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Im Irgendwo
»Machs gut, Liebes!«
Mutter umarmte mich und roch nach Roma von Laura Biagiotti. Das hatte sie aus Italien mitgebracht, gemeinsam mit Silvio.
»Wenn etwas ist, rufst du an, okay?«
Ich nickte. Klar, Mama. Hab dich auch lieb.
Silvio reichte mir die Hand, ganz förmlich, und ich fragte mich, ob alle Italiener auch an trüben Tagen Sonnenbrillen trugen.
»Und du willst das wirklich machen, Janine?«
Ich mochte nicht, wie Silvio meinen Namen betonte. Seine Art, das letzte, leise »E« wie ein lautes »Ä« zu sprechen. Vielleicht mussten Italiener hinter jedes Wort einen kleinen Tusch kleben.
»Nein, ich geh nur rein und renne dann gleich wieder raus und heule«, sagte ich und es sollte wohl spöttisch klingen. Silvio lachte sogar, nur Mama nicht.
Sie wollte auch unbedingt noch mit rein, ins Krankenhaus, und meine Tasche tragen. Dabei war es gar kein richtiges Krankenhaus. »Psychosomatische Klinik« stand über der Tür. Das ist das, was Leute in Anzügen zur Klapse sagen. Leute wie Silvio. Mama sagte nur Krankenhaus und das erinnerte mich immer an das, was ich war: Krank. War ich krank? Ich weiß es nicht. Aber meine Mutter wusste es. Dachte sie. Und es sei an der Zeit, mich um die Sache zu kümmern, so nannte sie es. Die Sache war, wenn ich wieder irgendwo war.
Sie vermied es, die Dinge beim Namen zu nennen. Und über Vater redete sie nicht. Glaube, sie war nie ehrlich zu mir. Darum erzählte ich auch nie etwas von mir und wie es mir ging. Früher war ich deswegen wütend auf sie. Vielleicht bin ich jetzt auch noch wütend.
Vielleicht hatte ich auch nur Angst, dass meine Probleme etwas mit meinem Vater zu tun hatten.
Irgendwo, das war, wenn alles sich wie Watte anfühlte. Wenn mein Körper aufstand, zum Kühlschrank ging und sich was zu essen holte, es aß und dann auf der Toilette verschwand, ohne dass ich dabei war. Bestenfalls sah ich zu. Als wäre ich im Kino und mein Leben die Vorstellung. Ja, das nannte ich das Irgendwo.
Natürlich trug ich meine Sachen selber die Stufen hinauf in die Klinik.
Am Empfang mussten wir warten. Mit der Tasche in der Hand fühlte ich mich wie im Schullandheim. Ich sah mich um und überlegte, wie es wohl sein mochte, hier sechs Wochen zu verbringen. Die ganzen Sommerferien. Es sei eh Zufall, sagte Mama, dass sie diesen Platz freigehabt hatten für mich.
Zufall? Ich wusste, dass der Zufall Silvio hieß, und dass er eine große Brieftasche hatte. Außerdem wollten die zwei Segeln gehen, drei Wochen, auf seiner Yacht.
Wer braucht da eine Tochter.
Irgendwann kam eine Schwester und sah mich an als wäre ich ein Insekt. Ich mochte sie nicht, das wusste ich gleich. Die Zähne erinnerten mich an einen Drachen. Einen Drachen mit Goldkronen.
»Hallo Frau Mertens. Ich bin Schwester Annegret und zeige Ihnen Ihr Zimmer. Die Formalitäten erledigen wir später. Bitte folgen Sie mir.«
Ja, ich freute mich auch, hier sein zu können. Aber immerhin bekam ich ein Lächeln hin, dann umarmte mich Mama und wünschte mir alles Gute, sie langte sich sogar theaterreif in den Augenwinkel.
Die Gänge waren lang, kahl und es roch nach Gummi und Desinfektionsmitteln. An manche Stellen hatten sie Pflanzen gestellt, aber die wirkten vertrocknet, das grün künstlich. Wie aufgemalt.
Nach Mama drehte ich mich nicht um.
Vor einer Tür, die genauso aussah wie die anderen tausend Türen, blieben wir stehen.
»Da wären wir.«
Ich seufzte und sammelte mich. Ich wusste, wenn ich dort hinein ginge, dann würde sie sich hinter mir schließen und ich wäre gefangen. Das war, glaube ich, der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich wirklich dabei war, es zu tun. Mich darum zu kümmern. Um die Sache. Ums Irgendwo.
Offensichtlich zögerte ich der Schwester zu lange und sie trat an mir vorbei, klopfte an und öffnete ohne auf eine Antwort zu warten.
Ich war nicht alleine im Zimmer.
Aber was hatte ich auch erwartet.
Auf dem Fensterbrett saß ein Mädchen, etwa in meinem Alter und vom Typ es-reicht-wenn-ich-mich-morgen-wasche, und musterte mich alarmiert. Ganz offensichtlich hatte man ihr nicht gesagt, dass sie Gesellschaft bekommen würde.
