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Ich kann sie hören

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23.01.2007
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Ich kann sie hören

Ich weiß nicht, ob jemals ein Mensch diese Zeilen finden wird. Ich weiß jedoch, dass ich keine Möglichkeit habe, das alles lebend zu überstehen. Und mir bleibt nicht viel Zeit.

Die letzte Kerze ist entzündet. Ihr spärliches Licht reicht kaum aus, die kleine Kammer in der alten Dorfschule, in der ich mich verstecke, zu erhellen. Früher unterrichtete ich hier, heute habe ich die Kreide gegen eine alte, schartige Sense eingetauscht. Draußen in der Nacht wabert zäher Nebel um die Häuser und sogar hier drinnen ist es feucht und kalt. Aber nicht die Kälte ist mein Feind.

Du liegst vor mir auf dem Boden, die Augen geschlossen. Marie - ich habe deine Arme über der Brust gefaltet, man sieht die Wunden kaum. Du sollst bei mir sein, wenn es soweit ist. Was hatten wir nicht alles noch vor. Nie werde ich den Tag vergessen, an dem wir uns kennengelernt haben. Du sahst so zärtlich aus, so lieblich in deinem gelben Sommerkleid, und mit den Sommersprossen. Wir wollten ins Tal gehen, ich hätte unterrichtet, und du hättest mir wundervolle Kinder geschenkt. Stattdessen sitze ich nun hier und verbringe meine letzten Minuten mit Schreiben. Ich habe dir das Blut von der Wange gewischt, du siehst blass aus.

Es begann mit den Tieren. Einige verhielten sich plötzlich seltsam. Sie wurden aggressiver. Unruhiger. Ich erinnere mich noch gut an Hennings´ Schäferhund. Ein gutmütiges Tier. Tat niemals einem Menschen etwas zuleide. Und dann, von einem Tag auf den anderen, biss er den alten Gartner in die Hand. Wir dachten an Tollwut und Hennings tötete den Hund kurzerhand. Es fiel ihm schwer, das Tier war ihm sehr nahe. Ich erinnere mich noch, die beiden spielen gesehen zu haben, als er noch ein Welpe war. Doch das war nicht alles. Manche im Dorf wurden unvermittelt von ihren Katzen gebissen oder gekratzt. Bauer Mooshubers Schafe sind ausgebrochen. Die ganze Herde. Haben sich einfach immer wieder gegen den Zaun geworfen, bis er nachgegeben hat. Ein Schaf verletzte sich dabei so schwer, dass es verendete. Von den anderen Tieren fehlt bis heute jeder Spur.

Einige Tage war es ruhiger. Dann jedoch, eines Abends, berichtete Bauer Mooshuber in der Dorfkneipe von einem seltsamen, blauen Licht im Wald. Es schien von der anderen Seite der Anhöhe zu kommen, so erzählte er. Und er wolle es sich genauer ansehen. Am nächsten Abend blieb sein Stammplatz in der Kneipe leer.

War da nicht ein Geräusch? Kommen sie denn schon? Ich lausche - doch es ist nur der Wind. Meine Hand hält die Feder fester und ich schreibe schneller. Deutlich fühle ich mein Herz schlagen. Vielleicht gelingt es jemandem, das Rätsel zu lösen, wenn er meine Aufzeichnungen findet.

Die Leute begannen unruhig zu werden. Man wollte einen Suchtrupp losschicken. Fünf Männer verließen das Dorf in Richtung der Anhöhe. Auch sie kehrten nicht wieder. Daraufhin schickten wir einen Boten ins Tal - bis heute kam keine Antwort.

Eines Nachts weckten mich laute Schreie. Als ich auf die Straße stürmte, war das Dorf in heller Aufruhr. Die alte Tanny war tot in ihrem Haus aufgefunden worden. Quer über ihren Bauch zogen sich Kratzspuren wie von einem großen Hund oder einem Wolf. In ihrer Kehle klaffte ein breiter Riss. Der Bürgermeister verbot daraufhin, des Nachts das Haus zu verlassen. Er hätte es nicht erst zu verbieten brauchen. Die Angst ging um in unserem Dorf. Etwas ging um. Und wir wussten nicht, was es war - als wir es ahnten, war es bereits zu spät.

