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Ich bin bereit
this is getting old and so are you
everything you know and never knew
will run through your fingers just like sand
(faith no more - last cup of sorrow)
"Ich bin einfach bereit."
"Wie kann man dazu bereit sein?"
"Weißt du, mein Junge, ich bin es einfach. Egal, was hinterher auf mich zukommen mag, ich weiß, dass es in Ordnung ist."
"Sie werden also einfach die Augen schließen und gar nichts tun?"
"Ich werde einfach die Augen schließen und gar nichts tun."
"Aber das können Sie doch nicht machen."
"Wer sagt das?"
"Es... ist einfach nicht richtig."
"Warum nicht? Ich habe erlebt, was es zu erleben gibt. Meine Tage sind um, mehr brauche ich nicht." Der alte Mann lächelte und drehte seinen Kopf in eine andere Richtung.
Die Situation war verzwickt. Nicht gänzlich aussichtslos natürlich, aber durchaus verzwickt. Der alte Mann müsste nicht sterben. Vermutlich wäre es eine Sache von nicht mal drei Minuten, ihm das Leben zu retten. Aber ohne seinen Willen würde das nicht gehen. Ich kannte ihn nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen - aber ich fühlte mich verantwortlich. Niemand sonst war hier.
Am nächsten Tag traf ich ihn wieder.
"Denken Sie doch an all die schönen Dinge, die Sie noch sehen werden."
"Ich habe alles gesehen, was ich sehen musste."
"Alles?"
"Aber ja. Es gibt für mich in dieser Welt nichts mehr zu entdecken. Ich bin bereit für die nächste."
"Sie wollen also aufgeben und an diesem Ort sterben?"
"Irgendwann sterben wir alle. Und dieser Ort ist so gut, wie jeder andere." Wieder lächelte der alte Mann und drehte seinen Kopf in eine andere Richtung.
Wenn man mich gefragt hätte, hätte mich nichts in der Welt dazu treiben können, hier freiwillig zu sterben. Überall sonst, nur nicht hier. Vielleicht hätte ich ihn einfach in Ruhe lassen sollen. Vielleicht hätte ich einfach fortgehen sollen. Vielleicht wäre das besser gewesen.
Am nächsten Tag war er wieder da.
"Willst du mich immer noch retten?"
"Ich habe eine Liste erstellt."
"Was für eine Liste?"
"Ich habe Dinge notiert, die man in seinem Leben gemacht haben sollte. So werden Sie merken, dass Sie noch nicht sterben sollten."
"Na gut, dann erzähl mir, was ich deiner Meinung nach in meinem Leben noch tun muss."
"Okay… also, man sollte einen Baum pflanzen."
"Ich habe ein paar Jahre als Förster gearbeitet."
"Ein Kind zeugen."
"Drei Söhne, eine Tochter. Sieben Enkel."
"Man sollte einmal im Leben mit dem Fahrrad durch ein fremdes Land fahren."
"Zwei Jahre Italien."
"Den Papst treffen."
"Zwei Jahre Italien. Da bin ich viel herumgekommen."
"Eine… nein, besser zwei Fremdsprachen lernen."
"Ich spreche Italienisch."
"Dachte ich mir. Und die andere Sprache? Finnisch vielleicht?"
"The henkäisy ykkönen kissaeläin tuoksua jäljessä kiinanpystykorva." *
Meine Liste ging über insgesamt vier Seiten. Ich habe eine kleine Handschrift und es waren eine Menge Punkte. Er hatte alles gemacht. Er hatte mit Nashörnern gerungen, den Mount Everest ohne Scherpas bestiegen, ja sogar die doppelläufige Hatschina konnte er spielen. Ich fing an, ihm zu glauben. Dieser Mann hatte wirklich alles erlebt, was man nur erleben konnte. Vielleicht war er wirklich bereit.
Am nächsten Tag traf ich ihn wieder.
"Wie alt bist du, mein Junge?"
"Dreiundzwanzig."
"Du hast dir eine Menge Gedanken über das Leben gemacht. Nur, um mich zu retten."
"Ich fühlte mich verantwortlich."
"Trotzdem ändert das nichts an meiner Entscheidung. Dies wird mein letzter Tag sein und ich bin bereit. Aber ich möchte dir zum Abschluss noch eine Frage stellen. Wie viele Punkte deiner Liste hast du schon erlebt?" Mit diesen Worten drehte der Mann lächelnd seinen Kopf in die andere Richtung. Ein letztes Mal.
…
Der Wind streicht mir sanft durch das Haar. Ich schließe die Augen und genieße den Augenblick der Stille. Es ist seltsam, wenn man an diesem Punkt angekommen ist, erscheint einem die Welt vollkommen anders. Es ist, als würde sich ein Schleier lösen, die Unschärfe verschwindet und alles wird erstaunlich klar.
Ich bin weit gegangen, aber nun bin ich hier. Seit ich damals den alten Mann getroffen habe, ist viel geschehen. Ich war in Norwegen und habe einen Elch gejagt. Nummer einhundertdreizehn auf meiner Liste. Einmal mit der Harley durch die endlosen Landschaften der USA. Nummer einundneunzig. Ich habe in nur einer Nacht mit drei Frauen geschlafen. Das stand nicht auf der Liste, war aber eine sehr interessante Erfahrung. Limbo zu lernen war erstaunlicherweise viel einfacher, als die Sache mit dem Makramee. Kompliziert war auch Punkt zweiundvierzig. Aber selbst das habe ich letztlich geschafft.
Und jetzt stehe ich hier. Auf diesem Geländer. Lasse mich treiben von den letzten Strömungen meines Ich. Spüre den langsamen Atem des Universums in meiner Seele. Ein vollkommener Moment, in dem mir bewusst wird, dass nichts auf dieser Welt mich daran hindern kann, das zu tun, was ich im Begriff bin zu tun. Ich sehe die Dunkelheit, die sich unter mir erstreckt, obwohl ich die Augen geschlossen halte.
Meine Zettel haben viel durchgemacht in den letzten Jahren. Eselsohren und Flecken undefinierbarer Herkunft sind die Zeugen meines Lebens. Sie waren meine Begleiter durch meine ganz persönliche Odyssee. Und jetzt werden sie mich auch in meinem letzten Kapitel begleiten. Ich ziehe meinen Stift aus der Tasche und mache einen Haken hinter den letzten Punkt.
Wissen, dass man sein Leben gelebt hat
Ich bin bereit.
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* der Atem dieser Katze riecht nach Katzenfutter
(vollkommen frei und ohne jegliche Kenntnis finnischer Grammatik einfach Wort für Wort übersetzt)