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Ich, der Schattenjäger
Ich, der Schattenjäger
Alles begann damit, das ich eine neue Brille brauchte.
Kurz bevor der morgendliche Berufsverkehr startete, hatte ich mich auf den Weg zum Optiker gemacht. Kurz nach acht Uhr stand ich an der Ampel und hörte das Hupen der Autos. Passanten fluchten, weil sie die Straße nicht überqueren konnten. Verständnislos schaute ich mich um und schüttelte den Kopf. In meinem Leben würde ich nie verstehen können, warum es so verdammt schwer war, die wenigen Schritte bis zur Ampel zu bewältigen und einen sicheren Übergang zu wählen.
Erst gestern hatte es ein Kind erwischt. Es sah leicht aus, wie der junge Mann vor ihm die Straße zwischen den Autos umschlängelte und die andere Straßenseite erreichte. Das Kind hatte nur vergessen, dass die Autos dabei stehen sollten. Nun erholte es sich im Krankenhaus.
Als ich mir diesen Unfall vorstellte, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Als ich mit meiner rechten Hand die Ladentür öffnete, vernahm ich einen Summton, der an eine alte Schulglocke erinnerte. Am Eingang von Viva Optik blieb ich kurz stehen und hatte das Gefühl, als würde ich in eine andere Welt eintauchen, sobald ich den nächsten Schritt machte. Dezentes Licht strömte von der weißen Decke und hüllte den Laden in ein unheimliches Flair. Der Laden wurde exakt ausgeleuchtet und nicht einmal flüchtige Schatten eine Chance hatten, trotzdem glaubte ich, dass mich unzählige Augen beobachteten.
Eine Dame, stand an der Theke und sortierte unzählige Belege. Sie bemerkte mich nicht, zumindest hatte sie bisher keine Anstalten gemacht, ihre Arbeit zu unterbrechen. Irgendwo im hinteren Teil unterhielt sich ein Verkäufer mit einer Kundin. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich vernahm ein Flüstern. Der Kundin gefiel ihre neue Brille nicht. Hinter der Dame an der Theke befand sich ein kleinerer Raum, vor dem ein groß gewachsener Mann stand und sich mit einer Kollegin unterhielt. Niemand von den anwesenden Personen beobachtete mich, aber mein Gefühl, beobachtet zu werden, verstärkte sich noch mehr.
Plötzlich beendete der Verkäufer das Gespräch mit seiner Kollegin und drehte sich zu mir herum. Ich zuckte zusammen, so sehr fürchtete ich mich vor seiner Ausstrahlung. Es waren nicht nur seine Augen, die einen Glanz ausstrahlten, den ich noch bei keiner anderen Person wahrgenommen hatte. Es war auch nicht seine Brille, bei der man nicht das Gesicht, sondern die Brille betrachtete. Sondern sein gesamtes Auftreten. Es wirkte so völlig anders, als das Auftreten, dass ich von einem Verkäufer erwartete. Die Person, auf dessen Namensschild Nöggler stand, wirkte vollkommen aufrichtig und gleichzeitig so, als wäre er mir meilenweit überlegen.
Aus der Kammer heraus beobachtete uns die Frau, die sich bis gerade noch mit ihrem Kollegen unterhalten hatte. Eine wunderschöne Dame, die sich in meinem Alter befand. Mein Herz schlug bei ihrem Anblick schneller. Sie trug schulterlanges schwarzes Haar, das auf den Schultern endete und ihr helleres Gesicht bot den richtigen Kontrast zum Haar. Sie hatte eine dezente Brille auf und lächelte in meine Richtung. Sie war dezent geschminkt und trug eine weiße Bluse, bei der die obersten drei Knöpfe offen standen. Der Spalt, den die offenen Knöpfe frei gaben, ließen einen knappen Blick auf ihren Busen zu.
„Guten Tag“, grüßte mich der Verkäufer mit einer weichen, fast fürsorglichen Stimme, die ich einem so jungen Menschen kaum zugetraut hätte.
„Guten Morgen“, erwiderte ich.
Es fiel mir schwer, meinen Blick von der jungen Frau zu nehmen. Als ich es aber schaffte und den Verkäufer anschaute, fügte ich hinzu: „Ich möchte meine neue Brille abholen.“
Das Lächeln des Mannes wirkte nun vollkommen mysteriös.