Nachts, wenn wir zu schlafen versuchten, drangen seltsame Geräusche an unser Ohr. Unheimliche Geräusche. Das Scharren von Klauen über Holz. Schritte. Man sah Schatten an den Fenstern vorbeihuschen. Niemand wagte es mehr, nach Einbruch der Dunkelheit das Licht zu löschen. Als die alte Tanny beerdigt werden sollte, war sie verschwunden. Die Leiche war einfach weg. Keine Spur von ihr. Kein Blut - nichts.

Du hast es geahnt, Marie. Hast gesagt, wir sollen fliehen. Ich war ein Narr und hätte ich auf dich hören sollen, aber ich habe dich ignoriert. Jetzt bezahlen wir beide für meine Dummheit.

In den folgenden Nächten verschwanden weitere Menschen spurlos. Oder wurden tot aufgefunden. Alle auf bestialische Art und Weise ermordet. Andere flohen hastig aus dem Dorf ins Tal - ich weiß nicht, ob sie überlebt haben. Ich werde es wohl nie erfahren.

Wir Verbleibenden waren ratlos. Trafen uns nur noch tagsüber und beratschlagten. In den Augen glomm die Angst. Wachen sollten die Bürger schützen, so war unsere Idee. Das Los entschied, wer die erste Wache übernehmen würde. Mit Heugabeln und Schaufeln bewaffnet, postierten sich fünf Männer am nächsten Abend im Dorf. Am Morgen waren sie verschwunden. Alle, bis auf einen jungen Mann: Stephan. Jedoch konnte er uns nichts mehr erzählen. Er starrte nur noch mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin - Augen, in denen der Wahnsinn tobte.

Von da ab ging es rasend schnell. Jede Nacht gellten nun Schreie durchs Dorf. Tagsüber gingen die Überlebenden in die Kirche und beteten. Beteten zu einem Gott, an welchen sie ihren Glauben längst verloren hatten. Manchmal, nachts, vermeinte ich am Himmel den Widerschein eines bläulichen Leuchtens zu vernehmen. Auf eine groteske Art wirkte es beruhigend und schön.

Gestern dann fand ich dich, Marie. Du sahst so schön aus, wie eh und je, als du auf dem Boden lagst, als würdest du nur schlafen. Ich nahm dich zu mir - jetzt ich glaube fast, ich bin der Letzte.

Mein Gott. Es ist soweit! Ein Scharren an der Tür! Die Tische und Stühle, die ich davor aufgeschlichtet habe, werden sie nicht lange aufhalten. Oder war es nur Einbildung? Ich warte ab - es ist wieder ruhig, ich atme auf.

Ich schreibe, weil es das Einzige ist, was mir noch bleibt. Ein Rettungsring auf hoher See. Mit klammen Fingern führe ich die Feder, und ich wünschte mir, ich wäre fort gegangen mir dir, Marie, fort von diesem verfluchten Ort.

Da ist es wieder! Lange Klauen streifen über Holz. Schwere Schritte nähern sich der Tür. Es müssen mindestens drei von ihnen sein. Ob sie mich riechen können? Ich halte die Luft an und warte. Es rumpelt vor der Tür. Meine Gedanken rasen, im Geiste rechne ich mir aus, wieviel Zeit mir noch bleibt, vielleicht drei, vier Minuten. Wieder ein Poltern, dann das Bersten von Holz. Sie sind im Vorraum! Mich trennt nur noch eine schmale Türe von der Hölle, die auf der anderen Seite klauenbewehrt auf mich wartet.

Der Dielenboden erbebt unter den massigen Schritten im anderen Raum, irgendetwas zerbricht klirrend. Ich kann sie schnaufen hören, vermeine fast, ihren widerlichen Atem riechen zu können - will fliehen und weiß doch, es hätte keinen Sinn!

Etwas Großes, unheimlich Schweres donnert gegen die Tür, Staub rieselt von der Decke.

