Mitglied
- Beitritt
- 19.05.2006
- Beiträge
- 644
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 32
Ich verachte dich
Du warst ein jämmerlicher Angsthase, Vater. Nein, ein richtiger Hosenscheißer warst du. Nie hast du Flagge gehisst, nie Stellung bezogen, nie riskiert, mit deiner Meinung alleine zu stehen. Immer in der Mitte bleiben war deine Devise, nur nicht auffallen. So kommt man im Leben am weitesten, mein Junge, hast du zu mir gesagt.
Wenn wir gemeinsam spazieren gegangen sind, hast du mir erzählt, wie schlimm es sei, mit meiner Mutter leben zu müssen, wie du sie im Grunde verabscheust. Du bliebest nur um meinetwillen mit ihr zusammen, hast du gesagt. Sie würde sich dir im Bett verweigern, dich als Mann verachten, ließe dich um Sex betteln. Aber wenn sie nur einmal in die Hände geklatscht hat, bist du stramm neben ihr gestanden, hast gekuscht und pariert, alles gemacht, was sie wollte.
Wie ich dich dafür verachte, Vater!
Oder damals, ich war noch ein Kind, als mir der ekelhafte Typ in der Brausekabine des öffentlichen Schwimmbads seinen Penis zeigte, damit rumspielte und mich dreckig angrinste. Ich hatte Angst, Vater. Angst! Bin weinend davongelaufen und hab geschrien, das werde ich meinem Papa erzählen. Der ist groß und stark. Der wird’s dir geben, hab ich geschrien. Nachher, im Umkleideraum, habe ich dir den Typ gezeigt. Er stand nur ein paar Kabinen weiter. Ganz stark hab ich mich gefühlt an deiner Seite. Konnte spüren, wie es dem Schweinehund mulmig wurde, als ich auf ihn zeigte.
Und du? Was hast du getan? Hast dich vor mich hingestellt, die Lippen zusammengepresst und ihm den Rücken zugewandt, als wäre damit alles aus der Welt geschafft, als wäre gar nichts geschehen. Ich hab mich so geschämt für dich. Hinter deinem Rücken hat er mich wieder dreckig angegrinst und an seinem Penis gerieben, als ich meine Badehose auszog. Mein Gott, muss sich der Kerl sicher gefühlt haben!
Wie ich dich dafür verachte, Vater!
Und jetzt?
Jetzt liegst du vor mir. Blass, kalt und steif. In einer Kiste aus Edelholz. Gleich beginnt die Beerdigungszeremonie. Eigentlich wolltest du eingeäschert werden, wie oft hast du das gesagt. Aber Mutter hat es anders bestimmt. Du trägst deinen grauen Anzug. Es ist der, den sie dir vor Jahren zum Vatertag geschenkt hat. Ich weiß, du hast ihn nie gemocht. Auch der Mahagonisarg war ihre Wahl. Lange hat Mutter gegrübelt, welches Modell sie wählen soll. Geld darf keine Rolle spielen, hat sie zu Hanni, ihrer besten Freundin gesagt, während sie den Katalog studierte. Hans war ein braver Mann, er hat sich ein schönes Begräbnis verdient.
Die Musik beginnt zu spielen, der Trauerzug setzt sich in Bewegung. Mutter legt ihren Arm auf meine Schulter. „Lass uns jetzt von Vater Abschied nehmen“, sagt sie mit leiser Stimme.
Wie ich dich dafür hasse, Mutter!