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Im Gefecht
Irgendwo in der Nähe schlug eine Granate ein. Louis Chickering drückte sich automatisch mit aller Kraft auf den Boden des Schützengrabens, sich davon erhoffend, von Splittern verschont zu bleiben – ein beinahe irrwitziges Unterfangen im unablässigen Kugelhagel. Er lud sein Gewehr nach, eine mechanische Bewegung, die er schon im Schlaf ausführen konnte, doch plötzlich war es still, totenstill. Nur noch das Stöhnen der Verwundeten war zu hören, auch das etwas, wogegen Louis schon lange abgestumpft war. Zwar drang jeder einzelne Schrei noch immer wie eine heisse Nadel in ihn ein, doch sein Herz hatte sich mittlerweile einen harten Panzer zugelegt, sodass es ihn schon fast nicht mehr berührte. Der Schweiss lief ihm in Bächen die Stirn herunter und in seinen Kragen hinein, denn die Hitze des Tages war in der Erde gespeichert wie Blut in einer vollgesogenen Zecke.
Die verzweifelten Schreie verstummten allmählich, verebbten zu Schluchzern, Röcheln, Seufzern, doch als die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont verschwanden, hallten immernoch von Zeit zu Zeit die erschöpften Laute derer, denen niemand mehr helfen konnte, in die Nacht. Louis wischte sich mit den Händen übers Gesicht, doch damit erreichte er nur, dass die Dreckschicht sich mit dem Schweiss vermengte und kleine Klümpchen bildete. Seine Hand tastete hinunter zu seinem Hals, versuchte den Kragen etwas zu lockern. Es gelang ihm nicht. So konzentriert und gefasst er während des Gefechts war, so machtlos und taub fühlte er sich trotz seines Panzers, wenn die Gewehre und Kanonen schwiegen. Denn dann folgte eine Stille, die lauter war als als die ganze Artillerie zusammen. Es folgten die Bilder, für immer eingebrannt in seinem Gedächtnis, Erinnerungen, die selbst den stärksten Mann zum Krüppel machen konnten.
Männer, die wie willkürlich verstreute Spielzeugfiguren über eine Ebene verteilt waren.
Ein Junge, der, vor zwei Wochen eingerückt, noch stolz seine goldenen Uniformknöpfe poliert hatte, nunmehr schwarz vor Fliegen, die sich an ihm gütlich taten.
Die leeren Augen derer, die wieder einen Tag überlebt haben und zusehen mussten, wie ihre Kollegen im eigenen Blut verendeten.
Männer wie Louis Chickering warfen nicht nur einen Blick in die Hölle, sie gingen mitten hindurch.
Louis schüttelte den Kopf, als ob sich all das wie ein lästiges Insekt verscheuchen liesse. Seine klammen Finger hatten sich nun um etwas geschlossen, das sie mit einiger Mühe ans Tageslicht befördert hatten: ein kleines, billiges Medaillon aus Silber. Er öffnete es nicht aus Angst, der Inhalt könnte verloren gehen; eine Locke seines Mädchens war darin aufbewahrt, ein Talisman, der ihn bisher wirksam vor allen Kugeln beschützt hatte. Klug war seine Lilly, klug und dazu noch schön. Eine seltene Kombination, vor allem bei Frauen. Ach, könnte er sie doch nur wieder einmal in seine Arme schliessen – doch in Zeiten wie dieser war für hirnvernebelnde Dinge wie Liebe keinen Platz. Langsam, beinahe wehmütig liess er die Kette wieder in seinen Kragen gleiten und wandte sich um. Einige Meter neben ihm lag sein Freund, George. Sie hatten sich bei der örtlichen Meldestelle kennengelernt und waren sich dann im Laufe der Zeit, mit Hilfe einiger Saufgelage, ziemlich vertraut geworden. Aus Georges Gesicht ragte eine gewaltige Nase, über die mehr Sommersprossen verteilt waren, als ein einzelner Mensch verkraften konnte. Seine Hässlichkeit machte ihn irgendwie sympathisch, und so war er derjenige gewesen, der mit allen der Kompanie befreundet war und für sich und seinen Freund einige Vorteile rausschlagen konnte.
