- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Ihr Name ist Lisa
„Na, Luigi!“, sage ich. Jetzt stehe ich zum ersten Mal genau vor ihr, wie ich es mir so oft ausgemalt habe. Es ist ganz anders, als ich dachte. Sie sieht mich an. Sie kapiert nicht.
„Was ist los?“, fragt sie und versucht, genervt zu klingen. Doch vor allem höre ich Angst aus ihrer Stimme, und Dummheit. Naivität auf jeden Fall.
„Ach nein, halt! Du magst es ja, wenn man das richtig ausspricht... Loouigi. Besser so?“, fahre ich in leicht spöttischem Ton fort. Jetzt sehe ich in ihren Augen das pure Entsetzen. Weiß sie es etwa schon? Oh, dabei habe ich mir so viele schöne Dinge zurechtgelegt. Als nächstes hätte ich erzählt, dass sie sich insgeheim für die Beste hält und vor allem für die Schönste. Immer ein großer Fehler!
„Wer ist das? Und was will der?“, fragt ihre Freundin. Also, das müsste Hannah sein, ihre beste Freundin. Sie selbst heißt übrigens Lisa. Lisa Olgmann. Gerade mal siebzehn Jahre alt. Ha, dabei ist mein Vater vierundfünfzig! Wenn, dann könnte sie höchstens meine Freundin sein! Aber darauf verzichte ich dankend. Die lässt sich eh mit jedem ein, egal wie alt. Dumme Hure!
„Tja, ich kann dir das schon erklären. Aber ob Lisa das will...?“, antworte ich endlich leise.
„Wer bist du?“, flüstert Lisa. Ich hab keine Ahnung, wieso sie sich gern „Luigi“ nennt. Vielleicht wurde sie mit dem falschen Geschlecht geboren! Pah, das würde ich ihr gönnen, aber so was von! Doch bisher habe ich davon nichts mitbekommen. Dabei belausche ich sie dauernd, seit ich es weiß. Naja, wenn man das belauschen nennen kann. Es war übrigens nicht schwer, sie zu finden. Mein Vater, der nach einem seiner Besuche bei ihr mal wieder betrunken nach Hause kam, gab sogar zu, bei Lisa gewesen zu sein. Er verriet uns ihren Namen, und dass sie erst siebzehn sei. Er verhöhnte meine Mutter, sie habe noch nie eine so junge Affäre gehabt, immer nur alte, graue Männer. Dabei ist sie nie fremdgegangen!
Meine Mutter reichte die Scheidung ein. Danach suchte ich nach Lisa. Überall, in allen Schulen Leipzigs und Umgebung. Ich fand sie. Und stellte fest, dass sie sich dauernd mit anderen Typen traf. Wenn sie meinen Dad wenigstens lieben würde! Aber er ist blind für ihre Kälte. Oh ja, sie ist eiskalt. Wenn sie abends im Bett liegt, und über den Tag nachdenkt, zählt sie manchmal nach, mit wie vielen Typen sie heute geschlafen hat. Dabei hab ich sie auch schon mal „belauscht“. Nicht die Geräusche – ich war ganz woanders – nur die Gedanken. Und die waren abscheulich. Sie hat nachgerechnet, wie viele Sekunden es bei welchem Typ dauerte vom Höhepunkt zur Erschlaffung. Mein Vater sei der Schlappschwanz aller Schlappschwänze, glaubt sie. Warum macht sie dann mit ihm rum, frag ich mich.
