Liebe Manuela!
Ein bisschen erinnert Deine Geschichte an Kafkas Brief an den Vater, allerdings gibt es da entscheidende Unterschiede, die zugleich meine Kritik sind. Nicht, weil Du Deine Geschichte nach Kafkas Schema schreiben sollst, sondern weil die Beseitigung dieser Unterschiede leichter mit dem Protagonisten mitfühlen ließe und die Geschichte literarischer machen würde.
Im Moment vermittelt der Text nämlich vor allem Verachtung und Haß von Seiten des Protagonisten – das sind aber an sich keine Gefühle, sondern die Reaktion auf Gefühle: Es muß etwas erst weh tun, damit Haß entstehen kann, auch wenn man das nicht immer so wahrnimmt (oder gerade weil man die eigentlichen Gefühle davor nicht wahrnimmt).
Die Gefühle zeigst Du in dem Teil im Schwimmbad ganz gut – bis zu dem Satz »Ich hab mich so geschämt für dich«. Sich für jemanden zu schämen stellt keine Kränkung dar, es handelt lediglich jemand nicht so, wie man selbst es für richtig halten würde, was aber mit einem selbst meistens wenig zu tun hat. Und warum sollte er sich vor dem Kerl, von dem er sich bedroht fühlt, überhaupt für irgendwas schämen? Geht es ihm darum, dem Typen zu beweisen, daß er einen super Vater hat, oder darum, daß der Protagonist Schutz beim Vater sucht, sich aber trotzdem allein allem ausgeliefert fühlt, kein Verständnis für seine Angst findet, und vom Vater noch so getan wird, als existiere der Grund gar nicht?
Du warst ein jämmerlicher Angsthase, Vater. Nein, ein richtiger Hosenscheißer warst du. Nie hast du Flagge gehisst, nie Stellung bezogen, nie riskiert, mit deiner Meinung alleine zu stehen. Immer in der Mitte bleiben, war deine Devise, nur nicht auffallen. So kommt man im Leben am weitesten, hast du immer zu mir gesagt.
Als Einleitung finde ich das passend, aber besser wäre es, wenn Du es auf den Protagonisten beziehen würdest; dabei könntest Du auch gleich das Geschlecht klarstellen, z.B. durch Anhängen des Satzes: »Du warst mir ein schönes Vorbild als Mann.«
Die Wiederholung des »immer« würde ich durch »Stets in der Mitte bleiben« reparieren.
Wenn wir gemeinsam spazieren gegangen sind, hast du mir erzählt, wie schlimm es ist, mit meiner Mutter leben zu müssen, wie du sie im Grunde verabscheust. Du bleibst nur um meinetwillen mit ihr zusammen, hast du gesagt. Sie würde sich dir im Bett verweigern, dich als Mann verachten, ließe dich um Sex betteln. Aber wenn sie nur einmal in die Hände geklatscht hat, bist du stramm neben ihr gestanden, hast gekuscht und pariert, alles gemacht, was sie wollte, du Jammerlappen.
Wie ich dich dafür verachte, Vater!
(Textzeug zuerst: Indirekte Rede? »wie schlimm es
sei … verabscheutest. Du bliebest …«)
Da ist zu viel hineingepackt, und ich komme auch nicht klar mit dem Alter des Protagonisten bei diesen Spaziergängen: Wenn der Vater seinetwegen (»meinetwegen« fände ich übrigens passender als »um meinetwillen«, da es mit dem Willen des Protagonisten ja nichts zu tun hat) bei der Mutter bleibt, stelle ich mir ein Kind von höchstens fünfzehn vor, eher einiges darunter, aber daß er ihm dann die Sache mit dem Sex erzählt, will nicht so recht dazupassen.
Die Tatsache, daß er mit dem Sohn über seine Lage spricht und auch so konkret formulieren kann, was so alles schiefläuft, deutet eigentlich darauf hin, daß er es nicht ganz so hinnimmt, wie in den ersten Zeilen beschrieben, zumindest eine innere Auflehnung scheint vorhanden zu sein. Und bezieht er damit nicht doch auch irgendwie Stellung, wenn er so ein offenes Gespräch mit dem Sohn führt?
