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Im Netz der Killer
Nicholas zitterte. Dieses Mal suchten sie tatsächlich nach ihm. Er saß zusammengekauert im Kleiderschrank seiner Eltern, halb vergraben in alten Jacken und Pullovern. Irgendwo im Haus splitterte Glas und er hörte Schritte lauter werden. Stimmen.
„und Action!“
Lachen. Zerstörungswut.
„Hast du das?“ „Klar, Mann, das wird ganz großes Kino.“
Eine Tür flog auf und donnerte gegen die Wand. Es war so unmittelbar und laut gewesen, Nicholas wusste, dass es die Schlafzimmertür war. Jetzt trennte ihn und seine potentiellen Killer nur noch eine zwei Zentimeter dicke Schranktür.
Es war dunkel. Nur der PC-Bildschirm warf ein wenig elektrisch blaues Licht in den Raum. Neben der Tastatur lag der Zettel, den Nicholas aus der Schule mitgebracht hatte.
Seit Wochen gingen Gerüchte über eine neue Website um, über die krasseste, derbste und härteste Page, glaubte man den Geschichten, die sich seine Kollegen erzählten.
Er, Nicholas, hatte das bisher für Blödsinn gehalten, für völlig unrealistisch, da so eine Sache, existierte sie wirklich, schon längst von der Polizei oder den zuständigen Behörden beendet worden wäre.
Bisher hatte er all die abenteuerlichen Schauermärchen mit einem Lächeln abgetan und Desinteresse geheuchelt, obwohl er zugeben musste, dass er von der Hartnäckigkeit dieser Geschichte überrascht war. Sogar sein bester Freund, den er im Grunde zu kennen glaubte, verfiel zusehends diesem kranken Hype.
„Denk doch mal nach, Tom. Wie realistisch ist das? Glaubst du wirklich, dass die halbe Stufe über diese Seite Bescheid weiß, aber bisher kein Polizist, keine Behörde, niemand, der was dagegen unternehmen könnte, davon Wind gekriegt hat?! Komm schon ...“
Thomas ignorierte sein Argument, als hätte er es gar nicht gehört; er beugte sich stattdessen vor und sah ihn mit den glänzenden Augen eines Besessenen an.
„Das ist der Wahnsinn, Nick. Diese Jungs ziehen das wirklich durch. Fünf Typen, unser Alter, die vor laufender Kamera irgendwelche Leute abschlachten. Zieh dir das rein, Mann.“
Mit einem Seufzer rutschte Nicholas etwas tiefer in seinem Stuhl. Das Schülerzentrum leerte sich langsam, die Pause war vorbei und Nicholas war froh darüber.
„Tom, wenn diese Seite wirklich existiert, ich meine außerhalb eurer kranken Phantasie, dann müsste doch irgendjemand auch mal so ein Video gesehen haben, aber ich habe bisher noch niemanden ...“
„Ich hab’s gesehen“, sagte Thomas plötzlich und durchbohrte Nicholas mit seinem besessenen Blick.
„Du hast was?“ Er hätte sich fast an seiner eigenen Spucke verschluckt.
„Ich erzähl’ dir später mehr, ich muss jetzt zu Mathe.“ Er stand auf und griff nach seinem Rucksack.
„Tom, warte. Willst du mir wirklich erzählen, dass ...“
„Kann ich dir vertrauen?“, fragte er mit geheimnisvollem Halbton in der Stimme.
„Ich ... na klar kannst du, weißt du doch, aber ...“ Nicholas fühlte sich plötzlich wie an seinen Stuhl gefesselt.
„Hier“, sagte Thomas und kramte etwas aus seinem Rucksack hervor. „Das wird so ziemlich all deine Zweifel vernichten. Aber lass’ das niemanden sehen, hörst du? Niemanden, sonst bin ich geliefert.“ Er schob den kleinen, gelben Post-it-Zettel über den Tisch und sah sich dabei so übertrieben auffällig um, dass Nicholas für einen Moment amüsiert war. Als er auf dem Zettel eine Internetadresse erkannte, erstarb das Lächeln auf seinen Lippen sofort. „Sind das die ... ich meine, ist das die Seite?“, fragte er und sah zu Thomas auf, aber der ging schon eilig auf die Tür des Schülerzentrums zu. „Später!“, rief er und war verschwunden.
Nicholas starrte auf die schwarzen Buchstaben und Zahlen auf dem Zettel, dann wieder auf den Bildschirm vor ihm. Er gab die letzten beiden Ziffern ein und ließ seinen Zeigefinger über der ENTER-Taste kreisen. Das ist Schwachsinn, das ist so blöd, warum mache ich das überhaupt? Sein Herz klopfte heftig, er schwitze, sein Finger drückte ENTER.