„George?“ Louis’ Stimme war zaghaft, rau, wie immer, wenn das Feuer verstummt war. Es kam keine Antwort. „George?“ Diesmal forscher, drängender. „George, das ist nicht witzig!“ Überall wurde von den seltsamen Witzen der Soldaten gesprochen, doch fast niemand wusste, dass sie all diese Spässe nicht machten, weil sie Humor hatten, sondern sie hatten Humor, weil sie sonst vollends kaputt gehen würden. „George!?“ Ein bittender, fast quengelnder, wütender Unterton kam dazu, aber nichtsdestotrotz blieb alles still. Louis fühlte sich, als hätte ihm jemand mit aller Kraft den Gewehrkolben über den Schädel gezogen. Er robbte zu seinem Freund, ungeachtet der Pfützen und Exkremente, durch die er kriechen musste. „George?“ Louis schämte sich nicht seiner Tränen, als er seinen Freund umdrehte und ihn aus einem ausdruckslosen, blutüberströmten Gesicht der Tod anstarrte.
Gedämpfte Pianomusik schwebte durch die blauvernebelte Luft. Champagner, Wein und Likör hatten die Atmosphäre und einige Zungen gelockert, es wurde gelacht, getanzt, gegessen und geraucht, unzählige Kerzen tauchten den Raum in ein schimmerndes, angenehm gedämpftes Licht.
„Ist es nicht eine vortreffliche Gesellschaft, meine Liebe?“ Ein beleibter Herr tat ein Stück Torte mit Zuckerguss auf einen Porzellanteller und reichte ihn seiner Begleiterin. „Nur schon das Buffet – Wachteln, Tauben, Meeresfrüchte, Käse in allen Sorten und Variationen, Pariser Konfekt, Zuckergebäck en masse... Ein Träumchen, wirklich, ein Träumchen...“ Nachdem er sich selbst einen Teller mit einer beachtlichen Auswahl der angebotenen Speisen beladen hatte, führte er seine Begleiterin zu einem ruhigen Tisch in der Ecke und rückte ihr mit der freien Hand den Stuhl zurecht. Dann setzte er sich, kostete von einem marinierten Pouletschenkel, spülte den Bissen mit einem Schluck Champagner herunter und meinte zufrieden: „ Ja, das nenne ich eine gelungene Party. Erstaunlich, was die Finnegans alles bekommen haben – das muss ja ein wahres Vermögen gekostet haben, besonders heutzutage!“ Seine Begleiterin, eine zierliche, in ein schickes, aber doch schon benutzt aussehendes Kleid à la mode gekleidete Frau, runzelte nur die Stirn und erwiderte: „Man bedenke nur bei jedem Bissen, dass in diesem Moment hundert Leute sterben für unser Land, und dass – “
„Aber meine Teuerste“, schnitt der Herr ihr liebenswürdig das Wort ab, „jetzt verderben Sie mir doch nicht den Appetit mit diesem düsteren Thema. Wenn man schon einmal so geniessen kann, sollte man das doch auch ausnützen und nicht über Politik sprechen – aber in einem Punkt muss ich Ihnen recht geben: Es ist schon unglaublich, dass wir hier schwelgen, während an irgendwelchen fernen Orten Männer ihr Leben für Slogans hingeben ...“ Seine Begleiterin hustete und wandte sich schnell ab. „Aber es ist schliesslich für die Sache. Man muss eben eine Menge Dreck durchsieben, um schlussendlich auf das Goldnugget zu stossen, und so müssen wir jetzt halt auch durch den Kampf. Wenn wir am Schluss siegreich aus der Schlacht hervorgehen, ist mir jeder Preis recht.“ Die Stimme seiner Begleiterin konnte nicht den aufkommenden Zorn unterdrücken, den ihr Gesicht zu verbergen suchte: „Mein Herr, wie Sie vielleicht wissen, habe ich selber jemanden an der Front. Ich erinnere mich an eine Zeile aus einem seiner Briefe: ‚Den Wind zu säen war ein berauschender Zeitvertreib. Den Sturm zu ernten allerdings ist eine ganz andere Sache.’ Ich wage also zu behaupten, dass wir Daheimgebliebenen nicht auch nur in geringster Weise beurteilen können, was es heisst, auf dem Schlachtfeld zu sein.“ Ihr Gegenüber rieb sich den Bauch nickte, scheinbar ergriffen und verständnisvoll. „Sie haben vollkommen Recht. Krieg ist wirklich eine hässliche Angelegenheit, und ich bin froh, dass es Abende gibt wie diese, die uns von den grässlichen Geschehenissen auf dem Feld ablenken. Dankbar, dass es der Krieg des reichen Mannes, aber der Kampf des armen Mannes ist, wie es so schön heisst. Noch etwas Champagner?“