Und vor allem: Was davon betrifft das Gefühl des Protagonisten, und wie? Wenn es ihn nicht persönlich negativ betreffen würde, müßte er ja eigentlich eher Mitleid mit dem Vater haben. Würde z.B. der Vater die Mutter schlagen, könnte ich mir nicht vorstellen, daß man dafür die Mutter hassen würde und nicht den Vater. Und selbst, wenn der Vater so ein Jammerlappen ist, gehört noch immer die Mutter dazu, die seine Schwäche ausnützt und ihn entsprechend behandelt. Es steht also nicht in der Geschichte,
warum er diesen Vater dafür verachtet, ich kann nur raten, daß der Protagonist nun selbst Probleme mit dem Selbstwert oder auch mit seiner Rolle als Mann hat, und daß diese noch unverarbeitet sind (mit der Aufarbeitung verschwindet nämlich auch der Haß). Wahrscheinlich sind da auch noch Schuldgefühle, weil der Vater ja sagte, er hätte das alles nur seinetwegen ertragen.
Der Brief an den Vater ist im Unterschied dazu kein reiner Vorwurf, sondern er stellt auch viele Zusammenhänge her und bezieht sich immer auf das Fühlen und Erleben des Franz, erst dadurch wird offensichtlich, warum es für ihn überhaupt eine Rolle spielt, was der Vater macht und wie er ist. Deinem Protagonisten könnte es ja rein theoretisch völlig gleichgültig sein, wie der Vater sich von der Mutter behandeln läßt – zum Vergleich zwei kurze Zitate von Kafka:
… das wären an sich völlig unbedeutende Einzelheiten gewesen, niederdrückend wurden sie für mich erst dadurch, daß Du, der für mich so ungeheuer maßgebende Mensch, Dich selbst an die Gebote nicht hieltest, die Du mir auferlegtest. Dadurch wurde die Welt für mich in drei Teile geteilt, …
[…]
Du sagtest: »Kein Wort der Widerrede!« und wolltest damit die Dir unangenehmen Gegenkräfte in mir zum Schweigen bringen, diese Einwirkung war aber für mich zu stark, ich war zu folgsam, ich verstummte gänzlich, verkroch mich vor Dir und wagte mich erst zu regen, wenn ich so weit von Dir entfernt war, daß Deine Macht, wenigstens direkt, nicht mehr hinreichte.
Siehst Du, was ich meine? Hier steht nicht nur, was er am Verhalten des Vaters beklagt, sondern auch, was es in ihm angerichtet hat, und damit erhebt es sich vom reinen »Ich hasse Dich, weil Du so bist, wie Du bist« zum »weil Du damit so viel in mir zerstört hast«. Erst damit würde die Geschichte die Deines Protagonisten, weil sie gefühlsmäßig dann von ihm sprechen würde.
Im Moment ist es eher so, daß mir am Ende der Vater leid tut, weil ich nur erfahre, wie er sich von seiner Frau behandeln läßt, daß er null Selbstwertgefühl und nie sein Leben gelebt hat, usw. Und dann wird er auch noch vom Sohn gehaßt für all die Demütigungen, die er ertragen mußte, weil er vermutlich in seiner eigenen Erziehung ebenso gedemütigt wurde; er ist also im Grunde eher eine bedauernstwerte Gestalt als eine, die man verachten muß. – Zumindest, solange Du mich nicht gefühlsmäßig zum Sohn ziehst, was nicht mit dem Aussprechen von Verachtung und Haß gelingen kann. Warum sollte ich meine Gefühle für jemanden erwärmen, der nichts als Haß und Verachtung in sich hat, während ich das Haßobjekt als bemitleidenswertes Wesen kennenlerne?
Du müßtest also meiner Meinung nach zumindest herausarbeiten, warum es den Sohn überhaupt persönlich betrifft, wenn der Vater sich nicht wehrt und alles hinnimmt, und warum es nicht mit einem Kopfschütteln abgetan ist.
Oder damals, ich war noch ein Kind, als mir der ekelhafte Typ in der Brausekabine des öffentlichen Schwimmbads seinen Penis zeigte, damit rumspielte und mich dreckig angrinste. Ich hatte Angst, Vater. Elende Angst! Bin weinend davon gelaufen und hab geschrien, das werde ich meinem Papa erzählen. Der ist groß und stark. Der wird’s dir geben, hab ich geschrien.
Noch einmal zum Alter des Protagonisten: Wenn er alt genug ist, im Schwimmbad allein zu den Duschen zu gehen, ist er zu alt für dieses »Der ist groß und stark«.
Und es taucht auch die Frage auf: Was hat das Kind bisher denn so erlebt, daß es in der Situation derart panische Angst bekommt? Ein Kind, das von nichts weiß, noch dazu ein Bub, der selbst einen Penis hat (und auch, wenn er noch sehr klein ist, damit spielen wird, ohne dabei jemandem etwas zuleide zu tun), würde damit nicht gleich etwas Böses, gegen ihn Gerichtetes verbinden, wovor er sich fürchten müßte – es sei denn, er hat entsprechende Erfahrungen, ansonsten würde er sich wahrscheinlich einfach nur wundern.