„Wie ist denn der Name?“, fragte er mit einer Stimme, die mir sagte, dass er wusste, wer ich war. Ich wusste nicht, woher er mich kannte, denn bei meinem ersten Besuch hatte ich ihn nicht gesehen.
„Eichmeyer“, stellte ich mich vor.
„Einen Moment, bitte“, erklärte der Mann, auf dessen Namensschild „Nöggler“ stand. Er drehte sich herum und ging zur Kasse. Gemütlich zog er die Schublade auf und suchte nach meiner Brille.
Während er suchte, näherte ich mich der Theke. Was ich bisher nicht gesehen hatte, war die Kundin, die in einer Ecke stand und ihre neue Brille anprobierte. Sie stand vor einem weiteren Spiegel, der vom Eingang aus nicht zu sehen gewesen war.
Als ich sie sah, sprach sie mit ihrer Gestik. Aus ihr konnte ich erkennen, dass sie ihre neue Brille nicht mochte. Das Spiegelbild betrachtend drehte sich mal in die eine und dann in die andere Richtung. Schließlich nahm sie die Brille ab und drehte sie in ihren Händen so, wie sie sich kurz zuvor selbst gedreht hatte. Aber ihre Zweifel wurden durch die Betrachtung nicht weniger.
„Gefällt sie Ihnen nicht“, fragte der Verkäufer.
Ich fragte mich, wie man in einem solchen Alter eine so pompöse Brille kaufen konnte. Sie passte absolut nicht zu der Dame.
„Hier ist sie ja“, hörte ich Herrn Nöggler sagen. Er nahm eine Tüte aus der mittleren Schublade. Ohne mich aus den Augen zu lassen kam er um die Theke herum.
„Ist das die Brille, die ich bei Ihnen bestellt habe?“, fragte die Dame nach.
„Ja“, bestätigte der Verkäufer: „Wir hatten uns damals sehr viel Zeit genommen.“
„Wenn sie die Brille einmal aufsetzen würden“, wies mich Herr Nöggler an.
Er öffnete die Bügel und hielt mir die Brille hin.
„Ich weiß, dass wir uns damals Zeit genommen hatten“, hörte ich die Dame nörgeln. „Wenn Sie mich am Ende nicht gedrängt hätten, hätte ich mich bestimmt nicht für dieses Gestell entschieden.“
Ich nahm die Brille entgegen, die mir Herr Nöggler hinhielt und kam nicht umhin, mir den armen Verkäufer anzuschauen, der sich um die Frau kümmerte. Er hätte sie am liebsten verflucht und in ein anderes Geschäft gejagt, aber er sagte: „Wenn ich Sie daran erinnern darf, dann waren Sie es, die sich diese Brille ausgesucht hatte.“
„Drückt die Brille? Auf der Nase oder an den Schläfen?“, fragte Herr Nöggler aufmerksam, nachdem ich die Brille aufgesetzt hatte.
Die Dame schüttelte zum ersten Mal den Kopf. Sie verdrehte fast angewidert die Augen und ich sah ihr an, wie sehr sie sich gegen diese Brille sträubte.
„Nein“, erwiderte ich und nahm die Brille wieder ab.
„Das kann ich kaum glauben“, erklärte die ältere Frau.
„Wenn Sie die Brille noch einmal aufsetzen würden, dann könnte ich einen letzten Blick darüber werfen“, bat mich Herr Nöggler.
„Möchten Sie sich eine andere Brille aussuchen“, hörte ich den Verkäufer verzweifelt sagen.
Ich setzte sie auf und Herr Nöggler trat neben mich. Mit geübten Griffen prüfte er den Sitz der Brille.
„Ein schönes Modell“, versicherte er.
„Nein“, sagte sie schnippisch: „ich möchte ja nicht noch mehr Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen.“
„Hmmm“, machte ich und glaubte nicht, was ich in diesem Augenblick sah.
Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder. Trotzdem waren die Schatten der einzelnen Personen nicht verschwunden.
„Sie stehlen meine Zeit in keinster Weise“, vernahm ich die Stimme des Verkäufers.
„Alles in Ordnung?“, fragte mich Herr Nöggler.
Seine Stimme klang besorgt. Beinahe so, als hätte seine Freundin einen schweren Unfall und er müsse sie auf andere Gedanken bringen. Ich schüttelte den Kopf und sah erneut zu der Frau hin. Sie stand immer noch am Spiegel und meckerte über ihre Brille.
Es war aber nicht die Frau, die mich interessierte. Es war ihr Schatten.