Ich habe noch nie jemandem von meiner Gabe erzählt. Ich bemerkte es als Kind, als kleiner Junge. Um genau zu sein, mit acht. Mein Vater und meine Mutter stritten sich. Es war ein normaler Streit, so wie er in jeder guten Ehe vorkommt. Aber das durchschaute ich damals noch nicht. Also presste ich mir die Hände auf die Ohren – ich saß vor der Tür, wollte aber auch nicht weggehen – und wünschte mir, dass doch irgendwas passieren möge. Irgendwas Schönes. Und plötzlich hörte ich in meinem Kopf jemanden reden. Ich erkannte schnell die Stimme meiner Mutter. Ich kann mich noch genau erinnern, sie dachte: ‚Dieser Streit ist so sinnlos! Und was soll Luca davon denken, wenn er hört, dass sich seine Eltern über eine verschwundene Wurst streiten!‘ Aber es ging meinem Vater nicht um die Wurst, sondern ums Prinzip. Seiner Meinung nach hatte meine Mutter die Wurst versteckt, um ihn zu ärgern. Mal ehrlich, warum sollte sie das tun? Ich war natürlich geschockt, mehr über meine plötzlich gewonnene Fähigkeit als über die Gedanken meiner Mutter – ist ja klar, oder? Ich habe danach nur noch ein einziges Mal in die Gedanken meiner Mutter geschaut. Es war, als ich eine sechs in einer Mathearbeit mit nach Hause brachte. ‚Hätte er die sechs auch bekommen, wenn er noch einen Vater hätte? Wären wir doch nur eine Familie!‘, hörte ich sie in meinem Kopf, ihre sanfte Stimme. Es traf mich wie ein Blitz und nahm mich so sehr mit, dass ich mir nie wieder getraute, die Gedanken meiner Mutter zu lesen.
Aber seitdem ließ ich alles locker angehen: Vor Arbeiten brauchte ich nie mehr zu lernen, nein, ich schaute einfach in den Kopf des Oberstrebers und fand dort die Lösungen. Sah bestimmt lustig aus, zwei Schüler der Klasse hatten exakt den selben Text, obwohl sie bestimmt zehn Meter voneinander entfernt sitzen. Und das in jedem Fach! Dummerweise hat Mister Superhirn letztes Jahr auf eine Eliteschule gewechselt. Und da es einen wie ihn kein zweites Mal gibt, muss ich jetzt doch öfters mal zum Hefter greifen. Sicher, ich könnte ganz einfach auch auf die Distanz alles mithören, was er denkt, aber er schreibt ja ganz andere Arbeiten als wir. Viel härter... Außerdem denkt er fürchterliche Dinge. Ich geh da jetzt nicht näher drauf ein. Ist auch nicht mein Thema. Mein Thema ist Lisa. Und zwar seit über einem Jahr. Es ist erschreckend, ich kenne sie besser als jeden anderen Menschen auf der Welt, denn ich höre ihr ständig zu. Nicht aus Interesse, sondern weil ich ihre Schwächen kennen will. Und zwar alle. Ich könnte mit jedem Menschen “Kontakt aufnehmen“, ich muss mich nur ein wenig konzentrieren, an denjenigen denken und schwupps – bin ich in seiner ganz eigenen Welt. Ich glaube, niemand kann das außer mir. Ist aber echt lustig. Meistens. Es bringt auch Nachteile mit sich, alles und immer zu wissen Ein Beispiel: In die Gedanken eines Gegenübers, mit dem man grade redet, versetzt man sich schon mal aus Versehen rein. Und wenn man dann alle seine Gedanken weiß... Aber auch egal! Es geht um Lisa. Und sie ist die Einzige, die interessiert. Wenn sie weg ist, wird alles wieder gut. Schließlich hat sie meinen Vater verführt, ohne die Tussi wäre er nie auf die Idee gekommen, uns zu verlassen und zu saufen! Das steht mal fest!
„Wer bist du?“, fragt Lisa wieder, diesmal eindringlicher.
„Wer bin ich wohl? Du kennst mich doch, oder?“, antworte ich. Dann beuge ich mich ganz nah zu ihr herunter. „Mich wolltest du doch auch flachlegen.“, sage ich. Geschockt sieht die arme Hannah mich an. Sie hat eine Schlampe wie diese zur Freundin nicht verdient. Hannah ist ein nettes Mädchen, viel eher mein Typ als Lisa, die Nutte. Hannah ist unscheinbar, aber wunderschön. Sie versteckt sich hinter hochgesteckten Haaren und einer Brille mit schwarzem Rahmen, aber sie sieht immer noch auf ihre eigene Weise atemberaubend aus. Und was sie denkt, ist spitze. Sie überlegt, wie sie als Amerikas Präsidentin für Weltfrieden sorgen würde, fragt sich, wie sie die Hungersnöte in manchen Ländern abschaffen und für Gleichberechtigung sorgen könnte... Es klingt echt unrealistisch und kitschig, aber sie denkt wirklich so. Sie ist was ganz Besonderes, das weiß ich. Ach ja, und sie denkt über ihre Figur nach. Sie glaubt, zu dick zu sein und findet Lisa viel hübscher als sich. Manchmal überlegt sie, ihren Stil dem Lisas anzupassen. Das fände ich furchtbar.