Als Nächstes klickte er sich minutenlang durch wissenschaftliche Texte, durchforstete halbherzig Artikel über Hüftknochennerven und Saccharinrosen und überlegte währenddessen, wie er Thomas heimzahlen konnte, dass er ihn verarscht hatte.
An einem Artikel blieb er jedoch hängen; er handelte von Halluzinationen und Sinnestäuschungen. So etwas hatte ihn schon immer fasziniert und nachdem er ihn ganz gelesen hatte, fand er am unteren Ende der Seite eine Art Testbild. Er kannte diese Art von „Sehen Sie 30 Sekunden auf dieses Bild und dann auf eine weiße Fläche“-Bildern und wusste, dass wahrscheinlich nur eine Art Jesus- oder Mariengesicht auftauchte, aber er gönnte sich den Spaß.
Er folgte den Anweisungen und starrte das Negativ auf dem Bildschirm an, sah dann auf den weißen Kasten unter dem Bild und wartete. Was dann vor seinen Augen erschien, war weder Jesus noch Maria Magdalena, es war ein gewundener Pfeil. Er zeigte ganz deutlich auf einen Punkt, der ebenfalls Ergebnis der Sinnestäuschung war. Als Nicholas mit der Maus darüber fuhr, wurde der Zeiger zur Hand.
„Ein Link“, flüsterte er und klickte.
Nach kurzer Wartezeit landete er auf einer düsteren Seite. Zuckende Blitze, kurz auftauchende Figuren aus Horrorfilmen, Blutstropfen, das komplette Klischeeprogramm des Genres rauschte an ihm vorbei. Dann Schwärze, Stille. In der Mitte tauchte ein weißer Schriftzug auf, der gleich darauf wieder verschwand:
Nach einer Sekunde Schwarzbild folgte der nächste:
In weiteren, blendend weißen Nachrichten teilte man ihm mit, dass er das reine Böse, die ur-menschliche Lust am Grausamen erleben würde. Er wurde gewarnt, dass diese Seite nichts für Spanner und Schaulustige sei: hier herrsche eine ausgleichende Gerechtigkeit und schließlich solle er sich nun für den ultimativen Kick bereit machen, sofern er über 18 sei.
Er bekam am Ende einen Link an seine E-Mail-Adresse geschickt, die er zuvor in das sargdeckelförmige Eingabefeld tippen musste.
Nicholas war niemals wohl bei dem Gedanken, persönliche Informationen über sich preiszugeben. Vor kurzem erst hatte er einen Artikel mit der Überschrift „Der gläserne Mensch“ gelesen und wusste, was mittlerweile möglich war. Andererseits war er nun bis hierher gekommen und wollte endlich die lächerliche Magie dieser Seite entzaubern.
Er klickte den Link an, wurde zurück auf die Seite geleitet und hatte nun unter- und nebeneinander einige Videofenster vor sich, die wie Grabsteine aufgemacht waren.
Okay, dachte Nicholas, während er den Mauszeiger in Richtung Play bewegte, dann zeigt mir mal die ur-menschliche Lust am Grausamen.
INN. WOHNZIMMER – DÄMMERUNG
Man sieht eine mit Hufeisen und glücklichen Familienfotos zu gepflasterte Wand. Ein über und über mit Brei bekleckertes Kindergesicht, ein Vater, der am Strand seinen lachenden Jungen in die Luft wirft, ein Mädchen mit Schultüte in der Hand, etc.
JASON kommt ins Bild. Er ist ebenso wie alle anderen Killer seinem Filmcharakter entsprechend maskiert.
Die Kamera schwenkt um 180°, man sieht MICHAEL W., an den ledernen Wohnzimmersessel gefesselt, den Mund zugeklebt und die Augen weit aufgerissen. Seine beinahe stummen Schreie, die panisch zuckenden Bewegungen und der Schweiß auf seinem Körper lassen seine Todesangst erkennen. Hintergrund ist eine Glasfront, wohinter sich der Garten mit vielen blühenden Rosen und Stiefmütterchen erstreckt.
MICHAEL M. kommt von links ins Bild und setzt sich rückwärts auf MICHAEL Ws Schoß. Man erkennt, dass er unter seiner Maske grinst.
Er dreht seinen Kopf zu W. um.
Er steht auf und geht ins Off, während von der anderen Seite JASON wieder ins Bild läuft und sich neben Ws gefesselte Beine hockt.