Ich setzte die Brille ab und ihr Schatten verschwand.
„Herr Eichmeyer, ist mit Ihnen alles in Ordnung?“
Ich stand auf, ging einige Schritte im Geschäft auf und ab und schüttelte verständnislos den Kopf. Vor mir im Regal befand sich noch einmal das Gleiche Modell. Ich verglich beide Ausführungen, fand aber keine Untrerschiede.
„Ja“, erklärte ich nach kurzer Zeit etwas verwirrt: „Ja, natürlich.“
Ich setzte mich wieder hin. Das durfte alles nicht wahr sein. Durch die Brillengläser hindurch konnte ich die Schatten nur dann sehen, wenn ich die Brille aufgesetzt, oder zumindest Kontakt mit meinem Kopf hergestellt hatte. Andernfalls verschwanden die Schatten, als hätte es sie nie gegeben.
Trotzdem setzte ich die Brille wieder auf und sah mich um. Bei den meisten Schatten handelte es sich um ganz normale Spiegelungen der Körper. Sie waren unscheinbar, besaßen nichts, was man merkwürdig finden musste. Jedoch fehlte bei Herrn Nöggler der Schatten komplett.
Ich zuckte zusammen, als ich mir den Schatten dieser Meckerziege erneut anschaute. Bei ihr sah es so aus, als ob Arme und Beine abgefressen wurden. Außerdem wirkten die Farben verwaschen, so als hätte man diesen Schatten zum bestimmt hundertsten Mal gewaschen. Außerdem gesellte sich ein Schatten zu dem Kopf dieser Dame. Er riss sein Maul auf und nahm den Kopf zwischen seine scharfen Zähne.
„Na gut“, ließ sich die Dame endlich überreden: „Wenn Sie wirklich der Meinung sind, dass mir diese Brille steht, dann werde ich sie nehmen.“
In diesem Moment ging die Ladentür auf und ein neuer Kunde trat ein. Instinktiv schaute ich auf seinen makellosen Schatten.
Die Dame stand bereits an der Kasse und zahlte, als das Ungeheuer den Kopf auffraß.
„Herr Eichmeyer“, ertönte die Stimme des Verkäufers an mein Ohr: „Herr Eichmeyer.“
„Nein, nein, die Brille ist super. Sie drückt nicht, sie passt und ich habe keinerlei Einwände. Kann ich zahlen?“
Mir drehte sich der Magen, so sehr ekelte ich mich davor, dass diese Dame keinen Schatten mehr hatte. Sie ging aus dem Geschäft heraus und stolperte. Mit dem Kinn schlug sie auf der Tischkante auf und fiel hin. Sie rührte sich nicht mehr und es stellte sich heraus, dass sie sich sofort das Genick gebrochen hatte.
Die Hände von Herrn Nöggler berührten meine. Ich zuckte zusammen, als hätte er mir einen Stromstoß verabreicht. Verwirrt sah ich ihn an und sein Lächeln war ein anderes geworden.
„Die Schatten, richtig?“, fragte er vorsichtig. „Nicht erschrecken. Die Zeit der Dame war abgelaufen.“
Ich starrte ihn an. Unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen.
„Es geht nicht um die Schatten. Es ist viel wichtiger“, begann Herr Nöggler mit einer Erklärung.
„Sie wissen Bescheid?“, fragte ich und war bemüht, nicht zu schreien.
„Nicht so laut“, erklärte Herr Nöggler. „Ja, ich weiß Bescheid. Aschantas.“
In diesem Moment horchte die Dame auf, die in der kleinen Kammer immer noch an den Gläsern feilte.
„Aschantas?“, fragte ich neugierig. Dieses Wort hatte ich noch nie gehört.
Erst nach dieser Frage nahm ich von der Frau und ihrem Lächeln Abschied und widmete die Aufmerksamkeit meinem Gespräch.
„Ja“, Herr Nöggler nickte unmerklich: „Aschantas.“
„Verdammt, wer oder was sind Aschantas?“
„Aschantas sind Heimbringer“, erklärte er mir mit weichem Tonfall.
Ich saß perplex vor Herrn Nöggler. Langsam ließ ich mich gegen die Lehne sinken und spürte, wie die Farbe aus meinem Gesicht verschwand.
„Heimbringer?“, entfuhr es mir nach einer Weile.