»Ich bin sicher, ihr werdet euch verstehen«, sagte Annegret. »Frau Mertens, um elf haben Sie einen Termin. Sie wissen, wohin Sie müssen?«
Ich nickte. Natürlich wusste ich es nicht. Ich wollte nur, dass sie ging.
»Dann einen angenehmen Vormittag. Frau Gorgova wird ihnen alles erklären.«
Die Türe schloss sich hinter mir. Es wurde still. Ich war gefangen, wusste nicht, was ich tun sollte. Trotzdem legte ich all mein Selbstbewusstsein in meinen Blick und sah zu meiner Zimmergenossin rüber. Sie war achtzehn, vielleicht, eher jünger, und sie hatte schöne Augen. Große, dunkle Augen, wie Slawinnen sie haben.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Janine.«
»Neu hier?«
»Klar.«
»Sag Marza zu mir, machen alle so.«
»Okay.«
Marza hatte das Bett am Fenster. An ihrer Wand hingen Poster irgendwelcher Britpop-Stars. Zumindest sahen sie so aus: Krause, ungekämmte Haare und schreiende Münder.
Ich stand nicht auf Britpop.
Auf dem Nachttisch lagen Stofftiere, auch im Bett lag ein rosa Hase und ein kleiner Igel. Das passte so überhaupt nicht zu den abgewetzten, schwarzen Lederstiefeln vor dem Bett.
Meine Zimmerhälfte war kahl, das Bett frisch bezogen und weiß.
Ich setzte mich auf die Bettkante und sank tief ein.
»Warum bist'n hier?«, fragte Marza.
»Verschiedenes.«
Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
»Hör mal zu, Kleine. Wir haben hier keine Geheimnisse. Geht nicht anders. Die Wände haben Ohren. Jede weiß alles über jede. Und auch wenn Du es mir nicht sagst, spätestens morgen weiß ich es doch. Aber natürlich ist es besser, man sagt es selbst. Das steigert das Ansehen und so.«
»Ach«, sagte ich.
»Ach«, wiederholte sie und sah aus dem Fenster.
»Und wenn ich auf das Ansehen pfeife?«
So kühn war ich eigentlich nicht. Aber ich wollte mich auch nicht gleich unterordnen.
»Das kannst Du Dir hier nicht leisten. Süße, Du bist zwar in der Klapse, aber auch hier gibt's Regeln, an die man sich halten muss.«
Ja, und du bist genau diejenige, die sie mir beibringen möchte, genau.
Trotzdem wusste ich, dass sie wahrscheinlich Recht hatte.
Irgendwann würde sie es ohnehin erfahren.
Nur konnte ich ihr nicht vom Irgendwo erzählen. Glaubte, sie hätte es nicht verstanden.
»Hab Ängste, manchmal.« Das musste reichen.
Marza musterte mich einen Augenblick, dann sprang sie elegant vom Fensterbrett und schlenderte zu mir rüber. Ich war überrascht, als sie mir ihre Hand anbot. Verwundert ergriff ich sie.
»Verstehe, Janine. Alles klar. So eine bist du, weiß schon Bescheid.« Sie lächelte und wusste offenbar mehr als ich. »Auf dieser Station haben wir nur solche wie uns. Hätte schon gedacht, die schicken mir so ne Schizo von drüben, wäre ja nicht auszuhalten. Rauchst du?«
Ich war vollkommen perplex.
»Klar«, log ich.
Marza kletterte zurück auf die Fensterbank. Ich setzte mich zu ihr, dabei bemerkte die Narben an den Unterarmen und sah schnell weg.
»Es stört niemanden, wenn wir rauchen. Das heißt, wenn sie's nicht merken.«
Sie grinste mich verschwörerisch an und gab mir eine Zigarette und Feuer.
»Ängste«, begann sie, »damit darfst Du sicher zum Panther. Der große Graue mit der Brille. Du hast ihn schon gesehen, denk ich. Er macht auch die Aufnahme, also die Beurteilung von Neuen.«
»Dr. Parlozki meinst Du? Der mit dem Trenchcoat?«
»Ja.«
»Wie ist der so?«
»Der ist okay, ja. Wirklich okay. Hat mir mal das Leben gerettet. Wenn ich gut drauf bin, erzähl ich's dir. Macht aber fertig, glaub ich. Musst sagen, wenn du so was nicht verträgst.«
»Du bist schon lang hier, oder?«
»Ne. Eher immer mal wieder. Manchmal komm ich freiwillig, manchmal überreden sie mich. Wenn du drüber reden willst, also über dich und so – ich hab immer'n offenes Ohr. Falls nicht grade diese Dinger drinstecken.« Sie wedelte mit ihren Kopfhörern. »Dann brauch ich meine Ruhe, echt, da kann mich die ganze Welt mal. Denk dir nichts. Aber wenn ich sie runter hab, dann red mit mir.«
Ich nickte erneut und kam mir klein vor, fehl am Platz. Alles war fremd. Die dicken Mauern machten mir Angst. Ich fühlte mich eingesperrt, bewacht von einem Drachen in Schwesterngestalt. Überhaupt war das Zimmer zu eng, zu überladen, die Schränke zu massiv, und die Luft zu stickig. Vor mir sah ich Marza und mein Herz schlug schneller. Seelenruhig drehte sie sich die nächste Zigarette. Ganz langsam. Sah sie mich an? Hatte sie was gesagt?