Das wird er nicht tun. Ganz sicher, das kann er nicht tun. Nicholas rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her, er wollte abschalten, aber das war wiederum etwas, das er im Moment nicht tun konnte. Er war bereits irgendwie in den Bann dieses Videos gezogen worden und nicht mehr in der Lage, sich loszureißen.
Er redete sich ein, dass er nur weiter sah, um den Trick zu entdecken, um Mr. Weldorn als eingeweihten Schauspieler zu entlarven, ja, um Thomas seine Leichtgläubigkeit vorwerfen zu können. Nur deshalb ...
FREDDY kniet irre grinsend rechts neben Mr. Weldorn und streicht mit der flachen Seite eines chinesischen Hackmessers daran entlang.
Sein Grinsen wird breiter, als er Weldorns Hand auf das Sushibrett legt, das er zuvor zusammen mit dem Messer aus der Küche geholt hat.
Er zieht die Fessel um das Handgelenk nach, sodass die Hand nicht wegrutschen kann und beugt sich über die zitternden Finger von W.
Blut, wildes Zucken im Sessel, wieder stumme Schreie.
FREDDY nimmt das Sushibrett und springt auf.
Mittlerweile ist er im Bild. Er geht links neben dem Sessel in die Knie und man erkennt, dass er eines der Hufeisen von der Fotowand in der rechten Hand hält.
Er setzt das Hufeisen an Ws Augen an.
Nicholas sah nicht, er hörte nur, dass auch dieser Typ Ernst gemacht hatte. Sein Magen drehte sich, rebellierte gegen die Bilder, die sein Gehirn nicht verarbeiten konnte. Er sprang auf, taumelte ein paar Schritte seitlich und nahm sein Zimmer nur noch wie in Nebel gehüllt wahr. Mit weichen Knien schaffte er es im letzten Moment ins Badezimmer und erbrach sich in die Toilettenschüssel.
Aus seinem Zimmer drangen noch immer Fetzen der zynischen Dialoge an seine Ohren,
„Wenn du ihn ausweidest, stirbt er. Dann hast du verloren.“
„Ist mir doch egal.“
gefolgt von dem Geräusch brechender Knochen und hämischem, wahnsinnigem Gelächter.
Nicholas musste sich noch zwei weitere Male übergeben, bevor er sich mit dem Rücken auf die kalten Fliesen legte, die Augen schloss und sich die Ohren zuhielt.
Er konnte nicht zurück in sein Zimmer gehen, solange dieses Video noch lief, also beschloss er zu warten, bis nichts mehr zu hören war.
Gedanken prasselten auf ihn ein wie eine unerwartete Sturmflut.
Das ist ein Trick warum tun Menschen so etwas Grausames muss doch der Polizei Bescheid gesagt haben kein Trick sein zu echt ich habe diese Finger zu Boden fallen sehen nenn mich nicht Mike Michael Myers ist das der Horror unserer Generation nichts für Spanner herrscht ausgleichende Gerechtigkeit Augen müssen in seinem Schädel geplatzt sein ausgleichende Gerechtigkeit warum tun Menausgleichende Gerechtigkeit warum tunausgleichendeGerechtigkeit nichts für Spanner was soll das überhaupt heißen? Ausgleichend? Ausgleichend heißt doch, dass die Leute, die sich die Videos ansehen, auch selbst angesehen...
Nicholas riss die Augen auf, saß mit einem Mal kerzengrade auf dem Badezimmerboden. Was wussten diese Killer über ihn? Er hatte gelesen, dass sich über E-Mail-Adressen so ziemlich alles herausfinden ließ. Ausgleichende Gerechtigkeit, das hieß, dass auch er an der Reihe war. Sein Atem ging schneller, sein Herz klopfte heftig und vorwurfsvoll gegen seine Rippen und er hatte Mühe, die aufkochende Panik zu unterdrücken. Ein beißender Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. Er ging in den Flur, nahm das Telefon und wählte.
„Hier ist Nick. Ist Thomas zu Hause?“
Die Frau am anderen Ende der Leitung brach in Tränen aus. Das reichte ihm, er wusste Bescheid. Den Hörer noch in der Hand rutschte er mit dem Rücken an der Wand hinunter, starrte auf seine Knie und hörte das hilflose Schluchzen von Toms Mutter.
Eine Tür flog auf und donnerte an die Wand. Es war so unmittelbar und laut gewesen, Nicholas wusste, dass es die Schlafzimmertür war. Jetzt trennte ihn und seine potentiellen Killer nur noch eine zwei Zentimeter dicke Schranktür.
Die Hand, die den Messergriff krampfhaft hielt, war schwitzig und zitterte.
