungen haben, wenn er das überhaupt aushält, ohne drauf zu gehen und das müsste selbst ein Hypochindrier wissen, beziehungsweise gerade der, weil er informiert sich ja über das was er "hat". Auch finde ich den Rest des Abschnittes nicht so toll, mir hätte es besser gefallen, wenn du nicht gleich am Anfang durchblicken lässt, dass er eindeutig geisteskrank ist, nur einen Krebs beschreiben und nach und nach mehr dazu kommen lassen. Nicht gleich alle auf einmal.

also eigentlich ins Nichts, denn Wiese ja dunkel, also nichts, also Krebs - also Krebs.
Komisch das ist ein Satz, der mir auf der einen Seite sehr gut gefällt auf der Anderen aber nicht. Gut finde ich die Überleitung zu Krebs, weniger gelungen: "denn Wiese ja dunkel", das hört sich irgendwie dämlich an und passt nicht zu deinem sonst sehr schönen Schreibstil. "Denn die Wiese ist ja dunkel" wäre jetzt mein Vorschlag, ist zwar nicht genial hört sich aber meiner Meinung nach besser an als das was jetzt da steht.

Gruß Eldrad

 

Hallo Eldrad,
schön, dass dir die Geschichte zusagt.

Mit dem einen Absatz ... ja, da kommt alles geballt. Es soll dagestellt werden, dass der Erzähler wirklich in so einer Schleife gefangen ist und alle Gedanken auf einmal kommen, natürlich auch übertrieben. Dieses Chaos in seinen Gedanken, weltenläufer hat das schön mit diesem Schrauben beschrieben.

Dass mit der "denn Wiese ja dunkel" - okay, mit dem ganzen zeitlichen Abstand nun, leuchtet mir das auch ein und ich werde es so machen wie du es vorschlägst.

Danke dir für deinen Kommentar
Quinn

 

Hallo Thamus,

freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat. Ob ich jetzt eine Phobie "richtig" beschrieben hab, kann ich nicht sagen. So eine Schleife in den Gedanken, wenn sich alles nur noch um ein Thema dreht und man einfach nicht mehr davon loskommt, kennen ja auch Nicht-Neurotiker.

Danke dir für deinen Kommentar
Quinn

 

Hallo stiffchainey,

ja, eine Prämisse fehlt wirklich ein wenig, wurde damals ja auch schon von einigen bemängelt, die darin eine experimentelle Horror-Story sahen. Die Geschichte ist auch relativ untypisch für mich, schade, dass sie dich nicht überzeugen konnte.

Danke dir für deine Rückmeldung
Quinn

 

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