»Ich ... muss kurz«, brachte ich hervor. Marza sah mich an und nickte.
»Klo is' vor dem Zimmer, auf 'm Gang rechts, sind nur 'n paar Meter. Brauchst du Hilfe?«
Ich schüttelte den Kopf und rannte.
Auf dem Weg fummelte ich ein Döschen aus der Jacke, mit zitternden Fingern öffnete ich es, schloss die Toilettentür hinter mir. Ich nahm eine kleine, weiße Tablette in den Mund, die sich sofort auflöste. Einige Minuten wartete ich, dann schluckte ich gleich noch eine.
Allmählich ging's mir besser, die Enge in der Brust verschwand. Alles fühlte sich wärmer an.
Ich ging nicht gleich zurück ins Zimmer, wollte Marza jetzt nicht sehen. Also schlenderte ich eine Weile umher, bog ab, fand einen Innenhof, der nach Müll stank, setzte mich für ein paar Minuten und ging zurück zum Zimmer. Ich klopfte.
Stille.
Als ich eintrat, war Marza nicht da. Seufzend setzte ich mich aufs Bett und schloss die Augen. Im Stillen beneidete ich meine Mitbewohnerin um ihren MP3 Player. Nicht mal einen Fernseher gab es hier.
Es klopfte. Marza kam herein. Sie sah aus, als hätte sie geweint.
»Alles in Ordnung?«
»Klar, passt schon. Alles in Ordnung. Wird schon wieder.«
Sie drückte sich in ihr Kissen und ich hörte leises Schluchzen. Eine ganze Weile lang war das das einzige Geräusch im Raum.
»Draußen war mein Erzeuger. Scheiße. Eigentlich wollte meine Mutter mich besuchen. Wegen ihm bin ich hier. Wegen dem, was er getan hat. Und jetzt tut er, als wäre nichts. Ich hasse ihn.«
Ich blickte sie verwirrt an, unschlüssig, ob ich zu ihr gehen sollte, oder lieber nicht.
»Entschuldige«, sagte Marza und wischte sich die Tränen weg, das Make-Up hinterließ einen dunklen Schatten auf ihren Wangen.
»Ist schon okay.«
Ich lächelte, und sie lächelte zurück. Mein Herz schlug schneller. Sie musterte mich von oben bis unten, legte den Kopf schräg.
»Sag mal – magst du drüber reden, wie es bei dir war?«
»Bei mir?«
»Ja, ja – bei dir. Aber, du musst nicht. Lass dir Zeit. Zeit haben wir hier genug.«
»Also nicht, dass du denkst, ich wäre ...«
Meine Stimme klang fremd in meinen Ohren.
»So ein Quatsch, Janine«, unterbrach sie mich, »du bist hier, das sagt alles. Und dann auch noch Panther. Janine, du hast noch was vor dir. Hey ...«
Mit einem Mal wurde ihr Ausdruck sanfter, sie kam zu mir und umarmte mich. Sie roch süß und warm, aber ich konnte das nicht ertragen. Ich drückte sie weg, wollte nichts hören und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand.
»Tut mir leid, Janine«, sagte Marza wieder traurig. »Es tut mir leid. Ich hätte nichts sagen sollen.«
»Aber das kann nicht sein, Marza. Hörst du? Es kann nicht sein!«
Sie blickte mich einige Momente traurig an, dann atmete sie tief durch.
»Erinnerst du dich an deinen ersten Schultag? An deine Geburtstage? Wie hast du gefeiert, als Kind? Erstkommunion, Familienfeiern? Deine Schultüte? Hattest du eine? Freunde – warst du mal eingeladen? Wo haben sie gewohnt?«
Ich wurde bleich, suchte krampfhaft nach Erinnerungen, nach Hinweisen, nach Halt. Meine Schultüte, sie war sicher weiß ... oder rot?
»Es ist ein Schutz, weißt du? Man will eben nicht mehr daran denken. An die Zeit und an die Sachen, die passiert sind.«
Nicht mehr daran denken. Wenn man im Irgendwo ist, muss man nicht mehr daran denken.
Ich merkte, wie ich zu Boden sank, fühlte nur das Loch immer größer werden, in das ich zu fallen drohte.
»Janine. Da gibt's etwas, was du über Panther wissen solltest. Er nimmt nur solche auf, bei denen … etwas passiert ist. Solche wie mich.«
Ihre Augen wirkten hart wie Glasmurmeln und ich fühlte, wie ich bei den folgenden Worten ins Irgendwo flüchtete: »Und wie dich.«
Als ich wieder zu mir kam, ein paar Stunden später, als also die Zeit weiterging, an die ich mich erinnern kann, da lag ich in einem anderen Zimmer.
Marza habe ich nie wieder gesehen.
Es hieß nur, sie wurde verlegt.