Jeden zweiten Samstag ging sein Vater zum Fischen an den Fluss hinunter und Nicholas dankte ihm innerlich dafür, dass er das Taschenmesser zum Ausnehmen des Fangs in der Anglerhose gelassen hatte, die jetzt über ihm hing.
Aber dennoch: er sah das Kaninchen, das ängstlich in der Ecke seines Stalls hockte, er sah den Westernhelden mit dem Kopf in der Schlinge, er sah die schreiende Frau geradewegs in die Sackgasse rennen. All diese Szenen zogen in Sekundenbruchteilen an ihm vorbei, sein Gehirn schien den Suchbegriff „ausweglose Situation“ abzuklappern, nach Lösungen für das Unlösbare zu suchen.
Fünf Typen, unser Alter, die vor laufender Kamera irgendwelche Leute abschlachten. Zieh dir das rein, Mann.
„Wo ist der Scheißkerl?“ „Er muss hier irgendwo sein, schau ma’ unterm Bett nach.“
Warum hatte er sich das reingezogen? Warum hatte er diese Warnung nicht gleich kapiert? Welche scheiß-ur-menschliche Lust am Grausamen hatte ihn ENTER drücken lassen?
Er merkte kaum, dass er weinte. Völlig bewegungslos hockte er unter dem Kleiderhaufen im Schrank seiner Eltern und hörte, wie sie das Schlafzimmer auseinander nahmen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn hier entdeckten.
Wenn du ihn ausweidest, stirbt er. Dann hast du verloren. Ist mir doch egal.
Er hatte keine Chance gegen fünf. Vielleicht konnte er einen oder zwei erwischen, aber spätestens dann hatten sie ihn. Sie würden ihn fesseln und quälen und am schlimmsten: sie würden dabei lachen. Es war ausweglos, jeder Hoffnungsfunke in ihm starb in diesem Moment.
Suche beendet. Es liegen keine Ergebnisse vor.
Nicholas wollte schreien, er wollte aufstehen, die Tür aufreißen und losrennen; aus dem Schlafzimmer raus, die Treppe runter, aus dem Haus an die klare, frische Luft, die Straße runter, den Rucksack auf dem Rücken spüren, bei Tom klingeln, ihn zur Schule abholen, später mit ihm und den anderen zum See runter fahren, die Sonne genießen, baden, ein Lagerfeuer machen und bis tief in die Nacht einfach nur sitzen und quatschen, er wollte Eis essen und ins Kino gehen, für gute Noten von seinen Eltern gelobt werden, mit den Jungs Sport gucken, Partys feiern und endlich zum ersten Mal Sex haben, er wollte realisieren, dass Tina im Begriff war, sich auch in ihn zu verlieben, er wollte sich von Tom den schlechtesten Witz der Welt erzählen lassen, immer wieder, er wollte seinen Abschluss machen, einen Job finden und heiraten, er wollte mit seinen Kindern ans Meer fahren und endlich vergessen, wo er war.
Aber es kam zurück, alles drang mit unbändiger Gewalt wieder zu ihm vor.
„Bist du sicher, dass er da ist, Jack?“
„Natürlich bin ich sicher. Chucky, sieh mal im Schrank nach, vielleicht hat sich der Hosenscheißer da verkrochen ...“
Der Griff um das Messer wurde noch fester, Nicholas atmete tief ein.
INN. SCHLAFZIMMER – SPÄTER NACHMITTAG
Schwenk auf den Kleiderschrank. JASON spricht in die Kamera.
CHUCKY geht auf die Schranktür zu und sieht zu JASON hinüber.
JASON sieht zu JACK TORRANCE hinüber.
Die Kamera zoomt auf die Schranktür. CHUCKY gibt ihr einen Ruck und sie gleitet zur Seite.
Er verstummt, die Kamera zoomt noch näher, auf die hintere Ecke des Schrankes, man sieht Nicholas bis zum Oberkörper in Kleidern vergraben am Boden hocken.
JACK (aus dem Off)
Silvia klickte auf das Quadrat in der Stopptaste und dann auf das X rechts oben auf ihrem Bildschirm. Sie hatte in ihrer Jugend fast alle Horrorfilme gesehen und war der Meinung, dass das Blut am Hals dieses Typen ziemlich mies gemacht war. Die Killer waren billig maskiert gewesen und die ganze Handlung war im Halbdunklen geschehen, natürlich nur, damit der Zuschauer die Tricks nicht so schnell durchschaute.
Sie fühlte sich in ihrer Erwartung bestätigt und schaltete lächelnd und kopfschüttelnd den Computer aus.
Die letzten drei Tage ihres Lebens verbrachte sie voller Vorfreude über Namensbüchern und im Geburtsvorbereitungskurs.