Marie, Marie, hörst du das, gleich sind sie hier! Gleich holen sie uns, Marie, wir müssen laufen, müssen uns verstecken, dürfen nicht aufgeben, komm, Marie, wir gehen in die Stadt, machen eine Schule auf, werden Kinder haben ...

... wieder erbebt die Türe - wie lange hält sie noch stand? Marie? Wie lange noch? Wie lange noch, bis sie hier bei uns sind?

Oh Gott, sie gibt nach, ich sehe sie, ich sehe sie zum ersten Mal!

Und ich lache, ich lache, Marie, wir waren so dumm, wir hätten es wissen müssen! Mein Gott, jetzt ist mir alles klar, warum sind wir nie darauf gekommen? Warum haben wir nur nie daran gedacht, dass ...


*​

Kriminalinspektor Gartner seufzte, setzte die schmale Nickelbrille ab und massierte sich die Schläfen. Müde blickte er auf die Uhr: Viertel vor zehn. Er hatte wieder einmal viel zu lange gearbeitet. Aber jetzt war es wirklich Zeit, nach Hause zu gehen. Seit den frühen Morgenstunden schon befasste er sich schon mit dem alten, unvollständigen Schriftstück. Unvollständig in dem Sinn, dass es unvermittelt endete, mitten im Satz.

Er griff in die Tasche seines grauen Mantels, der neben ihm auf dem Schreibtisch lag und fingerte eine zerknautschte Packung Zigaretten heraus. Irgendwo fand er ein Feuerzeug und zündete sich eine an. Missmutig blickte er zum überquellenden Aschenbecher inmitten seines gleichermaßen überladen wirkenden Schreibtischs. Er rauchte zuviel, das zumindest stand fest.

Der Wisch war damals oft genug untersucht worden. Damals, das hieß, vor fast siebzig Jahren. Ein ganzes Bergdorf war von einem Geisteskranken praktisch ausgerottet worden. So lautete zumindest die offizielle Version. Gartner selbst glaubte aber nicht daran, dass der Dorflehrer, den sie mit aufgeschnittenen Pulsadern und einer Sense in der Hand tot in der Dorfschule gefunden hatten, wirklich der Mörder war. Er war sich sicher, dass es irgendeine Seuche war, die sich damals dort ausgebreitet hatte, und die alle in den Wahnsinn getrieben hat. Eine ansteckende Verrücktheit, sozusagen. Natürlich glaubte ihm keiner, und das wäre auch nicht weiter schlimm gewesen, wäre der Fall einfach unter Verschluss im Archiv geblieben. Leider war die Sache nun aber auf seinem Tisch gelandet. Und damit auch das Schriftstück, welches man damals ebenfalls in der Schule gefunden hatte.

Den Stein ins Rollen brachte vor einigen Tagen ein abgerissener Junge, sein Name war Mark Hennings, der auf der Polizeistation aufgetaucht war und eine Geschichte präsentierte, die Stephen King sofort als Romanvorlage verwendet hätte.

Sicher war es eine Mutprobe gewesen. Mark und ein paar Jungs waren zu dem verlassenen Bergdorf gewandert, in dem damals die Morde geschahen. Sie übernachteten, und am nächsten Morgen war einer seiner Freunde, Riko Mooshuber, spurlos verschwunden. Nachts hätten sie Geräusche gehört, seltsame Geräusche, aber sie hätten es auf den Wind geschoben.

Bis sie das Blut fanden. Und dann Riko. Oder das, was von ihm übrig war. Er war auf brutalste Weise getötet worden, sein Hals war zerfetzt und seine Brust war von tiefen Wunden durchzogen.

Gartner war nun damit beauftragt worden, den offensichtlichen Nachahmungstäter zu finden und dingfest zu machen. Keine leichte Aufgabe. Und keine, die man in einem Tag erledigen kann, stellte er mit einem erneuten, zweifelnden Blick auf seine Armbanduhr fest.