„Ja“, erklärte Herr Nöggler: „ich weiß, dass es schwer zu verstehen ist, aber wir brauchen Ihre Hilfe.“
„Langsam“, verteidigte ich mich: „ich kenne Sie doch überhaupt nicht.“
„Aber wir kennen Sie. Wir haben Sie lange genug beobachtet. Wir haben uns über Sie schlau gemacht und wir wissen, dass Sie uns helfen können. Wir brauchen Sie.“
„Verdammt, wer ist wir?“, fragte ich ahnungslos.
Herr Nöggler sah mich an.
„Es spielt keine Rolle, wer wir sind“, wiegelte er dann ab.
Ich spürte, wie der Zorn langsam in mir hoch stieg. Nicht mehr lange und ich platzte, wie ein zu stark aufgeblasener Luftballon.
„Wir entstammen einer Zivilisation, die zweihundertundfünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt gelebt hat. Wenn Sie so möchten, dann entstammen wir dem Planeten, den ihr Atlantis nennt.“
Langsam schloss ich meine Augen und versuchte meine innere Wut zu beruhigen. Was hat sich dieser Typ dabei gedacht, mir solch eine Geschichte aufzutischen?
„Eigentlich dürften wir nicht hier sein, weil es zu gefährlich ist. Nicht wegen der Aschantas, sondern wegen ...“
Er sprach das Wort, auf das ich wartete nicht aus. Zuerst schaute er auf den Boden, dann ließ er seinen gesamten Oberkörper hängen. Als er die Augen schloss, faltete er seine Hände, als würde er jeden Moment mit einem Gebet beginnen und tippte nervös die Zeigefinger gegeneinander.
Ich wartete und es war still.
„Wegen?“, fragte ich, nachdem einige Minuten vergangen waren.
„Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es erschüttert Ihren Glauben, weil es unglaubwürdig ist.“
„Dann versuchen Sie es mit einfachen Worten.“, schlug ich vor.
„Mit Gott“, erklärte Herr Nöggler.
Schlimmer hätte eine schallende Ohrfeige am Anstoßpunkt eines voll besetzten Stadions auch nicht sein können.
„Wenn Sie glauben, dass ich auch nur ein Wort von ihrem Geschwafel glaube, dann haben sie sich geschnitten.“
Ich stand auf, lehnte meine Arme auf den Tisch und starrte Herrn Nöggler von oben herab an.
„Und das mit dem Planeten, der zweihundertundfünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt existiert, soll ich ihnen auch glauben, oder?“
„Existiert hat“, berichtigte Herr Nöggler, als sei es die Wahrheit.
„Es reicht! Ich möchte zahlen“, schrie ich ihn bestimmend an.
Er versuchte mich nicht zu überzeugen und wir kamen zum Abschluss. Als ich die Ladentür erreicht hatte, fiel mir auf, dass ich die Brille immer noch auf meiner Nase hatte.
Ich schaute mich auf der Straße um. Während ich mich umschaute spazierte ein junger Mann an mir vorbei. Er war fünfundzwanzig, vielleicht etwas älter aber auf keinen Fall dreißig. Er hatte kurze braune Haare und ein längliches Gesicht. Durch Ohrstecker dröhnte lautstark Musik in seine Ohren. Zielstrebig bewegte er sich im Rhythmus der Musik vorwärts.
All das hätte mich kaum interessiert. Viel wichtiger war, dass sich wieder dieser Drachenkopf neben seinen Schatten gesellt hatte. Bis auf den Kopf hatte es seinen Körper schon gefressen. Nun hatte es sein Maul aufgerissen und den Kopf des Mannes zwischen seine rasiermesserscharfen Zähne platziert.
Ich sah, wie sich das Maul langsam schloss und der Mann in voller Gesundheit in Richtung Hauptstraße spazierte.
Er war nicht mehr weit von der Hauptstraße entfernt, als das Ungeheuer das Maul geschlossen und den Kopf verspeist hatte.