(Es gibt natürlich auch Eltern, die ihre Kinder rechtzeitig aufklären, aber ich glaube, solche wolltest Du nicht darstellen, da es einem Starkmachen entspricht, sein Kind darauf vorzubereiten, sich zu schützen und richtig zu reagieren, statt sich wie der Vater alles gefallen zu lassen.)
Ich hab auch noch eine zweite Frage dazu, und ich hoffe, Du faßt das nicht als böse auf – ich gehe davon aus, daß Du, wie immer, ehrliche Kritiken schätzt: 
Woher nimmt ein Kind, das seinen Vater nur als Jammerlappen erlebt, die Drohung, sein Vater würde es jemandem geben? Hat er vielleicht ähnliches bei anderen Kindern gehört und sehnt sich seither danach, auch einmal von seinem Vater so verteidigt zu werden? Dann gehörte diese Sehnsucht unbedingt in Deine Geschichte, die Enttäuschung danach, das sinkende Selbstwertgefühl – bevor es in Verachtung umschlägt. Wobei es im »Der ist groß und stark«-Alter eher noch nicht soweit ist, daß Kinder Verachtung für ihre Eltern empfinden können, weil sie immer, d.h. sehr viele Enttäuschungen lang, auf die Liebe der Eltern hoffen, da kann man nicht zugleich hassen – wenn der Haß geboren ist, ist die Hoffnung auf Liebe bereits enttäuscht gestorben.
Mein Gott, wie ich dich dafür hasse, Mutter.
Hier wäre so eine schöne Möglichkeit, dem Protagonisten die Härte etwas zu nehmen, würde statt dem Hass auf die Mutter da stehen: Wie du mir leid tust, Vater.
Wenn er die Mutter dafür haßt, daß sie den Vater so behandelt hat, dann muß ihm der Vater erst einmal leid tun, sonst würde es ihn nicht berühren und könnte mangels persönlicher Betroffenheit auch später nicht zu Haß führen. Würde ihm der Vater aber schon vorher leid tun, wäre die Reaktion in dieser Situation gut vorstellbar.
Ich würde an Deiner Stelle das Grundgerüst zu einer Geschichte ausbauen, die mit dem Sterben des Vaters beginnt. Der Protagonist mit seiner Verachtung erinnert sich an einzelne Momente, deren Schmerz er bisher nie verarbeitet hat. Sieht gleichzeitig die Mutter, wie sie den Vater noch im Tod bevormundet, und erkennt erst in diesem Moment die Zusammenhänge, die nun die Verachtung in Mitleid für den Vater verwandeln, und zugleich den Haß auf die Mutter wachsen lassen.
Aber das ist natürlich nur ein Vorschlag, den Du nicht annehmen mußt, ich bin aber überzeugt davon, daß Du durch einen derartigen oder ähnlichen Ausbau (jedenfalls einen, der mehr in die Tiefe geht, mir die Verwüstung im Inneren des Protagonisten zeigt, die die Verachtung begründet) eine wirklich gute Geschichte schreiben könntest.
Außerdem würde ich »In einer Kiste aus Edelholz.« streichen, da Du ohnehin dann noch einmal den Mahagonisarg erwähnst, und statt »hat sie zu Hanni, ihrer besten Freundin gesagt« genügt »hat sie gesagt«. Die Freundin würde ich da gar nicht ins Spiel bringen, es sei denn, Du gibst ihr sonst noch irgendwie Wichtigkeit.
Die Geschichte funktioniert mit einem Mädchen bestimmt ebensogut.
Da Du bisher nicht zeigst, worin die Verletzungen des Protagonisten bestehen, wenn der Vater ein Jammerlappen ist, kann man das nicht eindeutig beantworten. Wenn Du sie dahingehend ausarbeitest, daß das Kind dadurch nicht lernt, sich selbst wichtig zu nehmen, ist das Geschlecht egal (in dem Fall würde ich aber auch die Mutter noch mehr beleuchten, nämlich wie sie sich zu dem Kind verhält, da wir jetzt nur erfahren, wie sich dem Vater gegenüber verhält, und die Mutter soll ja auch nicht ganz unwichtig sein für die Entwicklung eines Kindes, Partner können sich da mit ihren Stärken und Schwächen durchaus ergänzen). Soll es aber eher um das negative männliche Rollenvorbild gehen bzw. um beides, funktioniert sie natürlich nur mit einem männlichen Protagonisten.
Liebe Grüße,
Susi