„Flachlegen? Wovon redest du, Mann?!“, fragt Lisa mich und sieht mich mit ihren hässlichen blauen Augen an, die sie an sich so toll findet. Sie ist eingebildet und schätzt niemanden, nur sich selbst. Sie sucht Genugtuung in den Affären, die sie mit Männern hat, aber sie kann sie nicht finden. Sie ist geistig gestört, und zwar sehr. Ich finde, so jemand gehört weggesperrt. Weit weg. Aber niemand sieht das, sie ist immer nur das hübsche kleine Mädchen. Bald hat sie sogar ein Abi in der Tasche. Natürlich, weil sie jeden der männlichen Lehrer als erstes fickt. Da versteh ich, dass sie 'nen 1,2 Durchschnitt hat. Alle Lehrer reißen sich natürlich um die Kurse mit Lisa, da haben diese pädophilen Arschlöcher endlich mal ein junges Ding zum Vögeln gefunden! Tut mir ja leid, dass ich alle so über einen Kamm schere, aber man kann mir glauben: Ich hab nachgesehen. Die denken wirklich so. Ausnahmslos.
„Lisa, lass uns besser gehen.“, schlägt Hannah vor.
„Sei doch still.“, sagt Lisa. Aber sie denkt ganz anders. Sie fragt sich: ‚Wollte ich den wirklich mal flachlegen? Hm, gut möglich... Schlecht sieht der nicht aus. Aber er ist mir zu intelligent! Was meint der mit ‚Luigi‘ und so...? Das hab ich doch niemandem erzählt... Oder? Vielleicht ist es mir rausgerutscht. Das passiert – in manchen Situationen. Naja, werden sehen, was passiert. Aber dass er meinen geheimen Namen kennt, ist seltsam!‘ Hier breche ich ab. Ich will das nicht mehr hören. Ich will sie leiden sehen, so furchtbar leiden, dass sie es sich in ihrem Schrumpfhirn gar nicht ausmalen kann. Dann will ich mal sehen, was sie denkt! Falls sie dann überhaupt noch denken kann vor Schmerz...
„Also gut, ich bin dir also zu intelligent, ja? Das tut mir leid für dich, aber eh ich eine wie dich nehme, mach's ich's mir lieber selbst!“, nehme ich das Gespräch wieder auf. Hannah sieht mich an, als wäre ich Jesus oder so.
„Was... Wie... Wie, er ist zu intelligent... Was meint er denn...?“, brabbelt sie und starrt mich an.
„Hannah, verschwinde!“, fordert Lisa sie auf. Die spinnt wohl?!
„Was? Wieso?“, fragt Hannah sogleich.
„Weil ich es sage! Das ist eine Sache zwischen mir und diesem Typen, okay?! Und jetzt geh, ist das klar!“ Ungeheuerlich, ehrlich!
„Na gut, bis dann.“ Hannah erhebt sich tatsächlich, wirft sich die Jacke über und verschwindet. Ich setze mich auf ihren Stuhl und spüre, dass er noch warm von ihr ist.
„Also, noch einmal, wer bist du?“, fragt Lisa mich. Natürlich kennt sie meinen Namen. Mein Vater liest ihr doch von den Lippen ab. Und sie wollte wissen, was für eine Familie sie zerstört hat. Na gut, und los geht's!
„Ich bin Luca“, antworte ich. Du wirst leiden, wie niemals zuvor jemand gelitten hat...