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Ich bin gestorben
Da stehe ich. Nackt.
Wenige Schritte vor mir sitzt er. Aufrecht und mit gesenktem Blick. Seine verschränkten Beine sind geöffnet wie ein Lotus, umhüllt von einem endlosen Gewand.
Unsere Existenz beginnt genau jetzt, zur gleichen Zeit und abhängig von einander.
Ich gehe zu ihm. Komme seiner stillen, handlungslosen Aufforderung nach und lege mich in diesen Schoß.
Mein ganzes Leben habe ich auf ihn gewartet.
Er ist der Kelch, ich bin der Wein und mit einem Mal begreife ich.
Eine Träne rinnt zaghaft, aber unaufhaltsam aus mir heraus.
Mit Staunen sehe ich, wie sein weiches Gewand sie aufnimmt. Dazu ist es da.
Und er? Er fragt nicht und ich kenne keine Antwort.
Es ist so selbstverständlich.
Ich darf weinen.
So steigt Träne um Träne in mir auf und verlässt meine Seele. Kein See, kein Meer, kein Ozean ist groß genug, die Flut zu beschreiben, und dennoch ist sein Kleid nur an einer winzigen Stelle benetzt.
Und er? Er tröstet nicht, denn ich bedarf nicht des Trostes.
Es ist so köstlich.
Ich kann weinen.
Lautlos weine ich ein ganzes Äon. So kurz ist Traurigkeit.
Dann zittere und erbebe ich und ein Schluchzen bricht sich Bahn.
Ich bin ein Vulkan und spucke glühenden Schmerz. Wieder und wieder und immer wieder.
Angst kocht in mir hoch, brodelt, schäumt und zerbirst zu gewaltigen Geisyren. Kein menschliches Ohr hält meinem Wehklagen stand.
Erst, wenn mein letzter Schrei im Universum verhallt, ist das Innere des Innersten erreicht: Ich würge Schuld.
Die Lava sind meine teerschwarzen Tränen, die zeitlos zäh auf den Stoff tropfen, im Gewebe versiegen, und es zum Leuchten bringen.
Und er? Er ist mein einziger Vater und ich bin seine einzige Tochter, sein einziges Kind.
Er hält mich, in dem Maße, wie ich mich nach ihm sehne, und ich vertraue ihm, in dem Maße, wie er sich nach mir sehnt. Unsere Sehnsucht ist grenzenlos.
Es ist mein Paradies.
Ich werde weinen.