Der Mann ging weiter, schaute weder nach links noch nach rechts und betrat die Straße. Die Reifen eines LKW´s quietschten. Der Mann drehte sich zur Seite, sah den Lastwagen auf sich zurasen und wollte mit einem eleganten Sprung zur Seite der Gefahr entgehen. Noch bevor er sprang, wurde er vom Lastwagen erfasste. Augenblicklich spritzte Blut in der Gegend umher. Der LKW geriet ins Schlingern und verlor den Mann, der sich einige Sekunden an den Scheibenwischern festgehalten hatte. Mit der hinteren Zwillingsbereifung überfuhr er ihn. Für einen Moment glaubte ich, die Knochen splittern zu hören. Der Lastwagenfahrer verlor die Kontrolle über sein Fahrzeug und geriet in den Gegenverkehr. Sowohl entgegenkommende Autos als auch hinter dem Lastwagen fahrende Autos quietschten und versuchten das Unausweichliche doch noch zu verhindern. Fußgänger sprangen auf Seite, einige fielen hin, andere traten auf sie und einige andere wurden mit in den Unfall hinein gezogen. Die unverletzten Menschen schrien am lautesten und mit einem Mal war eine Panik ausgebrochen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Mütter zogen ihre Kinder vom Unfallort fort, hielten ihnen die Augen zu, was bewirkte, dass die Kinder ihrerseits in Panik verfielen. Andere Passanten wendeten sich mit ekel verzerrtem Gesicht ab und eine Massenhysterie war unvermeidlich.
Mir wurde schlecht, weil ich wusste, dass dieser Unfall vermeidbar gewesen war. Aschantas sind Heimbringer hatte Herr Nöggler gesagt und seine Stimme hatte dabei besorgt geklungen. Ich hätte nur auf ihn hören müssen. Hätte ich mich erkundigt, was er und sein Volk von mir verlangten, hätte ich einschreiten können, bevor der Unfall geschehen war. So aber fühlte ich mich schuldig, nichts unternommen zu haben. Ich wagte es nicht, meinen Blick auch nur einen Moment vom Unfallort zu nehmen.
„Herr Nöggler“, drang ein Gedanke wie ein elektrischer Stromstoß in meinen Kopf. Ich musste zurück und mit Herrn Nöggler sprechen. Es ging nicht mehr darum, anderen das Leben zu retten. Es ging darum, dass mein Schatten irgendwann aufgefressen wurde.
Nachdem ich wieder in der Lage war, einigermaßen klar zu denken drehte ich mich herum. Bis zum Optiker war es nicht weit. Dort musste ich hin.
Die Ladenglocke schrillte, als ich die Tür öffnete. Ein Verkäufer, mein Nachbar, kam auf mich zu und begrüßte mich.
„Sie möchten bestimmt ihre neue Brille abholen“, begann er das Gespräch.
Ich schaute ihn etwas perplex an. Die Worte, dass ich meine Brille vor wenigen Minuten bezahlt hatte, schluckte ich hinunter.
„Ich suche einen Herrn Nöggler“, nannte ich den Namen des Verkäufers, der mich bedient hatte.
„Herr Nöggler?“, fragte Herr Bart ungläubig: „Ich glaube, bei uns arbeitet niemand mit diesem Namen.“
„Er hat ...“, begann ich, brach aber ab.
Ich sah Herrn Bart verwundert an.
„Ich meine, ich habe gerade erst mit der Arbeit angefangen, aber einen Herrn Nöggler? ... Nein, der Name würde mir etwas sagen.“
„Sind Sie sich sicher?“, fragte ich vorsichtshalber.
„Amanda?“
Die Verkäuferin an der Kasse unterbrach ihre Arbeit und schaute zu uns herüber.
„Kennst du einen Herrn Nöggler?“
„Nie gehört“, kam die Antwort, nachdem sie in ihrem Gedächtnis den Namen kreisen gelassen hatte. Aber auch der andere Verkäufer konnten mit diesem Namen nichts anfangen.
Ich wollte noch auf die Dame zu sprechen kommen, die vorhin die Gläser geschliffen hatte, aber auch sie war verschwunden.
In Gedanken versunken verließ ich das Geschäft. Langsam, beinahe schwerfällig bewegte ich mich auf den Unfallort zu und wusste nicht, was ich machen sollte.
„Können wir beginnen?“, fragte mich eine Stimme, die unverwechselbar Herrn Nöggler gehörte. Meine Beine wurden weich, mein Herz beschleunigte sich, als ob ich einen einhundert Meter Lauf absolviert hätte. Schweiß erschien auf meiner Stirn.
Es war mehr als Angst, als ich mich herum drehte. Es war Panik. Aber der freundliche Gesichtsausdruck von Herrn Nöggler nahm mir zumindest nicht den ganzen Mut. Zumal die Dame, die eben noch die Gläser geschliffen hatte, neben ihm stand und ihr schönstes Lächeln preis gab.
„Wir können beginnen“, erwiderte ich.