Erschöpft lehnte er sich im Sessel zurück - für heute hatte er genug. Er würde den Nachtausgang nehmen müssen, um diese Zeit war das Gebäude normalerweise menschenleer. Er drückte den Stummel seiner Zigarette in den Aschenbecher und knipste die kleine Schreibtischlampe aus. Seltsam - das verbleibende Licht in seinem Büro schien bläulicher als sonst. Er blickte zum Fenster nach draußen, aber er konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Plötzlich bemerkte er eine Bewegung, eine Spiegelung in der Glasscheibe. Er drehte sich um, aber da war nichts. Er schob es auf seine Nerven und blickte wieder durchs Fenster. Irgendwo flackerte eine Neonröhre.

Und dann hörte er es! Ein stumpfes Scharren, als ob etwas Langes, Hartes über Beton strich.

Was er sah, als er sich erneut umdrehte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

 

Ich weiß nicht, ob jemals ein Mensch diese Zeilen finden wird.
Ja doch, ich.

Ich weiß jedoch, dass ich keine Möglichkeit habe, das alles lebend zu überstehen.
Ich hoffe aber doch schwer!

Und mir bleibt nicht viel Zeit.
Genau, aber nimm dir das bisschen Zeit, überlege dir einen Schluss und bitte, bitte, gebe uns eine Auflösung. Es ist so viel Fahrt drin, die Szenerie ist beklemmend und führt uns grossartig in Richtung Licht, dem blauen.
ES muss doch irgendwie eine Lösung geben?! ES darf doch so nicht enden!
ES! (Schlaaag naaaach bei SK ;) )

Fazit:Plot top, Ende Flop.
Grus.dot

 

Hallo truly,

Ich lese Lovecraft, ich lese King (seine kg's) und ich kenne falcos text zu "jeanny". Du scheinbar auch :D
Zumindest empfinde ich hier einen literarischen mix aus diesem, aber o.k.
Wie schon mehrfach gesagt, setting passt, erzählton auch, großer minuspunkt das ende. Wobei es mich nicht wirklich stört, sondern ich eher mit ricks meinung konform gehe - das dem leser respektive der leserin gleich zweimal in einer Geschichte antun, ist gemein.
Einen fehler hätte ich da noch, den dir bereits schattenkönig angemerkt hatte.

"Ich nahm dich zu mir - jetzt ich glaube fast, ich bin der letzte"

Der stimmt so auf keinen fall.
Ansonsten: hat spaß gemacht
lg
lev

 

Hi,

keine Geschichte, bei der mir das große Grauen kam, aber gruselig war sie auf jeden Fall. Und schön geschrieben, es kam mir, obwohl Horror, nicht gestellt oder irgendwie aus der Luft gegriffen vor.

Beim Ende bin ich etwas zwiegespalten, einerseits gefallen mir Geschichten, bei denen nicht alles erklärt wird, andererseits wüsste ich schon gern, was das jetzt war. Werd ich wohl meine Fantasie anstrengen müssen (bin übrigens über Häferls Copyright-Geschichte hierher gekommen :D).

Also alles in allem gerne gelesen.

Lieben Gruß
backslash

 

Hey ho Yours!

Es wurde ja schon alles gesagt, ich kann dem nur zustimmen. Am Ende möchte der Leser einfach für sein Durchhaltevermögen (wenn die Geschichte wie in diesem Fall so angelegt ist, dass es auf eine Auflösung hinausläuft) belohnt werden, das findet hier nicht statt.
Leser-Phantasie hin oder her, der Autor muss die Phantasie auch füttern, und mit "blaues Licht" kann ich mir leider nichts vorstellen, da kommen einfach keine Assoziationen bei mir auf, deshalb bleibt das ganze auch nur das "blaue Licht". Wer oder was damit gemeint ist, weiß ich nicht.

Das wars auch schon, hat doch gar nicht weh getan. ;)

JoBlack

 

Hallo ihr!

Ja, das Ende. Ja. Ja. Das Ende. Ich arbeite daran. Tut mir Leid, dass ich euch erst jetzt antworte, das ist irgendwie untergegangen, bzw. ich war so verrant in neue Dinge, dass ich die bisherigen ganz vergessen habe.

Darum hier ein riesengroßes Danke an euch für die Kommentare!

Wie gesagt, die Geschichte werde ich komplett überarbeiten. Dafür macht sie mir zu viel Spaß - die werde ich nicht einsam sterben lassen.

Schöne Grüße,

yours

 

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